Wir Kleinbürger!, Bizarre und Day by Day

Im zentralen Raum der Ausstellung ist die zehnteilige Werkgruppe Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen von 1974–1976 zu sehen. Die zehn Papierarbeiten waren lange Zeit vergessen, bis eine dreiteilige Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle von 2009 bis 2010 den Werkkomplex wiederentdeckte. Damit wurde das Kleinbürger-Projekt zur letzten großen Ausstellung zu Lebzeiten des Künstlers. Als Erinnerung an die wunderbare Zusammenarbeit mit Sigmar Polke wird diese ungewöhnliche Werkgruppe in der Akademie der Künste im Rahmen der Hommage noch einmal gezeigt – erweitert um einige neu entdeckte Arbeiten und Materialien.
Das raumgreifende Ensemble markiert einen Wendepunkt im Schaffen des Künstlers. Hatte Sigmar Polke in den Rasterbildern und dem Kapitalistischen Realismus der 1960er Jahre die Lebenswelt der Wirtschaftswunderzeit mit viel Ironie analysiert, kam es in der folgenden Dekade zur Attacke auf gesellschaftliche Normen. Nicht allein in der Kunst, sondern auch im eigenen Leben wurden mit humorvoller Provokation, teils auch beißendem Spott, die Grenzen des vermeintlich guten Geschmacks überschritten – auf der Suche nach Alternativen zum (klein-)bürgerlichen Dasein.

Die zehn großformatigen Gouachen auf Papier verdanken ihren Titel Hans Magnus Enzensbergers Essay über Die Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums aus dem Jahr 1976. In den einzelnen Tableaux durchdringen und überlagern sich eine Vielfalt von Figuren, Spuren, Zeichen und Zitaten, aus Politik, Populärkultur, Ethnologie und der Geschichte der Kunst. Wie in seinem Frühwerk projizierte der Künstler gedruckte Vorlagen und übertrug diese von Hand auf die Bildträger. Polke favorisierte in den siebziger Jahren jedoch Bilder aus internationalen Underground-Magazinen und Comic-Sammelbänden wie Actuel, MAD, Brummbär-Comix oder dem indizierten Anarchist Cookbook. Auf diesem Weg entstand ein Panorama der von Hippietum, Proto-Punk, Frauenbewegung und Terrorismus geprägten Zeit. In einer Vielzahl von Zeichen und Figuren werden Geschichtsbilder karikiert, überzogene politische Gesten oder autoritär vorgetragene Ideologien als Peinlichkeit entlarvt und soziale Realitäten reflektiert.

Mit dem Kleinbürger-Ensemble rücken die politischen Aspekte der Kunst von Sigmar Polke in den Blick. Eines der anschaulichsten Zeugnisse dieser Auseinandersetzung mit politischen Themen der Zeit ist die gemeinsam mit Achim Duchow, Astrid Heibach und Katharina Steffen zusammengestellte Künstlerzeitung Day by Day... They Take Some Brain Away. Sie entstand 1975 anlässlich der Biennale von São Paulo. In einer wilden Mischung aus Sex, Revolution und Sensation wird die Härte der damaligen politischen Kämpfe präsentiert: Linker Befreiungspathos trifft bei Polke & Co. auf die Männerfantasien der bürgerlichen Presse. Auch die Fotografien der Wahlplakate für das Künstlerbuch Bizarre machen verdrängte Wünsche und Ängste sichtbar, insbesondere der alltägliche Faschismus in der damals immer noch jungen BRD.

Dietmar Rübel