10.5.2017, 13 Uhr

Erzählpartnerschaft „Our Stories – Rewrite the Future” #5: Senthuran Varatharajah

Bei dem Akademie-Projekt „Our Stories – Rewrite the Future“ finden sich junge Geflüchtete mit deutschsprachigen Autorinnen und Autoren zusammen, um gemeinsam literarische Geschichten, die auf den Berichten der Geflüchteten basieren, zu entwickeln. Die Workshops finden in deutscher Sprache statt und auch die aus dem Partnerschaftsprojekt entstehenden Texte werden auf Deutsch verfasst. Der Autor Senthuran Varatharajah beschreibt, was die Erzählpartnerschaft für ihn bedeutet:

1984 floh meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Ich war vier Monate alt. Mein Vater musste vor uns das Land verlassen; die singhalesische Armee hatte begonnen, junge tamilische Männer systematisch festzunehmen und verschwinden zu lassen. Die ersten sieben Jahre wohnten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen, in Berlin, Frankfurt am Main, Nürnberg, Coburg und einer bayerischen Kleinstadt, in der ich bis zum Abitur lebte. Mein jüngerer Bruder wurde 1985 geboren. Neun Jahre später erhielten wir die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich war in der vierten Klasse. Seit fast 33 Jahren lebe ich in Deutschland.

Ich dachte nicht an diese Geschichte, als ich gefragte wurde, ob ich an „Rewrite the Future“ teilnehmen will. Diese Geschichte ist nicht identisch mit den Geschichten von Flucht, die meine Erzählpartner erzählen. Es liegt in der Natur der Sache: Jede Flucht ist – und daran muss erinnert werden in einer Zeit, in der dieser Begriff so präsent ist, dass er die Ereignisse, auf die er sich bezieht, nivelliert; von Flucht wird nur im Singular gesprochen, als Bewegung einer undifferenzierten Masse im Raum, ohne ein einzelnes Gesicht, ohne Namen – individuell. Jede Flucht ist individuell, und obwohl sich die Einsamkeit dieser Erfahrung, einer Erfahrung, die alles ordnet und alles ordnen wird, auch das, was ihr vorausgegangen ist, der Mitteilung entzieht, versucht „Rewrite the Future“ – und dies mag paradox erscheinen; ist es auch – einen Raum zu bieten, indem es möglich sein könnte, über diese Individualität – der Geschichte –, also: über diese Einsamkeit zu sprechen.

In jedem Bild, das eine Gruppe von Menschen zeigt, die ein Land verlassen mussten, auf der sogenannten Balkanroute, in einem Boot im Mittelmeer, in einer provisorisch umfunktionierten Turnhalle, in jedem Bild, das eine undifferenzierte Masse ohne Gesichter und Namen zeigt, wird sie vergessen. Von Flucht wird nur im Singular gesprochen, als gäbe es nur ein Fliehen, als sei jede Flucht identisch und jeder Flüchtling auch. „Rewrite the Future“ könnte es erlauben, im Gespräch mit jungen Erwachsenen, die auf ihrer Flucht nach Deutschland gekommen sind – und Gespräch heißt hier vor allem: in der Geduld und Aufmerksamkeit des Zuhörens –, die Pluralität dieses Begriffs zur Sprache zu bringen: durch die Singularität der Geschichte. […] Senthuran Varatharajah

Das vollständige Statement von Senthuran Varatharajah können Sie in der zweiten Ausgabe des Journals der Künste nachlesen.

 

Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, studierte Philosophie, evangelische Theologie und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2016 veröffentlichte Varatharajah im Fischer Verlag den Roman Vor der Zunahme der Zeichen, für den er den Kranichsteiner Literaturförderpreis, den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis, den Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis sowie den Rauriser Literaturpreis erhielt. Er lebt in Berlin.

Veröffentlichungen:
im abfall einer stimme (was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben). In: Sprache im technischen Zeitalter, März 2015.
spiegelverkehrt, auf der rückseite des papiers (dieses blau und das rot). In: Allmende – Zeitschrift für Literatur, Juni 2015.
und wir werden uns das halbierte auge zerstören am geduldigen grund der bilder. In: Neue Rundschau, März 2016.
k (wir gehen von bildern aus). In: „Wie wir leben wollen – Texte für Solidarität und Freiheit“, hrsg. von: Matthias Jügler. Suhrkamp, Frankfurt am Main, März 2016.
Vor der Zunahme der Zeichen, Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016.

 

Das Projekt „Our Stories – Rewrite the Future“ wurde initiiert von Larissa Boehning. Es wird gefördert vom Deutschen Literaturfonds.

 

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