
Memories in Music Brasilien – Europa
Live-Performance Dach Hatifnatten: Pfiff (2021, UA, ca. 15 min), mit Ute Wassermann und Sabine Vogel
Filmproduktion Thomas Kessler: Dialoge (1977/2021, UA, ca. 17 min), mit Ensemble Modern und Silvia Ocougne
Live-Performance Silvia Ocougne: Improvisation (ca. 15 min) auf Smetak-Instrumenten
Filmproduktion Marco Scarassatti / Luiz Pretti: Anestesia von Walter Smetak (2021, UA, 22 min), mit Ensemble GILU
Live-Performance Guilherme Vaz: Sinfonia dos Ares (2002, 60 min), realisiert als Installation mit mechanischen Maracas von Livio Tragtenberg
Hatifnatten: Pfiff (2021, UA)
Ute Wassermann und Sabine Vogel, Stimme, Flöten, Vogelpfeifen
Hatifnatten pfeifen vom Dach der Akademie der Künste. Ihr Instrumentarium besteht aus Stimme, Flöten und Vogelpfeifen. Sie kommunizieren mit Trillern, Atemrauschen, Clicks und Drones. Wie bestimmte Tierarten , zum Beispiel Nachtigallen und Delfine weben sie erinnerte Liedfragmente und neu entdeckte Motive zu einem akustischen Raum.
Brasilien – Europa
Das Festival macht bekannt mit Guilherme Vaz und Walter Smetak, den beiden zentralen Figuren der ersten Generation brasilianischer Klangkunst zwischen europäischer und indigener Ästhetik. Walter Smetaks meist grafische und farbige Partituren, darunter die hier als Filmscore interpretierte Anestesia von 1971, inkorporieren wie seine über 100 erfundenen Musik-Instrumente Bewegungsformen und Symbole, die beeinflusst sind von diversen kulturellen und spirituellen Praktiken in Salvador de Bahia. Sinfonia dos ares ist eine der „long durational“ Studio-Kompositionen von Guilherme Vaz, die durch den intensiven, über 20-jährigen Kontakt mit indigenen Klangvorstellungen im Westen Brasiliens geprägt sind, in der Akademie präsentiert als Installation mit mechanisch bewegten Maracas. Bereits aus den 1970er Jahren stammt die Kompositionsidee von Thomas Kessler, zwei unterschiedliche Musiktraditionen über Live-Elektronik in einen gleichwertigen Klang-Dialog zu stellen. Zu Gehör kommt eine neue Version mit westlichen Instrumenten und erfundenen Instrumenten Smetaks, dessen Kosmos Kessler Ende der 1990er Jahre kennenlernte. Silvia Ocougne bespielt live einige Smetak-Instrumente, darunter Ronda, Três Sois, Borés sowie sechs im Sinne Smetaks mikrotonal gestimmte Gitarren.
Thomas Kessler: Dialoge (1977/2021, UA), neue Fassung für 2 europäische Instrumente, Smetak-Instrumente und Vocoder
Filmproduktion
mit Ensemble Modern (Eva Böcker, Violoncello; Jagdish Mistry, Smetak-Instrumente; Dietmar Wiesner, Flöte); Silvia Ocougne, Smetak-Instrumente
Sébastien Vaillancourt: Entwicklung Vocoder, Tonmeister
Jörg Surrey: Ton
Susanne Elgeti: Film
mit freundlicher Unterstützung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia
Dank an Ensemble Modern für die Leihgabe der Smetak-Instrumente
„Für die Aufführung in der Akademie der Künste in Berlin sind nun den europäischen Instrumenten zwei Instrumente aus dem Fundus des brasilianischen Komponisten Walter Smetak gegenübergestellt. Während eines Aufenthalts in Brasilien haben mich dort lebende Musiker auf diesen ursprünglich aus der Schweiz stammenden Komponisten aufmerksam gemacht und gleichzeitig betont, dass er „ihr“ Schweizer sei. Er war in frühen Jahren als Solocellist im Sinfonieorchester São Paulo engagiert, verließ diese Stelle jedoch bald, um sich vermehrt der brasilianischen Musik zu widmen und darin experimentell nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu forschen. Alle Komponisten kannten Walter Smetak und nannten ihn stolz ihren brasilianischen John Cage. Meine Neugier wurde angestachelt durch die Mitteilung, dass in der Bibliothek von Salvador de Bahia viele Tonaufnahmen gelagert seien. Ich erhielt die Erlaubnis, diese zu sehen und man brachte mir eine vom Klima zersetzte, feuchte Kiste mit vielen Tonbandspulen, auf denen zwischen den Bändern schon gewisse Tierchen als Vorboten des herannahenden Urwaldes herumkrochen. Ich konnte ein Jahr später alle diese Tonbandaufnahmen in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musikwissenschaftler Sérgio Freire digitalisieren. Wir entdeckten darauf auch zwei rein elektronische Kompositionen, die ich teilweise in den Vocodern verwendet habe.“ Thomas Kessler
Silvia Ocougne: Improvisation (2021, UA)
für Smetak-Instrumente (Ronda, Três Sois, Borés sowie sechs mikrotonal gestimmte Gitarren)
Walter Smetak: Anestesia (1971) für 10 Musiker*innen
realisiert als Filmpartitur von Marco Scarassatti und Luiz Pretti
Filmproduktion
Marco Scarassatti: Konzept, musikalische Leitung
Mit Musikern des freien Improvisationsensembles GILU der Universidade Federal de Minas Gerais (UFMG): Daniel Tamietti, Violoncello; Marc Wallach, Gitarre; João Viana, E-Gitarre; Vanessa Aiseó, Posaune; Fefo, Trompete; Pedro Gilberto, Gitarre; Marcos Alves, Percussion; Davi Gazzaniga, Klavier; Silas Prado, Flöte; Caio Campos, E-Bass
Caio Campos: Visuals in openFrameworks
Marco Scarassatti und João Viana, Tonmischung und Schnitt
Luiz Pretti: Bildschnitt
Nutzung der Originalpartitur von Walter Smetak mit freundlicher Genehmigung der Familie Smetak, Salvador de Bahia
„Anestesia ist ein Werk von Walter Smetak, das 1971 zu Ehren des gerade verstorbenen Komponisten und Arztes Milton Gomes komponiert wurde. Milton Gomes war wie Smetak Mitglied der 1966 gegründeten Grupo de Compositores da Bahia und hatte 1969 das Stück Sacred Mountain für einen von Smetak erfundenen Satz von Instrumenten geschrieben.
Ursprünglich ist Anestesia eine grafische Partitur, die für 10 chirurgische Instrumente „nach freier Auswahl des kompetenten Interpreten“ komponiert wurde. Auf dem Umschlag der Partitur fügt Smetak hinzu: „eine Nadelung, die 22 Effekte verursacht; symptomatische Übersetzung von Formen und Nicht-Formen in Klang; Improvisation, die durch informelle Schemata geleitet wird“. Unter seiner Unterschrift am Ende des Umschlags empfiehlt Smetak, die Strukturierung der Partitur zu durchbrechen, „den Arzt vom Patienten, den Musiker von der Partitur, den Dirigenten vom Orchester zu befreien“.
Fünfzig Jahre später kehrt Anestesia als chirurgischer Eingriff aus der Ferne zurück, diesmal in einer Interpretation, in der, Smetaks Empfehlung folgend, ein paradigmatischer Wechsel im Stück stattfindet. Die 10 chirurgischen Instrumente werden nicht von den zuständigen Interpret*innen ausgewählt. Dieses Mal werden die Musiker*innen, 10 chirurgische Instrumentalist*innen, von den kompetenten musikalischen Instrumenten ausgewählt, um eine Filmpartitur mit 22-minütiger Dauer zu schaffen.
Die Idee war es, aus den grafischen Angaben von Anestesia eine Filmpartitur zu kreieren, in der die Originalseiten und -grafiken mit den Konturen der Musikinstrumente, den Körpern und Gesten der Musiker*innen bei der Interpretation verschmelzen und der Originalpartitur Bewegung, Klangfülle, Symbolik und Visualität verleihen, sodass sie auch von anderen Musiker*innengruppen und Künstler*innen interpretiert werden kann.“ (Marco Scarassatti)
Guilherme Vaz: Sinfonia dos Ares (2002) für Trompete, Fagott, 2 Kontrabässe, 6 Maracas
Realisiert als Vierkanal-Installation mit mechanisch betriebenen indigenen Maracas
Lívio Tragtenberg: Konzept, musikalische Leitung
Erick Ariga, Fagott; Emerson Boy, Trompete; Cleber Castro, Kontrabass; Walter Muller, Kontrabass
Marco Scarassatti: Konzept mechanische Maracas
Sebastian Schlemminger: Entwicklung und Bau der mechanischen Maracas
Die Maracas wurden gefertigt und zur Verfügung stellt von der indigenen Gesellschaft der Pataxó.
Sinfonia dos Ares ist eine Komposition von Guilherme Vaz (1948–2018), die auf brasilianischen indigenen Klangwelten basiert. Sie ist der vierte Teil einer klanglichen Annäherung an die indigene Kosmogonie der vier Grundelemente Wasser, Feuer, Luft und Erde. Die schwer mit Worten zu beschreibende Klangwelt inkorporiert eine offene Zeitvorstellung, räumliche Tiefe, den unverwechselbaren Klang indigener Maracas und das Rauschen von Wind.
Von Guilherme Vaz als Studio-Komposition produziert, realisierte der Komponist und musikalische Leiter Lívio Tragtenberg 2017 in São Paulo nach intensivem Austausch mit Guilherme Vaz erstmalig eine Live-Aufführung des Stücks. Die Komposition erfährt nun eine weitere Transformation zur Installation. Die mechanisch gesteuerten indigenen Maracas greifen eine lange Tradition mechanischer und kinetischer selbstgebauter Musikinstrumente in Brasilien auf.