Rede von Hubertus von Amelunxen zur Eröffnung der Ausstellung "Notation" am 19. September 2008

Die geringe Wertschätzung, die der Musik zuteil wird, sei der Komplexität der Zeichen geschuldet und nicht der Kunst selbst, so Jean-Jacques Rousseau 1742 in seinem Projekt für eine neue Notenschrift. Über zwei Jahrhunderte später vermerkt György Ligeti, dass jedes musikalische Zeichensystem als ein gesellschaftliches System der Verständigung, der Kommunikation zu wirken habe. Der Eindruck mag entstehen, unsere Ausstellung „Notation. Kalkül und Form in den Künsten“ stelle die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in den Geist der Musik. Der Eindruck ist nicht ganz falsch, folgt er doch intuitiv der Frage nach Gegenwart und Vergehen, nach der Verdinglichung der Kunst und welcher Ort scheint geeigneter für eine Debatte, als eben die Akademie der Künste hier in Europa, hier in Berlin. Kein MoMA, keine Nationalgalerie, aber eine Stätte an der Fragen sich behaupten können und schnelle Antworten gemieden werden sollten.
„Alles Musizieren ist eine recherche du temps perdu“, schrieb Adorno, diese Recherche und die grundsätzliche, schöpferische und immer verwegene Dissonanz von Werk und Interpretation in allen Künsten bestimmt den Gedanken dieser Ausstellung zur Notation. Werken der Musik, der Malerei, der Choreographie, der Photographie, der Kinematographie, der Literatur und der Architektur fällt in der Ausstellung der Blick des Anderen zu, Korrespondenzen in den verschiedenen Zeichensystemen entstehen, wirken, vergehen, kehren wieder und Eindrücke des eben noch Gewesenen schwingen ins Künftige.

Seine Architektur des Philips Pavillions nannte Iannis Xenakis „une architecture de la Translation“ und nicht von ungefähr nimmt der Philips Pavillion von 1958, das wohl bedeutendste Medienkunstwerk des 20. Jahrhunderts, einen zentralen Ort in der Notation ein. Ein Kunstwerk der „elektronischen Geste“ sollte geschaffen werden und Le Corbusier, Iannis Xenakis und Edgard Varèse arbeiteten an einer Zeittaktung, einer Architektur als Metronom, dem poème électronique, das 480 Sekunden lang aus 400 die Migration des Klangs tragenden Lautsprechern die jeweils 500 Besucher beschallte. Spektakulär wurden in dieser Zeit Bilder der Menschheit und Farben der Welt auf die stürzend erhabenen Dächer, die Glissandi von Xenakis projiziert, eine Folge, wie es damals hiess, von Rhythmen, Elegien und Katastrophen. Die Architektur der Übersetzung folgte einer zutiefst humanistischen Überzeugung, deren Fundamente aber die „elektronische Geste“ bereits umordnete. Sie werden sehen, meine Damen und Herren, von welcher Bedeutung der Rhythmus der Zwischenräume für die Notation ist. Varèse sagte einmal, für die elektronischen Schaltungen sei die Eingabe ebenso wahrhaftig wie die Wiedergabe, der Raum wie das Echo und was wir glaubten gerade gehört zu haben sei der Nachhall des Künftigen.

Ich habe viel gelernt in diesen Jahren der Vorbereitung, des Denkens, Verwerfens und Empfangens, viel gelernt von den anderen Blicken und spreche meinen tief empfundenen Dank an meinen Freund Dieter Appelt aus. Baudelaire sprach einmal nach einem Louvre-Besuch davon, dass er seine Augen wie blutige Lottokugeln über die Bilder habe rollen lassen, wartend was ihm zufiele. Gemeinsam mit Angela Lammert, die nicht nur das grossartige Team führte, sondern auch Schätze wie Bilinsky und andere hub,  - mein, unser grosser Dank an Dich - , dachten wir umgekehrt den Werken Blicke zu geben und Mass auch an anderem, am Klang, am Gebauten zu nehmen. Cedric Price nannte seine Architektur des Wandels eine Notation der Zwischenräume.

Wollen wir uns an das Künftige erinnern, möchte man mit Proust sagen. Im letzten Band seiner Recherche du Temps perdu schrieb er: „Nur war eine der Voraussetzungen meines Werkes, wie ich es soeben in der Bibliothek entworfen hatte, die Vertiefung von Eindrücken, die es galt, mit dem Gedächtnis zu erneuern.“ Und er fügt hinzu: „Dieses aber war verbraucht“.  Unsere Ausstelllung will das Denken und Erinnern der Recherche fortschreiben. Wir haben dies auch im Rückgriff auf die Archive der Akademie der Künste getan, in der Überzeugung, dass in der Lesbarkeit der Archive sich die Konstellationen eines gesellschaftlich Künftigen offenbaren.
Diese Ausstellung ist Harald Szeemann gewidmet, seiner Mnemosyne, seinen Räumen des Gedächtnisses. Harry Szeemanns phänomenales Archiv im Tessin – die Kunst von 1957 bis 2003 - hat heute keinen Archeonten mehr. Hier wäre sein Ort. Und möge die Fabbrica von Harald Szeemann auch als ein Denkbild für die Akademie gelten, die Künste in und mit den Künsten zu denken, in deren Übersetzung das Bild einer offenen und menschenwürdigen Gesellschaft stünde.