17.11.2021, 09 Uhr

„… ein tiefes Glück des Schreibens“ – Insa Wilke im Gespräch mit Gabriele Radecke anlässlich der Archiveröffnung Roger Willemsens

Roger Willemsen in Afghanistan, Kabul 2015

Insa Wilke gehörte zu den engsten Vertrauten Roger Willemsens, eines der bekanntesten und vielseitigsten Intellektuellen der Gegenwart. Nach seinem Tod übernahm die Literaturkritikerin und Moderatorin seine Nachfolge in der Programmleitung des Mannheimer Literaturfestes Lesen.Hören und wurde Mitglied des Kuratoriums der Roger Willemsen Stiftung. Bis heute kümmert sie sich um Willemsens umfangreichen und vielfältigen Nachlass, den sie 2019 der Akademie der Künste übergeben hat.

 

GABRIELE RADECKE Frau Wilke, Sie engagieren sich mit viel Verve für Willemsens Erbe: durch Veranstaltungen, durch Interviews und durch Publikationen. Ihr letztes, kurz vor seinem Tod geführtes Gespräch mit ihm haben Sie in dem Buch Der leidenschaftliche Zeitgenosse veröffentlicht, und im vergangenen Jahr haben Sie u. a. die beiden Bände Unterwegs – Vom Reisen und Willemsens Jahreszeiten herausgegeben. Wann und wie haben Sie Roger Willemsen kennengelernt?

INSA WILKE Als ich 2004 Volontärin im Literarischen Zentrum in Göttingen war. Roger Willemsen sollte damals einen Abend über Geschwindigkeit bei uns veranstalten, ich sollte einführen. Mir war Roger Willemsen damals kein Begriff, ich arbeitete mich also ein. Als ich ein Interview von ihm las, in dem er über „Glück“ sprach, kam es mir vor – das werden viele seiner Leser*innen kennen –, als formuliere da jemand das, was ich im Innersten auch gedacht habe, aber nie in Worte fassen konnte. Jedenfalls wollte ich diesem Mann auf Augenhöhe, also kritisch begegnen. Roger hat mir hinterher erzählt, dass er sich hinter der Bühne sehr amüsiert hat über meine Worte. So sei er noch nie begrüßt worden. Und das hat uns verbunden. Er hatte ja eine große Begabung zu Freundschaft, unabhängig von Alter, Herkunft und so weiter.

GR Was fasziniert Sie am meisten am Menschen Roger Willemsen?

IW Seine Empathie, seine Aufmerksamkeit. Seine Lebenslust. Als Veranstalterin, die ich auch bin, kann ich sagen: Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der oder die wie er Humor, Verständnis für andere Menschen und analytische und rhetorische Begabung verbunden hat. Ich muss aber sagen, Faszination ist das falsche Wort. Ich hab das alles sehr an ihm geliebt.

GR Sie haben mit Roger Willemsen viele Jahre zusammengearbeitet. Was haben Sie von ihm für Ihre eigene Arbeit gelernt?

IW Immer daran zu denken, dass man zu Anderen spricht. Das gilt für die Bühne wie fürs Schreiben. Ich habe irgendwann mal wegwerfend gesagt: Ist doch nicht so wichtig. Da wurde er ganz zornig und sagte: Es ist niemals egal. Er hatte einen hohen Anspruch an sich und ein enormes Ethos dem Publikum gegenüber. Er wusste, dass ihm die Leute Lebenszeit schenken, wenn sie zu einem seiner Abende kommen. Also war er ihnen auch verpflichtet. Er war allergisch gegen die Verachtung des Publikums. Auch daraus hat sich seine Medienkritik gespeist, die ja heute immer noch gültig ist. Und er war jemand, der etwas von Unterhaltung verstand! Wer den Satz sagt: „Wir müssen die Leute abholen“ – dem oder der kann man ein Buch von Roger in die Hand drücken und sagen: Damit hat er Tausende erreicht. Weil er sie ernst genommen hat.

GR Roger Willemsen war vor allem Schriftsteller. Sie haben einmal in der Süddeutschen Zeitung formuliert, dass er „ein tiefes Glück des Schreibens“ empfand. Es gab Zeiten, in denen er sein Haus kaum verließ. Dann widmete er sich seinem umfangreichen literarischen und publizistischen Werk. Verraten Sie uns etwas über seine Arbeitsweise?

IW Am Ende einer Bühnentour war er sehr erschöpft und froh, für sich sein zu können. Dann schrieb er. Über Wochen. Er war eigentlich, jetzt wundern sich einige, ein stiller Mensch. Im Inneren still. Am Ende dieser Einsiedler-Phasen freute er sich dann aber wieder darauf, unter die Leute zu kommen. Es gab beides, dieses Stille und das Gesellige. Zu seiner Arbeitsweise: Er hat immer geschrieben. Morgens um fünf Uhr saß er schon am Schreibtisch. Unterwegs hat er in seine kleinen Notizbücher gekritzelt. Ein einziges Mal hat er eines verloren, ausgerechnet in Bangkok, mit seinen Reisenotizen. Er war entsetzt darüber und am Ende dann aber schon wieder interessiert, wie sich das auf seine Arbeit an Bangkok Noir auswirken würde. Er war so neugierig auf alles in der Welt. Er hatte kein Handy, man erreichte ihn über E-Mails oder seine Assistentin Julia Wittgens. Er war konzentriert und hielt nichts von Zerstreuung. Auf der Bühne wirkte es ja oft so, als würde er seine Vorträge und Erzählungen mal eben so aus dem Ärmel schütteln. Aber er war immer akribisch vorbereitet. Auch das hing mit seinem Respekt vor dem Publikum zusammen. Er hat recherchiert, sortiert, formuliert. Und dann kam natürlich diese außerordentliche rhetorische Begabung hinzu, seine Konzentrationsfähigkeit, sein Gedächtnis.

GR Roger Willemsens Nachlass besteht aus 108 Archivkästen, 151 Aktenordnern und 2.250 audiovisuellen Materialien. Er spiegelt den außergewöhnlichen Facettenreichtum seines künstlerisch-kreativen Schaffens und enthält Werk-, Rede- und Rundfunkmanuskripte, Recherchematerial, Transkripte von Interviews und Moderationsvorbereitungen sowie Radiobeiträge und Fernsehsendungen. Hinzu kommen Tage- und Notizbücher, Taschenkalender, biografische Dokumente, Fotos und seine Korrespondenz. Sie verwalten diesen umfangreichen Nachlass und haben ihn uns im Literaturarchiv der Akademie der Künste zur Sicherung und detaillierten Erschließung anvertraut. Was hat Sie dazu bewogen, sich für unser Haus zu entscheiden?

IW Ich habe selbst für meine Doktorarbeit in Ihrem Haus mit dem Nachlass von Thomas Brasch gearbeitet. Darum weiß ich, wie groß das Verantwortungsgefühl aller Mitarbeitenden den Personen gegenüber ist, deren Vor- oder Nachlässe ihnen anvertraut werden. Es gibt auch ein ungewöhnliches Verständnis für künstlerisch arbeitende Menschen, verbunden mit Diskretion, enormen Kenntnissen und: Herzenswärme. Ich hatte das Gefühl, Sie alle werden Roger behüten und mich zugleich dabei unterstützen, sein Werk lebendig zu halten.

GR Gibt es ein Lieblingsstück aus Willemsens Besitz?

IW Er hat Teedosen, Teller, Becher, Schalen aus den 1930er Jahren gesammelt. Spritzdekor. Ich habe mich über seine Sammelleidenschaft immer lustig gemacht. Diese Dinge haben für mich aber damals schon seine Lebensfreude, seine ganze Persönlichkeit, seine Freude am Schönen und Guten gespiegelt. Und das tun sie jetzt erst recht.

GR Der Nachlass enthält auch viele Dokumente, die Einblicke in Willemsens soziales Engagement in Afghanistan geben. Ein Foto zeigt ihn zum Beispiel mit seinem Notizbuch in der Hand, umringt von seinen Gesprächspartnern, zu denen auch Kinder gehörten. 2006 wurde Roger Willemsen Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und hat sich wie kein anderer dafür eingesetzt. Wie war es dazu gekommen?

IW Er erzählt in einem seiner Texte von der Rückkehr eines älteren Freundes seiner Schwester aus Afghanistan. Das hatte eine frühe Verbindung gestiftet. Aber eigentlich war es wieder eine Freundschaft, die mit Nadia Nashir, der Vorsitzenden des Afghanischen Frauenvereins, die er als Studentin der Filmwissenschaften in München kennengelernt hat und mit der ihn eine lebenslange, innige Freundschaft verbunden hat. Und dann waren es die Menschen in Afghanistan, die ihn so beeindruckt haben.

GR Was wünschen Sie sich für die Rezeption und Pflege von Willemsens Werk? Gibt es schon Ideen für weitere Projekte?

IW Ich möchte, dass Jüngere ihn entdecken. Das tun sie auch schon. Ich weiß, dass einige, die ihn gar nicht mehr selbst kennengelernt haben, an Texten und Filmen über Roger arbeiten oder sich von ihm inspirieren lassen zum eigenen Schreiben. Ich wünsche mir, dass seine Bücher weiter gelesen werden und dass viele ihn über seine Texte neu entdecken. Ich möchte gemeinsam mit Markus Peichl seine 0137-Sendungen öffentlich machen. Und dann werden wir schauen, was jetzt mit Ihrer Hilfe und durch Maren Horns Arbeit, die den Nachlass von Roger für das Archiv erschlossen hat, an Projekten möglich werden wird.

GR Vielen Dank für das Gespräch!

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INSA WILKE zählt zu den einflussreichsten und beliebtesten deutschen Literaturkritiker*innen. Seit 2006 konzipiert und moderiert sie Kulturveranstaltungen. Sie gehört zum Team des Literaturmagazins Gutenbergs Welt (WDR3) sowie des lesenswert quartetts (SWR Fernsehen) und ist Jury-Vorsitzende des Ingeborg-Bachmann-Preises sowie des Preises der Leipziger Buchmesse. Literaturkritiken schreibt sie u. a. für die Süddeutsche Zeitung. 2009 wurde sie über Thomas Brasch promoviert und 2014 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.

GABRIELE RADECKE ist Literatur- und Editionswissenschaftlerin und leitet das Literaturarchiv der Akademie der Künste.

 

Das Roger-Willemsen-Archiv wird am 18. November 2021 mit der Veranstaltung „Ein Mensch – Ein Ereignis – Ein Glück“ eröffnet. Im Mittelpunkt steht ein Gespräch, das Insa Wilke mit Roger Willemsens Weggefährt*innen und Freund*innen führt: mit dem Schauspieler Matthias Brandt, dem Lektor Jürgen Hosemann, der Vorsitzenden des Afghanischen Frauenvereins Nadia Nashir sowie der Vorständin der Roger Willemsen Stiftung Julia Wittgens. In einer Vitrinenausstellung werden erstmals Objekte aus seinem Nachlass präsentiert. Die S. Fischer Stiftung unterstützt die Erschließung des Roger-Willemsen-Nachlasses; die Ergebnisse werden sukzessive in der Archivdatenbank zugänglich gemacht.

Teedosen, Spritzdekor, aus der Sammlung von Roger Willemsen