Zeichen an der Wand – Joachim Walthers Zeitung für die Schönhauser Allee 71

Joachim Walthers Zeitung für die Schönhauser Allee 71

Geplant hatte er eine Reise. Von Anfang Juli bis Ende September 1970 wollte Joachim Walther mit einem Frachtschiff der Deutschen Seereederei das Mittelmeer befahren. Die Häfen von Algier, Tripolis und Alexandria sollten angelaufen werden. Aber eine Genehmigung wurde ihm verweigert.

Statt aus dem Süden berichtete er deswegen aus seinem und für sein Wohnumfeld. Mittel der Wahl war eine Wandzeitung in seinem Haus in der Schönhauser Allee 71. Von Juli bis August hängte er dort wöchentlich wechselnde Botschaften aus: Witze, Sentenzen, Montagen, Rezepte, gelahrte Zitate, Aphorismen, fingierte Agenturmeldungen – „BERLIN. (Ackerpress). neues von milli: neulich sagte milli (54) einer hausbewohnerin des vorderhauses ackerstraße 5 auf den kopf zu: du alte sau!“ –, Fotos, Gedichte, Zeichnungen, Leserbriefe, das jeweils aktuelle Theater- und Kinoprogramm. Der Auslandskorrespondent Walther informierte nicht über Afrika, vielmehr über die vertraute Fremde der Oderberger, der Schwedter und der Ackerstraße in Berlin, Hauptstadt der DDR. Seine Wandzeitung war Fortsetzung der journalistischen und literarischen Form der Vermischten Nachrichten und zugleich Persiflage und subversive Antwort auf die genormten, von einem Zuständigen bestückten Wandzeitungen, die in jedem Betrieb und manchem Mietshaus hingen.

Die sorgfältig datierten Materialien für diese Hauszeitung finden sich in Joachim Walthers Nachlass, der sich seit 2021 im Literaturarchiv der Akademie der Künste befindet. Und mit ihnen die Zeugnisse eines Schriftstellers, der nach der Wiedervereinigung auch Literaturhistoriker wurde. 1943 in Chemnitz geboren, war er von 1968 bis 1983 Lektor im Buchverlag Der Morgen. 1970 erschien sein erster Roman Sechs Tage Sylvester. Als Redakteur der Zeitschrift Temperamente wurde ihm zusammen mit der gesamten Redaktion 1978 gekündigt. Nach der Wende wurde Walther stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und publizierte das enzyklopädische Standardwerk Sicherungsbereich Literatur über Schriftsteller*innen und die Stasi, die ihn seit 1969 beobachtet und „operativ bearbeitet“ hatte. 2001 gründete er mit Ines Geipel das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ und gab zusammen mit ihr die Reihe „Die verschwiegene Bibliothek“ heraus, in der aus politischen Gründen nicht publizierte Texte erstmals zugänglich gemacht wurden.

Seine Wandzeitung dagegen war öffentlich. Urlaub machte er dann auch, im Oktober, statt am Mittelmeer an der Ostsee, auf Hiddensee. Darüber schrieb er seinen ersten Artikel für die Weltbühne: „Journal einer Nachsaison“. Hier taucht ein Satz auf, den die Bewohner*innen seines Hauses wiedererkennen konnten, weil sie ihn so ähnlich schon an der Wand gelesen hatten: „Hunde dürfen bellen. Sie bellen ihr Nachtpensum tags rückwärts.“ In einer literarischen Reportage über die Schönhauser Allee, die im Mai 1971 erschien, kommt der Satz erneut vor. Ebenso zwei andere Sätze aus seinem Aphorismenschatz: „Berlin ist ein sprachlicher Schmelztiegel, gegenwärtig werden Thüringer und Sachsen eingeschmolzen.“ Und: „Den Bäumen auf Straßen und öffentlichen Plätzen Berlins ist es strengstens untersagt, bei Altersschwäche umzufallen.“ Damit ist die Reise der Zitate aber noch nicht beendet. Die Reportage und damit auch die Sentenzen werden von Walther in seinen 1972 erschienen zweiten Roman Zwischen zwei Nächten integriert.

Auf dem Weg von der Wandzeitung über die Zeitschrift ins Buch wechseln die Sätze nicht nur ihre literarische Funktion. Auf der Reise der Selbstzitate geht auch etwas verloren. Die anarchische Freiheit einer unreglementierten Öffentlichkeit – und sei sie noch so klein, wie die der Schönhauser Allee 71 – wird durch Eingriffe von Redakteur*innen und das obligatorische „Druckgenehmigungsverfahren“ gedämpft und beschnitten. So zeigt die Wandzeitung ex negativo Walthers Lebensthema: die Verhinderung von Literatur durch die Staatsmacht.


Autor: Christoph Kapp, Mitarbeiter des Literaturarchivs der Akademie der Künste.

Erschienen in: Journal der Künste 17, Januar 2022, S. 48-49