2.11.2012, 21 Uhr

Vortrag der griechischen Autorin Lena Divani

auf der Herbst-Mitgliederversammlung der Akademie der Künste im November 2012

Μeine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

seit dem Moment, da Sie mich eingeladen haben – und ich danke Ihnen für diese Ehre, die Sie mir erwiesen, über die Krise in Griechenland zu sprechen –  habe ich mich sehr merkwürdig gefühlt. (...) Das Problem besteht darin, dass ein Klima der Spannung zwischen Deutschland und Griechenland besteht, ich denke, das wissen Sie alle: Beginnend bei den beleidigenden Bildern der Venus von Milo im Magazin "Focus", bis hin zu diesem Nazi-Delirium gegen Angela Merkel in Griechenland, ist deutlich zu erkennen, dass hier plötzlich ein Ozean des Unverständnisses die beiden Völker trennt, und ich befinde mich mitten in diesem Ozean und schwimme, nicht wissend, wie ich herauskomme.
Ich bin Griechin, ich bin gleichzeitig Kosmopolitin, wie wir Griechen es traditionell waren, ich habe lange Zeit zum Studium im Ausland verbracht. Und meine Arbeit – ich ja bin Schriftstellerin - besteht darin, zu verstehen. Also verstehe ich beide Seiten. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, die Rolle des Vermittlers, des Dolmetschers zu übernehmen, d.h. Ihnen die griechische Seele zu übersetzen, ihnen zu vermitteln, was die griechische Seele ausmacht, etwas, was für Sie sicherlich schwer nachvollziehbar ist. Es ist natürlich klar, dass ich genau das auch in Griechenland tue.


Für den deutschen Durchschnittsbürger ist das Gleichnis auf dem ersten Blick ganz einfach: „Liebe Griechen, ihr schuldet uns Geld, wir leihen euch das Geld, also erste Schlussfolgerung: ihr müsst uns danken, denn wir hatten die Güte euch Geld zu leihen, das ist schließlich nicht selbstverständlich und, zweitens, müsst ihr, natürlich protestlos, unseren Anweisungen folgen, damit die Rückzahlung an uns gewährleistet ist“.
Das klingt äußerst vernünftig! Warum demonstrieren also die Griechen und regen sich auf und warum haben sie die Nazivergangenheit Deutschlands ausgegraben, ein Land, und das müssen wir einfach sagen, das mehr denn jedes andere Land gegen die Neonazis kämpft? Und zwar just zu dem Zeitpunkt – und das ist das Witzige – wo sie eine Nazipartei mit einem triumphalen Wahlergebnis in das Parlament bringen. Die Geschichte liefert immer die Antwort, und das sage ich nicht, weil ich selbst Historikerin bin. Im Gegenteil, aus diesem Grund bin ich Historikerin geworden, gerade weil ich der Auffassung bin, dass Antworten in der Geschichte zu finden sind.

Erstens: Seit seiner Gründung im Jahre 1830 war Griechenland stigmatisiert durch die Kontrolle der Großmächte. Der Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken hat lediglich funktioniert, weil Russland es so wollte. Und damit Sie es verstehen: Der Vertrag, wonach unsere Grenzen festgelegt wurden, wurde unterzeichnet unter der Drohung der russischen Waffen. Großbritannien, das natürlich nicht außerhalb des Spiels stehen wollte und die Kontrolle nicht ausschließlich den Russen überlassen wollte, hat unmittelbar danach Griechenland einen Monarchen seiner Wahl auferlegt: den damals nicht volljährigen bayrischen König Otto. Otto kam natürlich nach Griechenland in Begleitung seines Hofs, der zu hundert Prozent das politische Spiel in der Hand hielt. Und das griechische Volk beobachtete das Geschehen von draußen – stand vor der Tür.
Sie müssen wissen, dass die drei politischen Parteien, die es erst einmal gab, die „französische“, die „englische“ und die „russische“ genannt wurden. Sie verstehen, was das heißt. Es ist nachzuvollziehen , wieso die ausländischen Großmächte für die Griechen ihre Hoffnung aber auch das Verdammnis darstellen. Das ist das Erste, was man festhalten sollte.


Zweitens: Die Kredite stehen im engen Verhältnis zu unserer Geschichte, mit Techniken der Versklavung und des Verlustes unserer nationalen Souveränität.
Im Jahre 1821, als der Befreiungskampf gegen die Türken ausbrach, der zur Gründung des neuen griechischen Staates führte, hatten die Kämpfer sehr bald kein Geld mehr. Großbritannien bot an, den Griechen einen Kredit zur Verfügung zustellen. Eine vernachlässigbar kleine Summe, die Großbritannien allerdings in die Lage versetzte, während des gesamten 19. Jahrhunderts die wirtschaftliche und politische Zukunft des Landes zu kontrollieren. Die Briten verhängten Hafenblockaden, brachten Regierungen zum Fall und änderten die königliche Dynastie. König Otto musste gehen und an seiner Stelle sind die Glücksburg gekommen. Die Briten kontrollierten das gesamte Wirtschaftsleben.
Leid uns Schmerz brachte eigentlich diese Politik im gesamten 19. Jahrhundert. Seither gibt es den Ausdruck in der griechischen Sprache: „Ich schulde die Kredite Englands!“. Das sind die Fakten. Und ich denke, dass sie einiges Licht werfen auf die massive Ablehnung der griechischen Gesellschaft gegenüber dem Versuch seitens des Auslandes, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen.

Es gibt allerdings auch einen dritten Parameter, der um einiges die Situation verschlimmert: Und das ist das Fehlen von sozialer Solidarität und Kohäsion, das wir Griechen an den Tag legen, wenn der eine sich gegen den anderen richtet. Und auch das Fehlen von Vertrauen in die demokratischen Institutionen des Landes. Und all das zusammen führt uns direkt in die Arme der Neonazis, dieser Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ - wie sie heißt.
Und auch hier müssen wir die Geschichte bemühen, um zu verstehen. Griechenland - wie auch die anderen Balkanstaaten - kamen durch die Hintertür in das Zeitalter der Moderne.
Während Sie hier im Westen die Aufklärung hatten, die Verbreitung von Handel und Industrie, die Trennung von Kirche und Staat, was einfach eine normale Entwicklung bedeutete, das heißt, Sie haben schrittweise und auf normalem Wege verstanden, dass Sie einer Gesamtheit angehören, dass Sie Bürger sind, dass Sie zusammen agieren für gemeinsame Ziele - wobei dieses Zugehörigkeitsgefühl gerade in Deutschland nicht so deutlich ausgeprägt war, aber trotzdem - während sich dies also im Westen vollzog, lebten wir im Osmanischen Reich unter einem wirtschaftlichen und politischen Modell, das langsam ausstarb. Innerhalb des geographischen Raums, in dem später Griechenland gegründet wurde, hatten wir unabhängige und selbstverwaltete Gemeinschaften gehabt, die dem Sultan Steuern, Tribut zahlten. So war z.B. der Muchtar von Patras, einer großen griechischen Stadt, zwar Grieche, er war aber gleichzeitig auch die oberste Instanz. Zur Gemeinde von Kalamata, eine Stadt in unmittelbarer Nähe von Patras, hatte dieser Muchtar keinen Kontakt gehabt. Als nun der Befreiungskampf ausbrach, haben die westlichen Beschützer ihre Prinzipien und ihre Werte auferlegt, mit anderen Worten einen Zentralstaat und Entscheidungen, die eben von oben oktroyiert wurden, und natürlich den Parlamentarismus. Die Gesellschaft reagierte allerdings darauf negativ, weil eine gemeinsame Identität gar nicht vorhanden war, die Identität eines griechischen Bürgers.
Also wie sollte der griechische Bürger, oder sagen wir mal der Bewohner von Patras, glauben, dass der Ministerpräsident, der aus Kalamata stammte, in seinem Sinne arbeiten würde? Das Ergebnis war, dass oberflächlich der Parlamentarismus zwar eingeführt, aber gleichzeitig unterminiert wurde. Mit anderen Worten ist aus dem Muchtar von Patras der spätere Abgeordnete von Patras geworden und er hat natürlich für die Leute, eben die aus Patras, gearbeitet und sie entsprechend beim Staat eingestellt. Somit nahmen die Gefälligkeiten ihren Anfang, und so kam es auch zu einem aufgeblähten Verwaltungsapparat, weil man ja schließlich durch diesen Muchtar / Abgeordneten von Patras eingestellt wurde.
Niemals hatten wir Griechen den Eindruck, wir gehören dem griechischen Staat an, oder vollzogen nach, dass die Schulden des Staates auch unsere Schulden sind. Und wir wollen auch keine Steuern bezahlen, denn der Staat ist so etwas wie ein Sultan, eine fremde Macht. Wir versuchen ihn reinzulegen, um nicht soviel zu zahlen, wie wir zahlen sollten. Natürlich sagen weise Menschen „Gefühle bestehen auf Gegenseitigkeit“. Das heißt, der Staat verhält sich auch, wie wenn er Sultan wäre. Seine Zielscheibe sind die Schwachen während er den Starken Absolution erteilt.

Ergebnis: Wir Griechen sind außerordentlich effektiv als „free agents“, wir sind als Einheiten genial. Ich erlebe es bei meinen Studenten. Im Ausland funktionieren sie wunderbar. Es wird allerdings jetzt wahnsinnig schwer, jetzt wo wir die Schiffbrüchigen sind, und wir uns irgendwie auf ein Boot versuchen zu retten, dass wir es jetzt schaffen, zusammen dieses Boot in Bewegung zu setzen. Was wir tun, ist zu versuchen, jeden anderen aus dem Boot rauszuschmeißen, um selber vielleicht zu überleben.
Leider verhalten sich auch die politischen Führer in der Europäischen Union ganz ähnlich, aus genau denselben Gründen. Da es nur oberflächlich eine europäische Kultur der Zusammenarbeit  und auch keine fest verankerte europäische Identität gibt, gewährt der eine Europäer dem anderen keine tatsächliche Hilfeleistung, im Gegenteil: der eine Europäer schmeißt den anderen Europäer aus dem Boot, er guckt zu, wie der andere ersäuft und hofft, dass er selber überlebt.
Deswegen erleben Sie diese Ressentiments gegen Europa in meinem Land aber auch in anderen Krisenländern. Wir hatten immer Misstrauen gegenüber den großen europäischen Mächten. Wir waren misstrauisch gegenüber den Institutionen der Großmächte und der Europäer und ihrer Kredite, aber man würde erwarten, dass sich dieses fremdenfeindliche Gefühl nach unserem Beitritt in die EU irgendwie legen würde. Ganz das Gegenteil ist allerdings der Fall. Hier sind eigentlich beide Seiten Schuld. Auch Europa wurde nicht offen und demokratisch regiert. Europa war niemals, nicht einmal ansatzweise zu einem Europa der Völker geworden, aber auch die griechischen Regierungen haben alles Gute nur auf sich bezogen, das Wunderbare, das durch europäische Mittel stattfinden konnte, und alles andere, alles Negative, nämlich sozialfeindliche Maßnahmen, wurden Brüssel angekreidet.
Wir alle betrachten  Europa als ein notwendiges Übel und nicht als die Realisierung einer Vision. Wissen Sie, eines der wenigen Dinge, die tatsächlich so etwas wie eine gemeinsame Identität aufbauen konnte, war das Erasmus-Programm der Universitäten und wir sind so dankbar, dass es dieses Programm gibt.
In Griechenland herrscht aktuell Trauer und gegenseitige Zerstörungswut vor. Die besten jungen Leute gehen. Ich habe vorgestern einen alten Studenten von mir getroffen, der mir sagte: “Frau Divani, ich haben morgen Geburtstag. Alle meine Freunde sind weg, sind schon im Ausland, und ich weiß gar nicht, mit wem ich meinen Geburtstag feiern soll. Und diejenigen, die noch da sind, verteilen vormittags Lebensläufe und abends hocken sie auf den Sofas ihrer Eltern, weil sie sowieso kein Geld haben, um auszugehen“. Es ist nicht die Arbeit, die die jungen Menschen nicht finden, oder das Geld, was sie nicht haben, der Punkt ist, dass sie keine Visionen haben, etwas auf das sie hinarbeiten können. Etwas, das eben Licht in ihre Zukunft wirft.
Und das ist heute das große Problem, nicht nur der Griechen sondern aller Europäer, die langsam in die Krise abgleiten. Wir wissen nicht, auf was wir hoffen sollen. Die großen Wunder haben stattgefunden, immer wenn jemand den Menschen etwas zu erzählen hatte, von einer sonnigen Zukunft zum Beispiel, und sie sich entschieden, dass sie genau diese Zukunft haben wollten.

Die französische Revolution versprach Gleichheit und Freiheit. Die Oktoberrevolution versprach Brot und Bildung für alle Hungernden. Amerika versprach Freiheit und das Recht auf persönliches Glück. Auch kleinere Visionen funktionieren. Das erlebt man doch immer wieder. Wir Griechen z.B. mit unserem sehr unorganisierten und armen Land haben doch ein Wunder zustande gebracht: das der Olympischen Spiele. Wir glaubten damals an den Mythos von David und Goliath. Wir, der kleine David, zeigen es dem großen Goliath. Aber ein Wunder, so sagen die Chinesen, dauert nur drei Tage. Sowie die Vision vorbei war, wir es also Goliath gezeigt hatten, war auch das Wunder vorbei. Und was bleibt für Griechenland übrig? Hunderte von brach liegenden olympischen Stätten.
Wo soll heute die Vision herkommen? Und das gilt nicht nur für Griechenland, sondern für die Europäer in ihrer Gesamtheit. Der Kommunismus starb diskreditiert. Der Kapitalismus durchlebt seine kanibalistischste Phase und zerstört die Mittelschicht, die ihn stützt. Gleichzeitig sehen wir, dass wir Zuständigkeiten an Europa weiter geben und dass Mechanismen unser Leben regieren, die wir unkontrollierbar gelassen haben. Man kann z.B. feststellen, dass die größte europäische Institution, nämlich das Europäische Parlament, eigentlich überhaupt nicht bei der Lösung der Krise beteiligt war.
Nur jetzt kommt langsam Bewegung ins Spiel. Auch der uninformierteste Mensch erkennt heute, dass die Karten gezinkt sind, dass das Spiel nicht echt ist, dass die Demokratie nur ihrem Namen nach eine ist. Solange das Geld ausreichte, hatte man darüber hinweg geguckt. Dazu kommen auch noch die Medien, die das effektivste Beruhigungsmittel sind. Nun gibt es aber kein Geld. Kein Geld und keine Zukunft. Und da haben wir das Monster, das langsam aufwacht, dunkel und blutrünstig ist. „Ich soll außerhalb eures Spiels stehen? Na gut, dann ziehe ich euch hinein in meine Hölle“.
So rekrutiert die rechtsextremistische Partei „Goldene Morgenröte“ ihre Leute. Zum Beispiel schlägt ein Mitglied der Goldenen Morgenröte einen Abgeordneten der Linken ins Gesicht. Sofort steigt die Goldenen Morgenröte in der Gunst der Wähler. Oder ein Ausländer, ein Flüchtling, wird zusammengeschlagen: die Goldene Morgenröte bekommt mehr Prozente.

Was bleibt? Es bleibt natürlich die Kunst. Die Kunst, die übrigens immer herabgewertet war in meinem Land. Das ging so weit, dass z.B. die Minister, die das Kulturministerium übernehmen sollten, sich als schlecht behandelt betrachteten. Der Bereich des Buches, das ist meine Arbeit, funktioniert überhaupt nicht. Wir dachten, dass die Krise die Menschen dazu führen würde, einen Ausweg durch das Lesen zu suchen. Das ist nicht der Fall.
Die Buchhandlungen geben das Geld, das sie einnehmen, nicht an die Verleger weiter, damit sie Liquidität haben. Die Verleger wiederum bezahlen nicht die Schriftsteller oder andere Beteiligten im Bereich des Buches, und also werden keine Bücher herausgegeben und, sehen Sie, das Rezept bleibt nach wie vor dasselbe: „Schmeiße wen du kannst aus dem Boot, damit du selber überlebst!“
Natürlich gibt es auch die teuren Künste, das ist der Film, das sind die bildenden Künste und da sieht es richtig schwarz aus! Junge Menschen wenden sich an das Ausland, um eine Finanzierung zu bekommen, aber auch da sind die Ergebnisse gering. Weil wir es nicht gelernt hatten, extrovertiert zu sein, uns nach außen hin zu orientieren. Eines allerdings funktioniert gut. Das ist das Theater und die „gute“ Musik, wenn ich es so sagen kann. Weil die „Bouzouki“-Musik endlich mal vorbei ist. Kleinere alternative Ensembles stellen etwas auf die Beine: kleinere Vorführungen, und die Menschen nehmen das Angebot wahr, auch wenn sie keine Drachme in der Tasche haben – Sie merken, ich bin schon bei unserer alten Währung! Sie gehen hin, weil sie einfach etwas erleben wollen. Wenn Sie mich fragen, ich habe nicht wirklich eine Antwort, was genau in den Köpfen der Menschen vor sich geht. Vielleicht hat man einfach nicht die Geduld, wenn alles um einen zusammenbricht, die Geduld zu lesen, zum Beispiel. Vielleicht hat man auch nie zu lesen gelernt. Aber man hat das Bedürfnis, den Künstler neben sich zu erleben, seinen Atem zu spüren, jemanden neben sich zu spüren, der einem etwas zu erzählen hat, der Sinn in diese sinnlosen Tage bringt.

 

Auf die Frage, welche Rolle spielt die Kultur, spielen die Künste in der gegenwärtigen Krise?

 

Erlauben Sie mir auf Ihre Ausführungen mit etwas zu antworten, was mir ein griechische Freundin, die in Deutschland arbeitet, gesagt hat. Sie sagte: „Ich zahle hohe Steuern, aber ich bin so glücklich, dass ich sie zahlen kann. Denn dieser Staat gibt mir etwas zurück“. Das genaue Gegenteil also zu meinem Land, denn mein Staat nimmt mir alles weg. Derjenige, der Idiot also, der Steuern zahlt, wie ich beispielsweise, ist nun mal ein Idiot, denn mit seinen Steuern wird keine Straße gebaut, kein Bildungswesen wird finanziert. Das heißt, da ist einer, der seine Hand in deine Tasche steckt und du fühlst dich wie ein Idiot.
Die Liste, die Sie angesprochen haben, läuft bei uns in Griechenland unter dem Namen „Lagarde“-Liste, ist ein bezeichnendes Beispiel. Vorgestern, bevor ich nach Berlin kam, sah ich im Fernsehkanal des Parlaments die Debatte über die Liste. Ich weiß nicht, was Sie über diese Liste wissen. Frau Lagarde hat tatsächlich an die griechische Regierung aber auch an andere Regierungen eine Liste weitergereicht, auf der die Namen von allen Großanlegern stehen, die ihr Geld in der Schweiz haben. Andere Staaten haben sofort darauf reagiert. Wir, die wir so ein enormes Problem haben, haben diese Liste in irgend eine Schublade verschwinden lasen. Irgendwann mal kam heraus, dass diese Liste existiert und jeder fragte den anderen. Im Parlament, zum Beispiel: Die linke Partei befragte die Minister, die stellvertretenden Minister, die Vizeminister, was denn mit dieser Liste passiert ist. Die Antwort lautete: „Ich weiß es nicht mehr“ oder „ was soll ich dazu sagen, ich bin nicht auf die Frage vorbereitet“, oder „ich habe es vergessen“ usw. Solche Dinge passieren und ich dachte,  (…) es kann doch nicht sein, dass man 500 Euro-Renten kürzt. 500 Euro und dann noch kürzen! Das führt zur Wut in Griechenland.
Und nun zur Frage, die Sie gestellt haben. Zurück zur Frage der Kunst, der Kultur. Wie ich schon sagte, die Griechen sind so wütend, aber auch wütend auf sich selbst. Dass sie so reingefallen sind und so leicht, so einfach verkauft wurden, so sehr wütend, dass sie keine Geduld haben - was ich vorhin sagte, gilt zu hundert Prozent - dass sie aktuell keine Geduld haben, sich zu konzentrieren, auf einen Text zum Beispiel, es ist wie wenn es brodeln würde, wie wenn man zum Beispiel mit etwas Heißem, ganz Heftigem beschäftigt ist, etwas, das einen in Rage versetzt, da kann man sich nicht beruhigen, da ist man nur am Schimpfen. Die Griechen schimpfen nur, beschimpfen sich gegenseitig, die Aggressivität ist enorm groß. Steigen Sie in einen Bus ein, und berühren Sie aus Versehen eine Menschen, Sie werden sofort angemacht: „Weg hier, was soll das?“ „Entschuldigung, war ja keine Absicht!“ Mit anderen Worten man will bei jeder Gelegenheit einen Streit vom Zaun brechen.
Aber niemals, und das ist eine Sache, die mit der Bildung zu tun hat - und ich glaube an Bildung, hundert Prozent – haben wir uns auf uns konzentriert und über uns nachgedacht. Nur ein Politiker – Pangalos heißt er - sagte etwas wirklich Intelligentes. Er sagte: „Wir haben alle zusammen gefressen“.
Ich glaube, er hat Recht. Man kann nicht eine derartige, korrupte politische Führung haben und diese korrupten Politiker immer wieder von neuem wählen. Und die Griechen haben diese politische Führung gewählt. Viele haben sehr viele  zusammen mit der politischen Führung „gefressen“, manche waren dabei ein bisschen zurückhaltender, aber es handelt sich hierbei um eine moralische Frage. Und dabei tragen wir alle zusammen die Schuld.
Zurück zu der Kunst. Was verstehen wir in Griechenland unter Kultur? Was passiert bei uns in diesem Zusammenhang? Nun, Sie wissen bestimmt, dass wir ganz besonders stolz sind auf unser antikes kulturelles Erbe, von dem wir im Übrigen keinen blassen Schimmer haben. Wir haben schlichtweg keine Ahnung, Sie wissen sehr viel mehr über das antike Griechenland als wir Griechen! Das sagte ich einmal meinen Studenten und ich wurde fast verprügelt. Es ging um nationale Identität, und ich stellte Fragen wie "was versteht man unter der nationalen Identität", "wie beschreibt man nationale Identität, ist es ein gesellschaftliches Konstrukt",  "wie gehen wir in Griechenland damit um", "wie verbinden wir die Vergangenheit mit der Gegenwart, ist man rückwärts gewandt"?
Aber wir haben nichts gemein mit unserem antiken Erbe, und dann sagte ich, dass die natürlichen Nachfolger der griechischen Antike die Deutschen sind, sie sind sehr viel griechischer als wir, nun und dann wurde ich fast verprügelt!
Ich erinnere mich, ich bin früher mit dem Zug durch Europa gefahren, ich war damals noch Studentin, ich traf im Zug einen Deutschen, der mich in einer äußerst merkwürdige Sprache ansprach, es war altgriechisch in erasmischer Aussprache und ich hatte natürlich nichts verstanden. Er wiederum war glücklich, weil er eine Griechin getroffen hatte, während ich ihn nur komisch anstarrte!
Also, wir sind ganz besonders stolz auf unsere Vergangenheit, obwohl wir Null Ahnung darüber haben und, dazu noch hat all das in der Realität überhaupt keine Relevanz, keine Auswirkung auf die heutige Zeit. Wir haben keine Geschichte, die wir pflegen, wir haben keinen Zusammenhang, keine Dokumentation, keine Archivierung. Soviel Geschichte und doch fehlt der große Zusammenhang.
Ich erinnere mich, als ich nach England zum Studium ging, war ich regelrecht beeindruckt von einem Fall, den ich erlebt hatte. Der Lebensmittelhändler von nebenan würde sein Geschäft schließen und ist mit allen seinen Daten ins Stadtarchiv gegangen, um sie der Stadt zur Verfügung zu stellen. Wir haben in Griechenland Minister, die ihren Posten räumen und alle Dokumente mit nach Hause nehmen.
Und noch etwas: Ein Mensch, der Kultur vermittelt, auch ein Intellektueller ist verpönt, es ist negativ konnotiert, ein Intellektueller zu sein, denn „intellektuell“ zu sein, ist etwas sehr Langweiliges. Ein großes Kompliment mir gegenüber war, als man mir sagte, „Ach, du bist ja keine Intellektuelle, wie schön!“.
In schwierigen Zeiten, das wissen Sie alle, werden einem die Hosen runter gezogen. Und genau das passiert gerade in Griechenland. Das heißt, man kann unten drunter schauen, man sieht was da ist, man sieht die blanke Wahrheit. Und also sieht man, was auch vertuscht und versteckt wurde all die Zeit. Das heißt wir können die „dirty laundry“ von uns allen sehen, wir stellen die dreckige Wäsche zur Schau, und was man noch sehen kann, ist dass leider auch sehr wenig da ist.
Was ich wirklich mag an meinem Land, ist, dass wenn zwei, drei Menschen, ja sogar ein Mensch, sich zu etwas entscheidet, dann wird es auch umgesetzt. Das heißt, wenn man einem sagt: „besteige den Mount Everest“, dann macht er das. Wir sind ein verrücktes Volk, wir haben diesen Genius, diese schöpferische Kraft. Aber wir handeln als Einheiten, als Entitäten. ICH mache das und ich nehme dich mit, weil du MEIN Freund bist. Aber dass wir bei der Sache zusammenarbeiten, als Kollektiv, das nicht, wir haben auch keine Übung darin, Dinge zusammen zu tun. Meine Studenten z.B.: Sie sollen Teamarbeit machen, ich zwinge sie dazu, zusammen zu arbeiten. Wissen Sie, was dabei raus kommt? Chaos! Entweder gehen sie dann zusammen, was wunderbar ist, oder sie kriegen sich in die Haare. Oder sie gehen erst zusammen und dann kriegen sie sich heftigst in die Haare. (…)
Nun, um die Dinge erst einmal klar zu stellen, um zu wissen, von welcher Warte aus ich die Dinge sehe. Ich gehörte politisch immer dem linken Spektrum an. Das heißt, ich sehe, dass die Krise als eine wunderbare Chance gesehen wurde, um alle Rechte, die die Menschen in den letzten Jahrhunderten erringen konnten, abzubauen und zu verlieren. Als Historikerin habe ich immer meinen Studenten gesagt, dass man diese Möglichkeit hat, sich vorwärts und rückwärts zu bewegen. Ich sagte vor einiger Zeit jungen Studentinnen, die den Begriff „Feminismus“ hörten und sich darüber lustig machten, denn er würde ja, wie sie meinten, lauter überwundene Probleme, Probleme, die schon längst gelöst seien, ansprechen. Ich sagte ihnen: „Wisst ihr, seit wann ihr erst das Recht habt, wählen zu gehen? Das ist ganz kurz. Und wisst ihr, wie schnell diese Rechte zurück genommen werden können?“
Sie haben kein Gefühl von Historizität, und deswegen haben sie gelacht. Also stellen wir fest, wie schnell die Errungenschaften der Arbeiterklasse verloren gehen. Und nun, nur drei Jahre später bin ich immer noch Professorin und wir stellen alle leider fest, wie wirklich schnell alles gehen kann. Wie vieles verschwunden ist, innerhalb von drei Jahren, wer würde das glauben. Und das gilt ja nicht nur für Griechenland oder nur für die Krisenstaaten, sondern ganz Europa erlebt es. Demokratie gibt es nicht mehr. Ich habe den besten Artikel aller Zeiten gelesen, den ein britischer Verfassungsrechtler verfasste. Er beschrieb auf zynische Weise, welche Situation gerade im Westen herrscht, und die anderen Staaten in der restlichen Welt stehen noch schlimmer da. Er schrieb folgendes: „Sehen Sie, es gibt keine Demokratie, es hat auch in Wirklichkeit nie Demokratie gegeben, auch nicht im antiken Griechenland, wenn doch die eine Hälfte der Bevölkerung Sklaven waren und die andere Hälfte irgendwo im Hintergrund, in den Häusern versteckt waren. Aber was wir jetzt erleben, was der gesamt Westen durchlebt, ist eine Oligarchie, die sich letztlich auf vier Säulen stützt: erste Säule, das Geld. Das Geld, das anonym ist, von dem wir nichts wissen, bei dem wir niemanden kennen. Gut, in Griechenland sind wir neureicher, da kennen wir den einen oder anderen, weil er sein Geld zur Schau stellt, das alte Geld kennen wir nicht. Die zweite Säule: die Manager. Es sind diejenigen, die das Geld verwalten, den Ordern des Geldes folgend. Dritte Säule: die Politiker. Das Geld bezahlt die Politiker, über die Manager , um zu entscheiden und auch entsprechend Gesetze zu gestalten und alles zu managen, was im Dienste des Geldes steht. Vierte Säule – und hierzu meine Damen und Herren gehören wir alle, mehr oder weniger - das sind die Medien, die Gestalter der öffentlichen Meinung. Sie tragen die größte Verantwortung, sie müssen die Öffentlichkeit überzeugen, dass es keine andere Möglichkeit zu reagieren gibt, als der Weg, der dem Geld dient. So einfach sind die Dinge.

 

Auf die Frage nach dem Theater im gegenwärtigen Griechenland:

 

Ja, glücklicherweise gibt es diese Anstrengungen, und wie ich schon sagte, gehört das Theater zu den glücklichsten Bereichen innerhalb der Kunst, vielleicht auch weil man dabei sein will, es ist so etwas wie Sex, zum Beispiel. Man ist dabei. Nun, und wenn das Theaterstück nicht gut ist, dann will man ja gehen, genauso wie beim Sex. Es ist in beiden Fällen eine interaktive Sache. Vielleicht ist das tatsächlich eine gute Erklärung: eine lebendige Angelegenheit, eine interaktive Angelegenheit und so etwas brauchen die Menschen.
Junge Menschen, wie Sie es angesprochen haben, aber auch ältere Künstler haben es geschafft mit ganz wenig Geld, oder sogar mit überhaupt keinem Geld ihre Arbeit zu machen, eine Vorstellung auf die Beine zu bringen. Und die Menschen besuchen solche Aufführungen. Man kann es kaum fassen, dass Menschen 20 Euro zahlen, um eine Theatervorstellung zu besuchen, und dafür dann am nächsten Tag zu Fuß zur Arbeit gehen. Glücklicherweise haben wir diese Beispiele und diese Ebene funktioniert bei uns.

 

Auf die Frage nach einer Perspektive in der gegenwärtigen Krise:

 

Sie müssen wissen, mir wird vorgeworfen, dass ich krankhaft optimistisch bin. Und damit möchte ich auch heute Abend schließen: es ist unsere Zeit, meine Damen und Herren, es ist die Zeit der Kunst. Wir werden den neuen Sinn narrativ vermitteln. Wie finden wir zu diesem Sinn? Indem wir eintauchen. Die Psychotherapeuten sagen, dass man den Grund ganz unten erreichen muss, um wieder hinauf kommen zu können. Wenn der Kranke es halbwegs schafft, arbeitet und lebt er mit den alten Prinzipien weiter. Wenn wir komplett zusammenbrechen, und wir sind sehr nah dran, dann wird etwas Gutes und Neues entstehen. Die Lateiner sagten: Sola resurgit vita. Nur das Leben kann sich selbst neu erschaffen. Es liegt in unserer Hand diese Narration zu bringen. Wir müssen beschreiben, dass es eine Sonne gibt und wenn es alle glauben, dann wird die Sonne auch aufgehen.

( Übersetzung von Maria Stavraka)

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