4.11.2008

Von der „Blödsinnsdebatte“ zur konstruktiven Kritik. Positionspapier des Präsidenten der Akademie der Künste zur Qualität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Hat die Kultur im Fernsehen eine Chance? Ist das Fernsehen überhaupt ein Teil der Kultur oder das Medium ihrer Zerstörung?

Diese Fragen hat die Akademie der Künste schon häufig – zuletzt im Frühjahr 2007 – gestellt und öffentlich diskutiert. Längst vor Marcel Reich-Ranickis Generalkritik („Alles Blödsinn“) und vor Elke Heidenreichs vehementer Abrechnung mit dem ZDF hat die Akademie, auch in Fortsetzung früherer Debatten, das Problemfeld und das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Medien, hier speziell des Fernsehens, umrissen und untersucht. Eine Fragestellung, die nicht zuletzt den Existenzgrund und die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Kern berührt.

Wegen der aktuellen Qualitätsdebatte sei noch einmal an die vor anderthalb Jahren in zwei  „Akademie-Gesprächen“ beschriebenen Positionen erinnert. Sie haben durch die immer noch rasante Entwicklung des Internets und durch die intensive Hinwendung gerade des jüngeren Publikums zu Online-Angeboten in jüngster Zeit noch schärfere Konturen gewonnen.

Das Fernsehen steht wie kaum ein anderes Medium im Zeichen der Digitalisierung – von der Produktion bis zur Verbreitung. Der technische Wandel und der damit verbundene Beschleunigungsprozess beeinflussen dabei in hohem Maße das Rezeptionsverhalten. Das Internet wird zum Maßstab der Aktualität und schneller Verfügbarkeit von Inhalten aller Art.
Die aktuelle Entscheidung der Bundesländer, die Internet-Möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht allzu sehr zu beschneiden, ist deshalb richtig und wichtig. Und natürlich spiegelt sie die Realität. Denn die Transportwege und  Verbreitungsformen der Massenmedien sind miteinander verschränkt, mediale Inhalte werden durchgängig in vielen Formen verfügbar.

Dies führt zu einer noch gesteigerten Individualisierung der Mediennutzung, und dies im Prinzip jederzeit an jedem Ort, auf universellen Geräten. Dies bedeutet dann auch: Die alten Trennungslinien verschwinden, die herkömmliche Angebotsform des linearen Programms verliert an Bedeutung. Die neue Technikwelt vereint Töne, Bilder und Texte, und die jederzeitige Abrufbarkeit der im Netz verfügbaren Inhalte verändert grundlegend die bisherigen Haltungen des Publikums.

Daraus leitet sich eine Kernfrage ab. Nämlich: Wird mit der prinzipiellen und auch praktisch zunehmenden Abrufbarkeit von beliebigen medialen Formen in Zukunft das herkömmliche, komponierte Programm für ein Publikum noch sinnvoll sein, um möglichst vielen Bürgern einen gemeinsamen Gesprächs- und damit Verständnisraum zu bieten? Löst sich Kultur als Deutungsrahmen der Welt auf, weil die Vermittlung selbst als zwar unendlich fein gesponnenes Netz gesehen wird, aber dies mit dem unabweisbaren Nebeneffekt verbunden ist, dass es im subjektiven Erleben zerfasert?

Die Akademie der Künste hält an der Vorstellung fest, dass der Rundfunk – zumindest der öffentlich-rechtlich verfasste – sich weiterhin als Gesellschaftsforum versteht, als dienende und anstiftende Institution der Öffentlichkeit. Zwar prognostizieren manche Kommunikationswissenschaftler, dass die herkömmlichen Medien aufgrund der veränderten Technik ihre Position als Filter und Qualitätsgarant einbüßen, nicht zuletzt, weil ständig neue Akteure und Anbieter auf den neuen digitalen Plattformen erscheinen, weil Publizisten und Journalisten klassischer Schule dort oft keinen Platz mehr haben.
Doch gerade deshalb kann, soll und muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Position als seriöse publizistische Institution behalten. Denn nur eine professionelle, glaubwürdige Publizistik ist in der Lage, das individuelle, gesellschaftliche und politische Handeln überzeugend und nachvollziehbar zu beschreiben, einzuordnen und zu kommentieren und die Bedeutung, die Relevanz der Geschehnisse zu vermitteln. Es geht um das Ziel einer verlässlichen Orientierung, um das Schaffen sinnvoller Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich dabei auf einen sozialen Wandel einstellen, der mit höherer Flexibilität, verstärkter Individualisierung, einem erweiterten Wertekanon und mit hoher Mobilität verbunden ist. Dies alles bedeutet, dass sich die Art und Weise verändert, nach der sich die Kompetenzen und die Ordnungssysteme in der Gesellschaft bilden.
Der Rundfunk wird sich in dieser Situation eines allgemeinen, auch global sich vollziehenden Wandels nicht mehr auf nationalstaatliche Politik und auf das Verfassungsrecht verlassen können, sondern er muss seine Existenz und deren Berechtigung gegenüber der Gesellschaft selbst begründen. Er muss in jedem Augenblick praktisch nachweisen, dass er eine besondere Kompetenz in allen  Bereichen des Programms besitzt: von der Information über die Bildung und Unterhaltung bis zu den speziellen Kulturangeboten, wie sie ihm der Rundfunkstaatsvertrag auferlegt und abverlangt. Es geht um eine durchgehende Haltung, um eine unabdingbare Qualität, um eine uneingeschränkte publizistische und journalistische Verantwortlichkeit – gerade weil im Netz eine unüberschaubare Zahl von Angeboten aller Art kursiert, die keinerlei Kontrolle unterliegt.

Zu den Konsequenzen der Entwicklung gehört, dass der Abschied vom Massenpublikum auch den Abschied von der großen Reichweite bedeutet. Dies gilt natürlich auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der damit auch die  Aufgabe und Funktion der Integration neu bestimmen und ausfüllen muss. Der häufig als Ziel beschworene public value – also der Wert der Programme für das Gemeinwohl - muss präziser beschrieben werden, jedenfalls dann und solange, wie wir den Rundfunk als Medium der Kultur verstehen und einfordern. Diese Perspektive muss jede Diskussion aufweisen, welche nach der Zukunft der Kultur im Fernsehen und im Radio fragt. Diese Frage muss dabei zwangsläufig immer auch lauten: Welche Zukunft hat das Fernsehen als Kultur? Denn dies ist, trotz der zunehmenden Bedeutung des Internets, mittelfristig immer noch richtig: Fernsehen ist, in allen Facetten, immer noch das wichtigste Medium der Alltagskultur.
Dass es, öffentlich-rechtlich verfasst, seine im Idealfall immer gesellschaftsdienende Rolle oftmals nur unzureichend oder an manchen Stellen gar nicht ausfüllt, das wiederum ist nicht zu leugnen. Populismus, Formatierung, Verdrängung wichtiger Programme in Randzonen, Hineingleiten in eine Verflachungsspirale: so lauten einige der an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerichteten Hauptvorwürfe. Kritisiert wird eine willfährige Marktanpassung, eine inhaltlich-formale Angleichung an die kommerziell bestimmten Angebote der privaten Sender, eine Konvergenz der Haltungen.
Ideale der Konzentration, der Vielfalt, des formalen Reichtums, der hohen handwerklichen Standards, des größtmöglichen künstlerischen Spektrums werden oftmals preisgegeben, Anpassung an Marketing-Muster und Schein-Diktate des Massenerfolgs bestimmen nicht wenige Programmentscheidungen. Statt auf die individuelle produktive Auseinandersetzung mit vielfältigen, sorgfältig ausgearbeiteten Inhalten zu setzen, gilt in vielen Programmfeldern als höchstes Kriterium der Marktanteil oder auch die absolute Zuschauerzahl. Quantität ist dann ein wichtigerer Maßstab als Qualität.

Richtig ist: Solche Vorwürfe und Kritikpunkte dürfen nicht pauschal vorgetragen werden, es geht um die genaue Prüfung im Einzellfall, statt eine bloße Kritikschleife zu wiederholen. Dies gebieten auch die Anerkennung und der Respekt vor allen sorgfältig, seriös und passioniert arbeitenden Medienschaffenden. Unüberhörbar sind jedoch die uns in der Akademie immer wieder erreichenden Stimmen aus den Redaktionen, die – auch stellvertretend für alle unter einem umfassenden Quotendruck leidenden Autoren, Dramaturgen, Redakteure – Kritik an der laufenden Praxis üben und  Qualitätsmaßstäbe hartnäckig einklagen.

Gleichwohl bleibt festzuhalten: In schlichte Schwarz-Weiß-Schemata lassen sich weder die Fragen noch die Antworten zum Verhältnis Qualität und Quote und zur Beziehung der individuellen Produktivität zu den Interessen der ganz unterschiedlichen (auch ganz unterschiedlich großen) Zielgruppen einpassen. Genau hier liegen aber auch die großen Chancen – indem wir die vorhandenen Spannungen produktiv machen und fragen: Wie steht es um das Verhältnis von Kultur und Fernsehen, welche Maßstäbe sollten für Fernsehkultur gelten?

Die Akademie bietet an, diese Diskussion hier in Berlin weiterzuführen. Vor beinahe 80 Jahren, im September 1929, hatten die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste und die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft zum ersten Arbeitstreffen über „Dichtung und Rundfunk“ eingeladen. Alfred Döblin, Arnold Zweig, Theodor Däubler, der Rundfunkpionier Alfred Braun und mehr als 20 weitere Autoren, Kritiker und Regisseure hatten sich entschlossen, das neue Medium als Kulturinstrument ernst zu nehmen. An ihre Weitsicht sollten wir uns erinnern. Denn auch im Zeitalter des Übergangs vom analogen Rundfunk zu den digitalen, weltweit vernetzten und jederzeit verfügbaren audiovisuellen Medien ist es zwingend notwendig, die Debatte über deren Kulturauftrag und deren Kulturtauglichkeit fortzusetzen.


Klaus Staeck
Präsident der Akademie der Künste                                                                   4.11.2008

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