Hans Bunge "Mensch im Jahrhundert der Wölfe"
Eröffnung des Hans-Bunge-Archivs

Die Akademie der Künste eröffnete, anlässlich seines 90. Geburtstages am 3. Dezember 2009, das Archiv von Hans Bunge (1919-1990); Manfred Bierwisch sprach über den Weggefährten und Freund, Dieter Mann las Texte und Briefe Bunges; neben der Einspielung von Tondokumenten gab eine Vitrinenpräsentation ausgewählter Originale Einblick in den Nachlass.

Im öffentlichen Bewusstsein ist Hans Bunge vornehmlich dank seiner Gespräche mit Hanns Eisler und Ruth Berlau sowie seiner Aufzeichnungen zur Debatte um Eislers Johann Faustus. Diese historischen Dokumentationen charakterisieren jedoch lediglich einen Aspekt der vielgestaltigen Arbeit des Literaturwissenschaftlers und ersten Leiters des Bertolt-Brecht-Archivs, des Regisseurs und Dramaturgen, unermüdlichen Chronisten und grenzgängerischen Boten zwischen Ost- und Westdeutschland.

Der nunmehr erschlossene und der Öffentlichkeit zugängliche Nachlass bezeugt Biografie und Werk eines Mannes, der inmitten der epochalen Brüche des 20. Jahrhunderts das Seine "ablieferte" - ganz im Sinne des Eislerschen Begriffs. Transparent wird, inwiefern er zu "den seltenen Menschen" gehörte, "für die Treue kein leeres Wort ist", wie Heiner Müller befand: "Treue zu Menschen, auch zu seinen Überzeugungen, ohne Rücksicht auf die Wetterlage oder Windrichtung: er ging gern gegen den Wind und stand oft im Regen. [...] Hans Bunge hat sein Leben gelebt und seine Arbeit getan, ein Mensch im Jahrhundert der Wölfe".

Nachlass

Der ca. 17 laufende Meter umfassende Nachlass Hans Bunges überliefert das breite Spektrum seines Schaffens - die literatur- und theaterwissenschaftliche Arbeit, die Praxis in Regie und Dramaturgie an diversen Theatern, die Zeugnissammlung des unermüdlichen Dokumentaristen, die Vermittlung der Künste im geteilten Deutschland bis hin zu den ihm stetig abverlangten Auseinandersetzungen im vormundschaftlichen Staat.

Wissenschaftliche Werkmanuskripte aus vier Jahrzehnten - insbesondere zum epischen Theater, diverse Fassungen der Dokumentation der Gespräche mit Hanns Eisler und Ruth Berlau oder auch das Editionsprojekt einer Historisch-Kritischen Ausgabe der Schriften Brechts - belegen Akribie, Rastlosigkeit und Weitsicht der Arbeit Bunges. Hunderte Tonbandmitschnitte und Transkriptionen bewahren Proben des Berliner Ensembles aus den 1950er Jahren (Der kaukasische Kreidekreis, Leben des Galilei) sowie zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen wie Paula Banholzer, Ruth Berlau, Elisabeth Bergner, Bertolt Brecht, Paul Dessau, Hermann Duncker, Hanns Eisler, Lou Eisler-Fischer, Therese Giehse, Peter Hacks, Herbert Ihering, Arno Mohr, Georg Pfanzelt, Käthe Rülicke, Herbert Sandberg, Jacob Walcher, Helene Weigel, Günther Weisenborn, Ludwig Zimmerer - eine in ihren Anfängen belächelte Pionierleistung, die heute in digitalisierter Form und somit konservatorisch gesichert dem kollektiven Gedächtnis anheimgestellt ist.

Lassen allein schon diese Arbeiten Kontinuitäten und Frakturen einer individuellen Existenz im 20. Jahrhundert transparent werden, so gilt dies auch für die überlieferten persönlichen Unterlagen, insbesondere aber für die von Bunge selbst chronologisch geordnete, Privates und Berufliches zueinander fügende Korrespondenz aus den Jahren 1939-1990. Zu nennen sind u. a. Briefwechsel mit Klaus Baumgärtner, Elisabeth Bergner, Ruth Berlau, August Everding, Uwe Johnson, Wolfgang Neuss, Peter Rühmkorf, Carlo Schellemann und Hans Tombrock.

Zum Nachlass gehören darüber hinaus diverse Arbeitsmaterialien, fremde Manuskripte und Druckschriften, v. a. Bühnenmanuskripte aus Bunges Arbeit am Volkstheater Rostock (1968-1970) und am Deutschen Theater (1970-1978) sowie eine beachtliche Fotosammlung.

Biografie und Werk

1919 geboren im sächsischen Arnsdorf als Sohn eines Arztes. 1939 Abitur, Reichsarbeitsdienst, Angehöriger der Deutschen Wehrmacht. Beteiligt am Überfall auf Polen, Frankreich und die Sowjetunion. 1943 als Hauptmann und Regimentsadjutant in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Ende 1949 Entlassung und Rückkehr ins geteilte Deutschland. 1950-1953 Studium der Germanistik, Geschichte und Pädagogik an der Universität Greifswald. 1953-1956 Regie- und Dramaturgieassistent am Berliner Ensemble. 1956-1959 Einrichtung und Leitung des Bertolt-Brecht-Archivs. 1957-1965 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Künste; Anfang 1966 politisch motivierte, fristlose Entlassung. Regisseur und Dramaturg am Volkstheater Rostock 1968-1970, am Deutschen Theater 1970-1978. Bis zum Tod 1990 Arbeit als freier Autor in Berlin.

1919 Am 3. Dezember in Arnsdorf (Sachsen) als Sohn eines Arztes geboren, ältester von vier Brüdern.

1926-1930 Besuch der Volksschule in Arnsdorf.

1929 Tod des Vaters.

1931-1935 Häufiger Orts- und Schulwechsel, z. T. Internatbesuch, bedingt durch den Beruf des Stiefvaters (Polizeioffizier).

1934-1939 Angehöriger der Hitlerjugend, Führer eines Fähnleins.

1936-1939 Dreikönigsschule in Dresden, Abitur.

1938 Mitglied der NSDAP.

1939 Reichsarbeitsdienst. Ab Oktober: Deutsche Wehrmacht.

Beteiligt an den Überfällen auf Polen, Frankreich und die Sowjetunion.

1943 August: Als Hauptmann und Regimentsadjutant während der Schlacht im Kursker Bogen in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

1943-1949 Kriegsgefangenschaft in 14 Lagern, Arbeit in verschiedenen Berufen.

1949 November: Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in Charkow. Zunächst nach Lünen (Westfalen) zu den Eltern.

Dezember: Übersiedlung in die DDR nach Koserow/Usedom zu Renate Künzel, Heirat im Januar 1950.

1950 Geburt des Sohnes Wolf.

1950-1953 Studium der Germanistik, Geschichte, Pädagogik an der Universität Greifswald. Diplomarbeit: Antigone auf der deutschen Bühne. Entwicklungsabschnitt Tieck - Brecht.

1951 Begegnung mit Ruth Berlau während des Besuchs einer Antigone-Inszenierung in Greiz. Ruth Berlau stellt Hans Bunge Brecht vor.

1952 Regie zu Die Gewehre der Frau Carrar, Inszenierung des Kulturbunds zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands, Hochschulgruppe Greifswald, Arbeitsgruppe "Theater", Beratung Ruth Berlau.

1953 August: Vertrag als Regie- und Dramaturgieassistent am Berliner Ensemble.

1953-1956 Tonbanddokumentation von Proben des Berliner Ensembles zu Der kaukasische Kreidekreis und Leben des Galilei.

In den 1950er/60er Jahren folgen umfangreiche Interviewaufnahmen mit Zeitzeugen aus dem Umfeld Bertolt Brechts.

1954 Geburt des Sohnes Steffen.

1956-1959 Einrichtung und Leitung des Bertolt-Brecht-Archivs, ab 1957 als Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Künste.

In den 1950er/60er Jahren zahlreiche theaterwissenschaftliche Vorträge an Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland sowie in Schweden, Norwegen, Finnland, Frankreich, Belgien, Jugoslawien. Regelmäßige Teilnahmen am Internationalen Studententheaterfestival.

1957 Promotion an der Universität Greifswald: Antigonemodell 1948 von Bertolt Brecht und Caspar Neher. Zur Praxis und Theorie des epischen (dialektischen) Theaters Bertolt Brechts.

1958-1962 Gespräche mit Hanns Eisler.

1960-1965 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Künste,

u. a. Leitung der Arbeitsgruppe Historisch-Kritische Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts, Herausgeber von Sonderheften Sinn und Form (Hanns Eisler, Thomas Mann, Willi Bredel).

1961 Ein Antrag auf Mitgliedschaft in der SED, verbunden mit einer Verteidigungsschrift zu Heiner Müllers Die Umsiedlerin, wird nicht angenommen.

1963 Eheschließung mit Therese Gottschalk.

1964 Geburt der Tochter Sabine.

1964-1965 Herausgabe der Sonderhefte Sinn und Form zu Hanns Eisler, Thomas Mann, Willi Bredel.

1966 Januar: Im Kontext des 11. Plenums des ZK der SED ohne Begründung fristlose Entlassung durch die Deutsche Akademie der Künste. Zwei Jahre ohne Verdienstmöglichkeit, Ablehnung aller Reiseanträge in den folgenden 13 Jahren.

1968-1970 Regisseur und Dramaturg am Volkstheater Rostock (Verpflichtung durch den Intendanten Hanns Anselm Perten).

1969 Werner Hecht, Hans Bunge, Käthe Rülicke: Bertolt Brecht. Sein Leben und Werk. Berlin: Volk und Wissen 1969.

1970-1978 Regisseur und Dramaturg am Deutschen Theater, Berlin (nach Wechsel von Hanns Anselm Perten ans Deutsche Theater).

1970 Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. München: Rogner & Bernhard 1970.

1972 Eheschließung mit Gudrun Weinert.

1973 Geburt des Sohnes Johannes.

1974 Vorschlag einer Publikation zu Ruth Berlau an den Henschelverlag. Beginn eines langjährigen Ringens um das Erscheinen von Brechts Lai-tu in Ost- und Westdeutschland.

1975 Hanns Eisler: Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Leipzig: Deutscher Verlag für Musik.

ab 1975 Leiter der Kleinen Komödie am Deutschen Theater, Berlin.

1976 Mitunterzeichner des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, in Konsequenz notgedrungen Aufgabe der gewerkschaftlichen Funktionen im Deutschen Theater.

ab Ende 1977 Arbeit als freier Autor in Berlin.

1983 Hanns Eisler, Hans Bunge (Hrsg.): Johann Faustus. Fassung letzter Hand. Berlin: Henschel.

1985 Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand.

1987 Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau. Berlin: Eulenspiegel.

1990 Am 27. Mai in Berlin gestorben. Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.

1991 Die Debatte um Hanns Eislers "Johann Faustus". Eine Dokumentation. Berlin: BasisDruck 1991.

> Zurück zur Übersicht

(Stand 16.08.2010)


Dieter Mann liest aus Hans Bunges Schriften
Foto: AdK, Brümmer


Sabine Wolf, Begrüßung
Foto: AdK, Brümmer


Manfred Bierwisch, Dieter Mann
Foto: AdK, Brümmer


Dieter Mann
Foto: AdK, Brümmer


Komplette Seite siehe Text
Fassung eines Modellbandes zur Historisch-Kritischen Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Etwa 1961/62


Komplette Seite siehe Text
Hans Bunge an Wolfgang Neuss, ohne Ort, 10.01.1966