SYMPOSIUM

DAS KINO DES HYSTERISCHEN MANNES

25.11.2006
Hanseatenweg


Hysterie gilt in der Psychopathologie als schwere seelische Störung, in der Zeitgeistphilosophie als Verhaltenslehre einer überreizten Gesellschaft, in der Kritik als schrilles Stilprinzip. Hysterie ist auch ein männliches Leiden, eine theatralische Selbstinszenierung, die „überoptimal“ wirken will, um Schwächen und Traumata zu kaschieren. Die Suggestionen der Hysteriker provozieren im Alltag verächtliche Distanz, in den Medien exzentrischen Unterhaltungswert. Wie hat sich der Begriff seit Freuds Studien zur weiblichen Hysterie verändert? Macht Hysterie Männer grandios, Frauen unerträglich? Geht männliche Hysterie im Kino mit Gewalt einher?


Wolfgang Schmidbauer

Zur (männlichen) Hysterie

Seit sie als Motiv unseres Denkens nachweisbar ist, hat die Hysterie damit zu tun, daß ein Ding nicht an seinem Platz ist. Unordnung herrscht, sie führt zu Angst, die sich bis zur Panik steigern kann. Bewältigungsversuche setzen ein, die Unordnung zu beheben. Das probateste Mittel, das der Erwachsene hat, um sich gegen seine Existenzangst zu behaupten und angesichts des Unausweichlichen einen kleinen Aufenthalt zu gewinnen, ist die Sexualität und in ihrer Folge die Hoffnung auf das Heranwachsen der eigenen Kinder. Sexuelle Erregung mindert die Angst; Kinder lenken von der Begegnung mit dem eigenen Altern ab.
Beides - sexuelle Aktivität und Schwangerschaft - wurde in den traditionellen Welten, als die Hysterie noch mit der losgerissenen Gebärmutter erklärt wurde, auch als Behandlung dieses Leidens empfohlen. Heute fallen an hysterischen Männern und Frauen eher ihre Neigungen auf, sich diesen existenziellen Behelfen zu entziehen. Sie ringen darum, alles besonders gut zu machen. Eine wirklich gute, wirklich befriedigende, wirklich leidenschaftliche und wirklich stabile Beziehung ist doch das Mindeste an Basis! Leider führen diese Verbesserungsversuche in der Praxis eher dazu, daß die Partnerschaft unbefriedigender wird und die ersehnte Schwangerschaft daran scheitert, daß aneinander die überoptimale Elternqualität vermißt wird.
Die "moderne" Hysterie, die wir seit Flauberts Roman über Emma Bovary beobachten können, hängt mit unerfüllten narzißtischen Ansprüchen zusammen. Die Realität - die Partnerin, die Heimatstadt, die Freunde, der Beruf - sind nicht gut genug. Was andere sind, was andere haben, wäre besser; erst fehlt der Becher, später der Wein. Die unwissende Kraft der Jugend wird ohne eigentliches Erwachsenenalter von der wissenden Kraftlosigkeit des Alters abgelöst, für die ernsthafte sexuelle Bindung ist es lange Zeit zu früh und dann mit einem Mal zu spät. Diese Qualitäten teilen Männer und Frauen, wir nennen sie heute oft "narzißtische Störung", aber das lenkt, so scheint es mir, von ihrer Verwurzelung in die menschliche Sexualität ab.


Christina Scherer

Neurotiker, Hypochonder, Hysteriker. Überlegungen zur Rolle des hysterischen Mannes im amerikanischen Spielfilm

In der Geschichte der Hysterie sind Hypochondrie und Hysterie zeitweise synonym verwendet worden, die eine den Männern, die andere den Frauen zugeordnet. Hypochondrie zeichnet sich aus durch Hypersensibilität, gesteigerte Selbstbeobachtung, Entwicklung von Krankheitssymptomen, ohne, dass eine körperliche Ursache erkennbar wäre, u.a.m., Merkmale, die den Mann allgemein effeminiert erscheinen lassen.
Im Kino ist eine Erscheinungsform des hysterischen Mannes auf bestimmte Schauspielertypen und deren Images bezogen, die es erlauben, geschlechtliche Identität zu problematisieren bzw. männliche Rollenmuster zu durchbrechen oder in Frage zu stellen. Im Zentrum des Vortrags stehen Filme von Jack Lemmon (z.B. The Odd Couple, 1968), in denen die Rolle des Hysterikers Effekte des Komischen generiert: Das Komische entsteht aus der Durchbrechung der Rollenmuster, die im Kern reflexiv ist, d.h. in der Durchbrechung die Konstruktionen dieser Rollenmuster erkennbar werden lässt. Hier werden allgemein als weiblich verstandene Verhaltensmuster mit denen des nervösen Hypochonders gepaart.
Weiter werden Rollen von Anthony Perkins (z.B. The Trial, 1962) und Woody Allen (z.B. Annie Hall, 1977) in die Betrachtung einbezogen, wobei hier auch die Neurose (zu der Freud bekanntlich die Hypochondrie hinzuzählte) Bestandteil des Hysteriediskurses ist.


Johannes Binotto

Che vuoi? Martin Scorsese und die Hysterie der Mafia

Was den Hysteriker umtreibt, ist die Frage nach dem Begehren. Was will der
Andere von mir und was ich will ich selbst? Es ist diese Frage, die sich
alle Figuren in den Filmen von Martin Scorsese stellen, so auch die Mafiosi
in «Mean Streets», «Good Fellas» oder «Casino». Sie sind Getriebene von
einem unstillbaren Begehren, das sie hysterisch macht und von dem sie doch
nicht ablassen können, koste es auch der andern oder gar ihr eigenes Leben.


Hinderk Emrich

„Hysterie als Lebensform“ soll aussagen, dass – im Sinne des Philosophen Ludwig Wittgenstein – die durch die psychoanalytische Aufklärung weitgehend verschwundene und nun auf ganz andere Weise wieder erstarkende Hysterie nicht nur als Psychopathologie aufgefasst werden kann sondern dass sie auch als Aussage- und Selbstverständigungsform der Psyche auftritt. Für Wittgenstein ist „Lebensform“ eine besondere Art des Selbstumganges, einer besonderen Weise, in Gewohnheiten und Erfahrungen zu stehen, die kommuniziert werden. Diese Form histrionischer Verständigung wird im Vortrag bezogen auf die Themen der Medientheorie und der Mimesis sowie der politischen Realität der Gegenwart.