Bildmotiv nach Filmstill aus der Bayreuther Lohengrin Inszenierung von Hans Neuenfels © Björn Verloh

ANDREAS HOMOKI

DAS WERK IST OFT KLÜGER ALS SEIN AUTOR



Ich sehe in Wagner einen großartigen Geschichtenerzähler mit einem beeindruckenden Instinkt für dramatische Situationen und einer immensen Phantasie bei der Erfindung seiner Figuren. Seine Themen zielen immer auf archetypische Problemstellungen wie das Verhältnis zwischen Mann und Frau – hier lässt seine künstlerische Beschreibung bereits psychologische Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts vorausahnen.
Aber am wichtigsten erscheint mir, und darin zeigt sich eben der geniale Theatermann, dass Wagner seine Ideen nie als trockene Ansprachen oder papierne Allegorien vorträgt, sondern seine Stücke immer vom Theater her erfindet. Das heißt, er hat nicht zuerst einen philosophischen Gedanken, den er dann in den passenden Stoff kleidet, um ihn so an das Publikum zu vermitteln, sondern es ist immer die Vision eines packenden Bühnenvorgangs, die ihn inspiriert und in dem er dann erst nach und nach den möglichen politischen, philosophischen oder ästhetischen Sinn findet. Und nur über diese Vorgänge, nur über das theatralische Geschehen also (das sich selbstverständlich in der spannungsvollen Einheit von Text, Musik und Aktion verwirklicht), vermittelt sich seine Botschaft, und nur aus diesen Vorgängen lässt sie sich entnehmen.Wagners Werke sind also für jeden, der dem Theater aufgeschlossen gegenübersteht, ganz leicht verständlich, man darf als Regisseur oder Interpret nur nicht den Fehler machen, die Stücke mit allzu abgehobenen Gedankengebäuden zu überfrachten.
Ein wichtiges thematisches Leitmotiv ist die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft, in der er lebt, meist exemplifiziert an der Figur des Künstlers als konsequentestem Verfechter eines individuellen Freiheitswillens. Das ist nicht etwa einfach eine megalomanische Selbststilisierung, sondern die Kunst steht bei Wagner auch für die Zukunft. In dem oft missinterpretierten Schlussgesang des Volkes in den Meistersingern heißt es: "Ehrt Eure deutschen Meister, dann bannt Ihr gute Geister! Und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst, zerging’ in Dunst das Heil’ge Röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!" Und das bedeutet nicht, dass deutsche Kunst heilig wäre vor aller anderen Kunst, sondern dass die Kunst wichtiger ist als der Staat: "Lass den Staat vor die Hunde gehen. Hauptsache wir wissen, wer wir sind und was unsere Kunst ist!" Das ist gleichermaßen ein Bekenntnis zur Wahrung der kulturellen Identität und eine Warnung vor staatlicher Großmannssucht. Und da ist mir Wagner sehr nahe. Es mag sein, dass seine Eigeninterpretationen mitunter anders aussehen, aber das Werk ist bekanntlich oft klüger als sein Autor. Das ist ja das Faszinierende an der Kunst. Sonst könnten wir auch auf sie verzichten.
Andreas Homoki, 2012




Foto: Die Meistersinger von Nürnberg, 2010 Komische
Oper Berlin (Inszenierung Andreas Homoki, Bühnenbild
Frank Philipp Schlößmann) © Monika Rittershaus



ANDREAS HOMOKI
Regisseur, 1960 als Sohn einer ungarischen Musikerfamilie in Marl geboren, aufgewachsen in Bremen, Studium der Schulmusik und Germanistik in Berlin, bereits während seines Studiums Assistenzen bei Harry Kupfer, 1987–1993 Regieassistent an der Oper Köln, seit 1988 erste Regiearbeiten im Rahmen einer Lehrtätigkeit an der Opernschule der Kölner Hochschule für Musik. Seine internationale Karriere begann 1992 mit einer Inszenierung von Richard Strauss’ Frau ohne Schatten in Genf, seit 1993 inszenierte er an zahlreichen Opernhäusern in Deutschland und Europa sowie in Tokio, 2002 Chefregisseur und 2003–2012 Intendant der Komischen Oper Berlin, seit der Spielzeit 2012/13 Intendant des Opernhauses Zürich.Mitglied der Akademie der Künste seit 1999.
Wagner-Inszenierungen: Tristan und Isolde, 1995 Staatstheater Wiesbaden; Tannhäuser, 2004 Théâtre du Châtelet, Paris; Die Meistersinger von Nürnberg, 2010 Komische Oper Berlin; Der Fliegende Holländer, 2012 Opernhaus Zürich



In der Ausstellung
● Die Meistersinger von Nürnberg, Bilddokumentation von Franck Evin
Videogespräch
● Bühnenbildmodelle