28.4.2017, 15 Uhr

Erzählpartnerschaft „Our Stories – Rewrite the Future” #4: Hammoud Hamoud

Hammoud Hamoud ist einer der Erzählpartner im Akademie-Projekt „Our Stories – Rewrite the Future“. Seit Anfang Februar finden sich junge Geflüchtete mit deutschsprachigen Autorinnen und Autoren in Workshops zusammen, um gemeinsam literarische Geschichten zu entwickeln. Die Schriftstellerin Larissa Boehning hat das Projekt initiiert und berichtet hier über ihre Zusammenarbeit mit Hammoud Hamoud, Islamwissenschaftler, Journalist und Autor, der 2015 vor dem Regime in Syrien nach Deutschland geflohen ist. Im Anschluss finden Sie seinen Text über die Suche nach neuen Identitäten und die Attraktivität des Fundamentalismus.

 

Larissa Boehning: Die Literatur sei für ihn Halt, sagte Hammoud in einem unserer ersten Gespräche zu mir. Seine Identität, zu wem er geworden sei, seine Sicht auf die Welt, sein Kontakt zur Welt, seine geistige Entwicklung, alles beruhe auf Literatur.

Objektiv gesehen könnten wir nicht unterschiedlicher sein; wir verstanden uns auf Anhieb. Wir gehören diesem Menschenschlag an, der im Eintauchen in Geschichten, im Lesen (und Schreiben) von Büchern, seine Einsamkeit überwunden findet.

Er erzählte mir, wie er im Integrationskurs saß und sich fragte, was eigentlich mit Integration gemeint sei. Sie lasen das Grundgesetz, er lernte deutsche Grammatik, die Bundesländer und ihre Hauptstädte, aber eine Erklärung, was Integration genau bedeutete, konnte ihm keiner geben. Vielleicht ist sie dazu einfach zu groß. Sie ist im Kern eine Frage, die unser grundlegendes Menschsein, unser aller Identität, berührt. Wir verändern uns alle durch das, was gerade passiert. Die Prozesse zu verstehen, wird einfacher, wenn man miteinander redet, sich von seinen Gefühlen und Ansichten erzählt. So ist das Projekt der Erzählpartnerschaften für mich etwas viel Umfassenderes geworden. Was hat Integration mit uns selbst, mit unserer Identität zu tun?

Hammoud Hamoud hat zu diesen Themen aus seiner Perspektive als Islamwissenschaftler einen Beitrag für das Projekt der Erzählpartnerschaften geschrieben – über die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Identität, über die Gefahren, wenn viele Menschen Halt in haltlosen Zeiten suchen und neu finden müssen, über Integration. Es ist sein erster wissenschaftlicher Text auf Deutsch.

 

Allah ohne Kultur
Über die Suche nach neuen Identitäten und die Attraktivität des Fundamentalismus

Von Hammoud Hamoud 

Dass Muslime, die in den Westen flüchten, säkularer werden und eine neue, moderne Identität anzunehmen bereit sind, halten viele Menschen heute für selbstverständlich. Diese Auffassung berührt sich nahe mit der allgemeinen Erzählung vom Tod der Religion in der Zeit des Modernismus. Blickt man jedoch genauer auf die Situation der muslimischen Migranten heutzutage, so muss man feststellen, dass das Gegenteil der Fall ist. Man kann davon ausgehen, dass viele Migranten, die religiös geprägt sind, durch ihre Flucht eine starke Neureligiosität entwickeln, die auch von der Ablehnung westlicher Werte durchzogen ist. Viele Migranten, zumal die, die vor dem Krieg geflohen sind, befinden sich in einem Zustand erhöhter Sinnsuche, sie dürsten nach Gerechtigkeit, nach Frieden. Zugleich sind sie ihrer Perspektiven beraubt, ohne stabile Identität.

Angesichts der Tatsache, dass die Migranten sehr verschiedene kulturelle Wurzeln mitbringen, streben Islamisten heutzutage nach einem Islam, der nicht eine, spezifische Kultur anerkennt. Dieser Islam ist ein ganz neues Produkt in unserer Welt. Er wird mithilfe einer neuen Generation von entwurzelten Fundamentalisten kulturell produziert. Dafür wird die traditionelle islamische Kultur von ihrer wirklichen Umgebung isoliert. Außerdem wird gegen die Bräuche der Migranten, die als bid'a betrachtet werden (bid'a: Neuerungen, die in die Religion eingebracht werden) vorgegangen, weil sie mit einem Territorium bzw. einer eigenen Kultur verbunden sind. Unter dieser Perspektive betrachten Islamisten Allah als länderübergreifenden Gott: Allah bleibt nicht in seiner arabischen prototypischen Form, sondern ist ein Gott ohne kulturelle Grenzen. In diesem Sinne erscheint Allah als neuer Gott, mit einer neuen heiligen Identität.

Selbstredend ist diese neue Erscheinung eine einfache Antwort in einer schwierigen, komplexen Situation. Aber diese neue Identität wird als starke globalisierte Identität wahrgenommen. Sie geht zwar auf Kosten der vormals eigenen, kulturellen Identität, aber sie verspricht Halt in haltlosen Zeiten. Außerdem zeigt sie eine Entwicklung an, in der der Islam sich befindet: es geht um die „De-kulturation des Islam“, wie schon Olivier Roy in seinem 2006 erschienen Buch „Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung“ ausführlich erklärt hat. Damit ist gemeint, dass Islamisten nach ihren Zielen nicht in den traditionellen Milieus suchen, sondern vielmehr junge Muslime suchen und ansprechen wollen, für die eine Identifikation mit ihrer Kultur, oder auch mit ihrem Nationalstaat, von Natur aus problematisch ist. Es geht Islamisten vor allem um zwei Arten von Migranten: einerseits diejenigen, die neu in den Westen geflohen sind und eine schwache nationalstaatliche Kultur und Identität haben. Und andererseits sind die muslimischen Migranten der zweiten bzw. dritten Generationen für Islamisten interessant, die eine mangelnde soziale Integration haben und sich nicht mit der Mehrheitsgesellschaft identifizieren. Ihr Fundamentalismus bietet in diesem Zusammenhang für solche Migranten das an, was sie zu brauchen scheinen. Er füllt ein kulturelles Vakuum, gibt ihnen das zurück, was sie verloren haben.

Wir dürfen nie vergessen, dass die Situation von Migranten im Allgemeinen sehr unsicher und schwierig ist. Der Erfolg des Islamismus, und wie er nun seine Hochphase in Europa erlebt, hat viel mit dieser sozialen Verunsicherung und der Identitätskrise, in der Migranten geraten können, zu tun. Indem Islamisten hier nicht einen klassischen Gott, der mit einer spezifischen Kultur verbunden ist, predigen, sondern einen neuen Heilsgott, der ein kulturell entwurzelter, aber sogleich globaler Gott ist, haben sie Erfolg.

Wie können wir die Wege der neuen Fundamentalisten abschneiden? Was braucht es, damit kulturelle Integration gelingt? Was muss man tun, damit muslimische Migranten nicht bei ihrer Suche nach einer neuen Identität anfällig werden für den Islamismus und seine Kräfte? Das ist die Aufgabe, die vor uns steht. Ich bin der Überzeugung: Je wahrhaftiger und umfassender die soziale Integration der migrantischen Muslime ist, desto geringer ist der Erfolg des Islamismus.

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