15.7.2020, 15 Uhr

„Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken“ – Die Vorträge von Theodor W. Adorno

Theodor W. Adorno, o.J.

„An dieser Stelle kann nicht verheimlicht werden, dass den Rezensenten doch immer häufiger die Wehmut beschlich: Welches Reflexionsniveau erlaubte sich ein Intellektueller ohne Angst vor dem Vorwurf des Elitären! Sendezeiten ohne Ende! Was war alles noch möglich in Radioprogrammen, Hochschulwochen, Volkshochschulen, Studentenverbänden und sogar Verlagsveranstaltungen!“ Dies schrieb Wolfgang Matz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Vorträge 1949–1968 von Theodor W. Adorno. Die an der Akademie der Künste erarbeitete Edition ist 2019 im Suhrkamp Verlag erschienen.

Im Interview mit Bruna Della Torre de Carvalho Lima (Universidade de São Paulo) und Fernando Augusto Bee Magalhães (Universidade Estadual de Campinas) – es ist in der brasilianischen Zeitschrift Dissonância erschienen – äußert sich der Herausgeber Michael Schwarz über die Editionsarbeit.

Wie kam es zu der Idee, Adornos improvisierte Vorträge aus den Jahren zwischen 1949 und 1968 in einem Band zu versammeln? Und wie dazu, einen der Vorträge, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, auch separat zu veröffentlichen? Wie wurde die Publikation in der Öffentlichkeit aufgenommen? Und lernen wir nun einen ganz neuen Adorno kennen?

 

Bruna Della Torre und Fernando Bee: Herr Schwarz, könnten Sie zunächst einmal das herkömmliche Image umreißen, das Adorno in Deutschland hat?

Michael Schwarz: Nun, ich würde sagen, in Deutschland gab und gibt es nicht nur ein Adorno-Bild. Das Image hängt davon ab, wer es sich macht. Die sich über ihn äußern, haben oft verschiedene, teilweise widersprüchliche Vorstellungen. Es lassen sich aber Hauptzüge benennen, ich führe mal ein paar Aspekte auf: Es gibt den weltabgewandten Philosophen, der in einsamen Meditationen das „Nicht-Identische“ denkend umkreist. Oder auch den Bewohner des „Grand Hotel Abgrund“ (Georg Lukács), der sich’s wohl sein lässt in der Behaglichkeit der Negativität. Es gibt den unüberwindlich eitlen und geltungssüchtigen Selbstdarsteller, der brillieren will, der sich in Wortdrechselei gefällt, in virtuosen sprachlichen Girlanden. Es gibt den Musiktheoretiker, der neben Schönberg und der Zweiten Wiener Schule nicht viel gelten lässt. Es gibt den unerbittlichen Kritiker der aufgedunsenen Unterhaltungskultur und des musikalischen Konsumismus, den gestrengen Gegner des Kulturpopulismus und der kommerziellen Musikfabrikation – in einer Zeit, in der die globale Medienindustrie noch in den Kinderschuhen steckte. Es gibt den öffentlich engagierten Intellektuellen, den Vordenker einer Erziehung zur Mündigkeit und den Initiator der Aufarbeitung der Vergangenheit, der Stichworte zur Demokratisierung Deutschlands gegeben hat. Es gibt den Unzufriedenheits- und Unruhestifter, einen Vater der 68er-Generation, der den Geist der Revolte aussäte, aber dann in universitätspolitischen Auseinandersetzungen durch seine eigenen Schüler in Bedrängnis geriet. Das alles sind gängige Vorstellungen von Adorno. Mehr...

 

Ansprechpartner: Michael Schwarz, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Walter Benjamin Archiv