Darstellende Kunst – Mitglieder

Giorgio Strehler

Schauspieler, Regisseur, Intendant

Am 14. August 1921 in Barcola bei Triest geboren,
gestorben am 25. Dezember 1997.
Von 1956 bis 1993 Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (Ost), Sektion Darstellende Kunst.
Von 1976 bis 1979 Außerordentliches Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (West), Sektion Darstellende Kunst.
Von 1979 bis 1993 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (West), Sektion Darstellende Kunst.
Von 1993 bis 1997 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Darstellende Kunst.

Nachruf

Der italienische Regisseur Giorgio Strehler starb am 25. Dezember 1997 an Herzversagen, im 77. Lebensjahr. Er hat nicht weniger als 50 Jahre in Mailand vor allem und später überall in Europa gastierend Theater gemacht. Er wurde geboren in Triest, seine Mutter war Pianistin slawischer Herkunft, sein Vater noch Österreicher, seine Großmutter Französin - ein Europäer also.
Erneuert und entscheidend inspiriert aber hat er das italienische Theater. Der 25jährige gründete - nach Resistance-Aktivitäten im Zweiten Weltkrieg - in Mailand mit seinem Freund und Altersgenossen Paolo Grassi das Piccolo Teatro in der Via Rovello, ein Theater im Souterrain, mit nicht mehr als gut vierhundert Plätzen. So klein nach Namen und Umfang, so groß war der Anspruch, mit dem Strehler und Grassi antraten _ und den sie einlösten: ein Theater der Kontinuität, mit weitgefächertem Spielplan und festem Ensemble nach deutschem Kulturtheatermuster begründeten sie erstmals in Italien; ein teatro stabile mit künstlerischem Ethos, mit sozialer Verpflichtung und politischem Bewußtsein. Strehler zeigte (und inszenierte) in den ersten zehn Spielzeiten die ganze Spannweite des abendländischen Repertoires, von den antiken Tragikern über Shakespeare, Molière, deutsche Klassiker, Büchner bis zu Gorki und Wedekind. Von den Italienern (und das bis zuletzt) Goldoni und Pirandello. Zwei Werke, zu denen Strehler immer wieder zurückkehrte: das eine Goldonis Arlecchino, der Diener zweier Herren - die artistisch und ästhetisch erneuerte, zu neuem vitalen Bühnenleben gebrachte Commedia dell'arte (er hat es in ein halbdutzend Versionen inszeniert). Das andere: Pirandellos fragmentarische, nachgelassene Parabel über den tödlichen Widerspruch zwischen Kunst und Realität, Die Riesen vom Berge. Wenn am Ende des Abends die Riesen, die Chiffren der technisch-autokratischen Moderne, drohend heranrückten, senkte sich der Eiserne Vorhang herab und zertrümmerte den Wagen der wandernden Komödianten vorn auf der Spielfläche. Ein starker, symbolischer Warn- und Trauerschluß.
Schon nach wenigen Jahren errangen Strehlers Inszenierungen europäischen Ruhm. 1956 sah der todkranke Bertolt Brecht Strehlers Mailänder Inszenierung der Dreigroschenoper - Strehler hatte das fragwürdige Werk in die Entstehungszeit, die präfaschistischen Zwanziger Jahre versetzt und so virulent gemacht. Brecht sagte: "Sie haben mein Werk neu geschaffen."
1968, in der Zeit der heftigen Politisierung auch des Theaters, trennte sich Strehler von seiner Schöpfung, dem Piccolo Teatro und von Grassi. Er gründete ein Wanderensemble, die Gruppe "Theater und Aktion", inszenierte Peter Weissens antikolonialistisches Agitationsstück Der Lusitanische Popanz und Gorkis Nachtasyl. Doch das blieb ein Zwischenspiel: 1972 kehrte Strehler mit der Inszenierung von Shakespeares Lear ans Piccolo Teatro zurück.
Je länger Strehler Theater machte, um so größer wurden die Pausen zwischen den Premieren, je länger die Probenzeiten, je größer der Anspruch, den Strehler an seine Werke stellte. Und sie wurden je länger je mehr seine Werke: bis in die letzte Bewegung der Finger, die artifizielle Stimmführung, die Drehung und Wendung jeder Figur perfektionierte Strehler jeden einzelnen Schauspieler; sie mußten nachspielen, was er unermüdlich, unnachgiebig und immer wieder vorgespielt hatte.
Strehler hat eine Zeitlang in Paris eine Dependance betrieben, hat am Burgtheater, in Hamburg, in Salzburg teutonischen Mimen seine artifiziellen Produkte abzuringen versucht.
Zwei Jahrzehnte lang zog sich der Neubau eines größeren, für 1400 Zuschauer überdimensionierten Mailänder Piccolo Teatro hin. Es ist bis heute nicht spielfertig.
Strehler wollte einen zwölfstündigen Goetheschen Faust darin inszenieren – eine Kostprobe gab er vor einigen Jahren, im noch unfertigen Haus, indem er mehrere Stunden lang einen Faust-Auszug, selbst alle Rollen sprechend, darbot. Er kehrte damit zu seinen Welttheater-Anfängen zurück.
Strehler, der in Italien die Arbeits- und Kunstform des Regie-Theaters recht eigentlich erst eingeführt und glorios und virtuos repräsentiert hat - er war dann zuletzt und zuinnerst: ein großer Schauspieler, auf der Bühne, im Leben, in der Politik, ein großer Schauspieler voller Leidenschaft, Kunstverstand und Wirkungsbewußtsein.

Henning Rischbieter