Bildende Kunst – Mitglieder

Carlfriedrich Claus

Zeichner, Schriftsteller, Sprachkünstler

Am 4. August 1930 in Annaberg-Buchholz/Sachsen geboren,
gestorben am 22. Mai 1998.
Von 1991 bis 1993 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (West), Sektion Bildende Kunst.
Von 1993 bis 1998 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst.

Nachruf

Am 22. Mai 1998 starb Carlfriedrich Claus in Chemnitz. Wir zögern, ihn schlicht einen Künstler zu nennen. Es sei denn, wir erinnern die alte Bedeutung des Wortes. Denn dieser war in einem heute anachronistischen Sinne Universalist: ein Denker, der sich die Ausdrucksformen wählte und entwickelte, derer er zur Vermittlung seiner hochkomplexen Ideen bedurfte. Als solcher war er Zeichner, Radierer, Lautmaler, Poet, Essayist, Philosoph - und nicht zuletzt ein enger Vertrauter exotischer und historischer Mythen, die er auf die Zukunft hin befragte. Claus' Lebensarbeit galt einem zeitgemäßen, historisch begründeten und künstlerisch-visionär formulierten Entwurf von Humanität, in seinen Worten: Es ging um die "Naturalisierung des Menschen und die Humanisierung der Natur". Claus hat im Schnittbereich von Ästhetik und Ethik operiert, die Kunst war ihm kein selbstreferentielles System, sondern eine eigene, besondere und die ihm einzig mögliche Art der Teilnahme am Leben.
Wer ihn traf, spürte sofort die Ausnahmepersönlichkeit, die sich jeder Vereinnahmung entzog; er sah einen Künstler, der körperliche Aktion ins Werk einbezog und zugleich die Ressourcen des eigenen Körpers ohne Bedenken verschwendete. Claus war in materiellen Dingen ein Asket, der nur ein Interesse hatte: die eigene Vervollkommnung geistiger Existenz. So lebte er - bis 1993 in seinem erzgebirgischen Geburtsort Annaberg, dann im nahegelegenen Chemnitz - eremitenhaft verkapselt, aber keineswegs außerhalb der Zeit und des sozialen Raums. Im Gegenteil, seine Werkstatt über dem Kino von Annaberg war seit den 50er Jahren ein Gravitationszentrum europäischer intellektueller Kräfte. Er war nicht der einzige, der mitten in der DDR, mitten in deren verkrusteten politischen und ästhetischen Riten sozialer Erosion, die Vorstellung einer inneren Freiheit verwirklichte - doch vielleicht war er in seiner Lebensform und Stringenz der konsequenteste unter den widersprechenden bildenden Künstlern des Landes. Die offizielle Kulturpolitik der DDR hat ihn lange totzuschweigen versucht, war vergeblich bemüht, ihn durch Ausreise loszuwerden und hat ihm erst spät - seit Anfang der 80er Jahre - eine beschränkte Öffentlichkeit zugestanden. Der Überwachungsapparat konnte ihn geistig nicht orten; Claus war kein "Oppositioneller" - er war, was schwerer wog, ein Häretiker, der die mißbrauchte und zu vulgärem Machterhalt gedemütigte Idee auf eine eschatologische Allegorie hin sublimierte. Schwärmerei im Unverbindlichen abstrakter Hoffensrhetorik lag ihm dabei fern, quasireligiöse Rollenzuweisungen lehnte er ab. Er verstand sich viel eher als rational und konkret vorgehender Forscher einer nach Gültigkeit strebenden Wissenschaft vom Menschen, die universal kulturelle und geistesgeschichtliche, ökonomische, ökologische, psychologische und semiologische Aspekte zusammensieht. Er war ein Avantgardist, der Mythos und Technik, Natur und Ökonomie unter dem Aspekt sozialer Energien betrachtete. In vielem - auch im kritischen Bezug auf Rudolf Steiner - war Carlfriedrich Claus zu Joseph Beuys der ergänzende Pol in der deutschen Kunst. Nur daß er sein Begriffsinstrumentarium an Karl Marx und Ernst Bloch geschult hatte und des Hasenmannes Materialmystik und Kultursymbolik deren philosophische Denkstrukturen entgegenhielt. Man wird das Verhältnis dieser beiden zentralen Gestalten, die sich persönlich nie begegnet sind, besser erkennen können, wenn endlich eine Kultur- und Kunstgeschichte Nachkriegsdeutschlands geschrieben sein wird, die für die DDR nicht wie bisher vor allem Verlautbarungen und Parteibeschlüsse als ausschlaggebende Wahrheiten zitiert, sondern nach inneren Substanzen fragen wird.
Carlfriedrich Claus wurde 1930 in Annaberg geboren. In einem aufgeschlossenen und kunstsinnigen Elternhaus kam er mit der Moderne - mit Klee, Lissitzky und Kandinsky - in Berührung. Als Kind lernte er Hebräisch und befaßte sich in einem Land, das sich die Vernichtung der Juden zum Ziel setzte, mit kabbalistischer Mystik. Diese frühe Schule intellektueller Kraft des Widerspruchs hat Claus in der DDR ermutigt. Er unterstützte jüngere Künstler, auch wenn diese ganz anders arbeiteten - er aber Authentizität erkannte.
Claus' bildnerische Werke wie seine - oftmals von essayistischer Euphorie diktierten - Schriften sind Zeugnisse einer eminenten Anstrengung des Neuen und eines ruhelosen Fleißes. In all ihrer handwerklichen Präzision und zugleich ihrem bis zur Verinnerlichung bescheidenen Auftreten bedürfen seine skripturalen, aus vielfältigen Quellen der Moderne gespeisten Blätter sowie die späten Klang-Klang-Installationen eines Vorwissens, zumindest einer intellektuellen Teilhabe an dem mikrokosmischen Weltmodell, das sie verkörpern und bezeugen. Vielleicht hat dieser spezialistische Impuls des Antispezialisten - neben seiner notorischen Abwesenheit im Kunstbetrieb - dazu beigetragen, daß Carlfriedrich Claus in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer als "Künstler für Künstler", als Solitär außerhalb von Stil- und Schulzusammenhängen oder gar als Phänomen einer "inneren DDR" gilt. Seine in volkommener materieller Bedürfnislosigkeit gründende Distanz zum Kunstmarkt war ein weiteres Hindernis. Die Geschlossenheit des Werkes war ihm wichtiger als Verkäufe, wenngleich einige zentrale Museen - wie das New Yorker Museum of Modern Art in den 60ern - schon früh Blätter erwarben.
Carlfriedrich Claus wurde 1991 in die damals noch West-Berliner Akademie der Künste gewählt, er wurde nicht dort und nicht in der vereinigten Berlin-Brandenburgischen Akademie gesichtet. Aber sein Werk bleibt unter uns - und gewiß auch die humane Essenz seiner Hoffnung.

Matthias Flügge