Rede von Matthias Flügge zur Eröffnung der Ausstellung

Meine Damen und Herren,
wir leben gerade so dahin in einer Zeit, in der allerorten der sogenannten Revolution in der sogenannten ehemaligen DDR gedacht wird. Ausstellungen, Festivals, Programme überstürzen einander, die Meinungsforscher grasen die öffentlichen  Plätze ab mit der die Massen erregenden Frage, war die sogenannte ehemalige DDR ein Unrechtsstaat oder war sie nur eine hilflose Ansammlung hilfloser Opfer eines poststalinistischen Terroregimes? Politiker, die im Osten Wahlen gewinnen wollen, erzählen von den beeindruckenden Lebensleistungen der Eingeborenen, die ja für das alles nichts konnten, und Stasi-Gedenkstättenleiter, die ihre Budgets nicht gekürzt sehen wollen, beschwören die absolute Furchtbarkeit des Unterdrückungsstaates in Talkshows und Privataudienzen bei den Mittelgebern. Sentimentale Kostümfilme, die ihre herbeikonstruierten Stories als Wirklichkeit vermarkten, werden preisgekrönt und bestimmen das Bild der Nachgeborenen von einer widersprüchlichen, in kein Schwarz-Weiß-Raster passenden sozialen Realität. Der Kampf um die Deutungshoheit über den Osten, den wir schon vor 20 Jahren nur amüsiert betrachten konnten, wird heute offenbar härter geführt denn je. Ein bißchen absurd ist das schon.
Was sollten wir also tun, um unseren Teil zu dem im Grunde höchst erfreulichen Jubiläum beizutragen?
Eine Fotografie-Ausstellung, wie S. Bergemann sie vorschlug, lag nahe, schließlich war die Fotografie im Osten die meist agile und vielleicht auch meist authentische Kunstform, weil sie sich aufgrund ihrer Produktionsbedingungen am leichtesten der Kontrolle entziehen konnte, und auch, weil das Wirklichkeitsversprechen der Fotografie damals zwar schon desavouiert aber längst noch nicht so tief gebrochen war, wie jetzt, im digitalen Zeitalter. Auch konnte man Bilder, von denen man wußte, sie würden in den offiziellen Medien nie gedruckt werden, als Postkarten verschicken, als Grafiken verteilen oder in kleinen Ausstellungen zeigen.
Die Fotografie im Osten, das haben etliche Ausstellungen der jüngsten Zeit bewiesen, war lange vor den achtziger Jahren in ihren besten Leistungen sozusagen auf Weltniveau und das ist ausnahmsweise mal keine Übertreibung.
Aber wir wollten hier keine Retrospektive der großen Namen, sondern den Blick vor allem auf die damals junge Generation lenken. Es sind vier Diplomarbeiten in dieser Ausstellung, was auch für den hohen Rang der fotografischen Ausbildung in der DDR spricht. Mit den 1980er Jahren trat eine Generation auf den Plan, die die Fotografie als eigenständige Kunstform verstand und sie aus dem institutionell gefestigten Dasein in den „angewandten Bereichen“ der Kunst endgültig erlöste. Das geschah parallel zu anderen Kunstformen, der Literatur, Malerei und Musik vor allem, in denen sich eine andere, subjektiv-ausdrucksstarke Sensibilität entwickelte, die eine andere, distanziertere Verbindung mit dem Leben suchte.
Die zehn Jahre, aus denen wir hier Beispiele zeigen, waren so etwas wie die Inkubationszeit der Wende. Sie spielte sich vor allem in den Köpfen ab. Den eingefrorenen Zuständen wurde mit exzessiver Lebensäußerung begegnet. Der stagnierenden historischen Großerzählung wurden Parallelerzählungen entgegengesetzt, die heute oft als privat anmuten mögen, wenn man vergißt, daß das Private nie wieder so politisch und öffentlich war wie in den letzten Jahren der DDR. Dem Einzelbild als Kosmos einer Vielzahl von Tiefenschichten der Bedeutung und Referenz wurden konzeptuelle Verfahren der Kunst hinzugewonnen und das fotografische Bild, das die Theorie längst dekonstruiert hatte, wurde nun auch in der Praxis analytischer Kritik unterzogen. Das geschah parallel zu internationalen Entwicklungen.
Der technologische Rückstand der DDR hat sich auf die hohe Kultur der Schwarz-Weiß-Fotografie nie hinderlich ausgewirkt. Eher im Gegenteil: Er führte zu einer Konzentration, die bei den meisten der hier Beteiligten, bis heute anhält. Und daß schwarz weiß nichts mit Grau zu tun hat, sondern wunderbarste Farbigkeit sein kann, muß ich Ihnen nicht sagen.
Von all dem kann man hier etwas sehen. Eine Ausstellung ist wie ein Bild - ein Organismus, der in mehreren, teils sogar widerstreitenden Ebenen wahrgenommen werden kann und soll.
Was wir hier wollten, ist recht einfach gesagt: Keine Vollständigkeit, keinen neuen „Kanon“, erst recht kein verbindliches Urteil über den Osten, sondern wir wollten zeigen, wie Fotografen diese Zeit wahrgenommen haben, in welche Beziehungen sie sich zu den Menschen auf den „Porträts und Szenen“ setzten, die ja die mehr oder minder aktiven Protagonisten, zumindest die Zeugen der immer deutlicher heraufdämmernden Veränderungen waren. Und wie diese Menschen darauf reagierten, was für ein Bild von sich sie zu geben bereit waren.
Fotografie, das behaupte ich hier mal ganz unbefangen, war im Osten eine der lebendigsten Formen der Kommunikation zwischen den Menschen. Das gilt nicht nur für die Profis und nicht nur für die DDR.
A propos Kommunikation: Daß Thomas Heise und ich hier zusammenarbeiten konnten, war ein Glücksfall, wir mußten ein paar Kompromisse machen, wie immer, wenn geschwisterliche Medien um die Aufmerksamkeit und Liebe des Publikums buhlen. Heises „Material“, zu dem er gleich selbst sprechen wird, gibt dem ganzen einen so noch nicht gesehenen Aspekt und auch so etwas wie ein Fundament. Wir danken Volker Braun, daß er uns seinen Stücktitel von 1982 zur – sozusagen – hermeneutischen Translokation überlassen hat und wir danken allen beteiligten Künstlern, die, wo noch verfügbar, uns mit Originalabzügen ihrer Arbeiten unterstützt haben.
Ich möchte nicht aufhören, ohne allen Kolleginnen der Akademie herzlich gedankt zu haben, vor allem Christa Hartwig, Simone Schmaus, Julia Bernhard, Barb Kirkamm, Christina Meyer und Caro Rehberg, der, als wir über einem möglichen Titel für das Projekt brüteten, Volker Braus Stück in den Sinn kam.