18.9.2012, 13 Uhr

Die Chimäre der Information - Wie werden wir informiert?

Beiträge zum Symposium der Sektion Film- und Medienkunst (14./15.09.2012)

Durch die rasanten Veränderungen der Medienlandschaft erreichen uns über immer mehr Kanäle immer mehr Informationen. Ein zweitägiges Symposion über die Rolle des Journalismus in der Informationsgesellschaft widmete sich in Vorträgen und Gesprächen der Frage, inwiefern diese Revolution überhaupt zu mehr Informiertheit und Wissen führt. In lockerer Folge veröffentlichen wir im Blog Beiträge des Symposiums.


Einige Überlegungen zur Einstimmung
von Jutta Brückner, Filmemacherin, Direktorin der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste

 

Wir leben im Zeitalter der Information. Weltweite Nachrichten erreichen uns im Radio im Halbstundentakt, im Internet im Minutentakt. Sind wir dadurch jetzt besser informiert? Können wir unsere Situation und die der Welt besser beurteilen?
Was ist  heute, in einer Zeit, in der die Information um uns explodiert, Information? Deshalb geht es uns in dieser kleinen Tagung um eine philosophische Klärung und eine Bestandsaufnahme.

Wenn unsere öffentlich-rechtlichen Anstalten stolz für sich werben, dann tun sie es mit den Sätzen, dass sie unter allen Sendern die sind, denen die Informationskompetenz zugesprochen wird. Die Tagesschau und – mit Abstrichen –  Heute werden immer noch als die vertrauenswürdigsten Informationsmedien angesehen. Das heißt: man glaubt ihnen!  Und hier haben wir schon einen der vielen Widersprüche und Doppelbödigkeiten, die wir in den beiden Tagen  dieses kleinen Kongresses aufspüren wollen: Der Status der Information hängt daran, dass ihr geglaubt wird! Aber wenn diese Information, wie wir einmal spielerisch behaupten,  eine Chimäre sein sollte, was glaubt man dann? Die antike Chimäre war ein feuerspeiendes Mischwesen mit einem Löwenkopf, einem Ziegenkopf und einem Schlangenkopf, der gleichzeitig ihr Schwanz war. Wir wollen versuchen, diese verschiedenen Köpfe der nicht ungefährlichen Tiere (zumindest gilt das für den Löwen und die Schlange) genauer kennenzulernen.

 

Dass Information nicht mehr das ist, was sie noch im 20. Jahrhundert war, als der Aufstieg der Informationsmedien begann, ist uns bewusst. Mit den technischen Möglichkeiten hat sich die Information vermehrt und auch verändert. Ist dieses Wachstum gutartig oder krebsartig? Ist es unter den veränderten Bedingungen der Netzgesellschaft etwas, dem man zumindest das Bemühen um Objektivität zusprechen kann? Ist es noch das, was Information ursprünglich gewesen ist: ein politisches Instrument gegen das Arkanum der Fürsten, ein Mittel, ein Werkzeug der Findung und Verbreitung von Wahrheit?
Auf diese Frage antworten viele Menschen heute mit Nein. Sie fühlen sich in einer Schere zwischen einer scheinbaren Über- und einer realen Uninformiertheit. Sie fühlen sich verloren in einer Überfülle von nachrichtlichen Reizen, hilflos ausgeliefert der Reizüberflutung einer vernetzten Kultur, die man nicht bewältigen oder strukturieren kann. Wie haushaltet ein anteilnehmendes Subjekt mit seiner Aufmerksamkeit? Was nimmt es wahr? Wen nimmt es wahr? Wie wird es wahrgenommen? Viele Menschen misstrauen den Informationen, weil sie ( zu Recht ) davon ausgehen, dass sie parteiisch oder interessegeleitet sind, oder sie glauben, dass die wirklich wichtigen vor ihnen versteckt werden. Aber kann man nicht heute alles wissen, wenn man sich die Mühe gibt, es zu suchen?

Die These unseres ersten Redners Byung–Chul Han ist, dass die Informationsrevolution nicht zu mehr Informiertheit und Wissen führt,  sondern neue Formen von Intransparenz produziert. Die viel geforderte Transparenz und ihre scheinbare Einlösung durch die Mitteilung von Millionen von Details führe zu einer Transparenz des Immergleichen.  Eine „totale Ausleuchtung“ bedeute eine „besondere Art seelischen Burnouts“ und eine radikal vertretene Transparenz lähme das politische Leben einer Gesellschaft nachhaltig. Transparenz und Offenheit sind die Maximen der globalisierten Welt. Je mehr Information verfügbar ist, umso leichter ist es aber, unangenehmer Information aus dem Weg zu gehen.  Das führe zu einem Bedeutungsverlust von Information selbst. Was ist noch Information, wenn alles Information ist? Byung–Chul Han vertritt die sehr diskutierenswerte These, dass die Gewalt von heute nicht so sehr vom Antagonismus des Dissenses sondern eher vom Konformismus des Konsenses herrühre.  Bei der Suche nach den Informationen, die den Konsens, diese Summe des Identischen, einmal nicht bestätigen, gerät man dann sehr schnell in den Bereich der Verschwörungstheorien, die behaupten, die wahren Gründe und die verborgenen Machinationen aufzudecken, die Strippenzieher, die dunklen Gestalten, die unser Schicksal im Geheimen und Verborgenen bestimmen, namhaft zu machen und scheinbar dafür auch Belege liefern.

 

Unsere Informationsgesellschaft ist nicht denkbar ohne das fotografische Bild. Wir haben das Begehren, uns von Bildern faszinieren zu lassen. Bilder scheinen der stärkste Beweis dafür zu sein, dass es Wirklichkeit gibt, da draußen irgendwo, wo wir gerade nicht sind, und dass uns von dieser Wirklichkeit die Wahrheit bildlich gezeigt wird. Aber schon die ersten Bilder dieser neuen Kunst der Fotografie zeigten nicht nur Bilder, sondern auch Trugbilder, scheinbar anwesende Tote oder Geister. Warum glauben wir also den Bildern wider besseres Wissen? Darüber wird sich Jana Seehusen Gedanken machen. Sie stellt die Frage nach dem Verhältnis von Glauben, Wissen und Sichtbarkeit, sie untersucht Wirklichkeitskonstruktionen und Strukturen und Politiken der Ästhetik medial inszenierter Bildwirklichkeiten. Was bedeutet unsere heutige Hypervisibilität für die Frage nach der Information? Wie ist in ihr das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion? Jana Seehusen entwickelt ihre Gedanken aus der These heraus, dass Bilder – und im übrigen gilt ähnliches für Texte – heute nicht mehr wahr sein müssen. Es genügt, eine hypothetische Wahrheit zu erzeugen. Mit einer leichten Verschiebung könnte man auch sagen: es reicht, die Wahrheit zu performen.

 

Das populärste Medium in Deutschland heißt: Bild. Und der Slogan, mit dem es augenblicklich wirbt, heißt:  „Bild Dir Deine Meinung“. Geschickt ist damit die Behauptung verbunden, dass das, was dieses Medium liefert, nichts anderes ist als eine neutrale Information. Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Wir wollen uns hier nicht mit der Bild beschäftigen, das haben schon andere sehr ausführlich und analytisch gemacht. „Bild Dir Deine Meinung“, dieser Satz führt uns aber noch einmal darauf, wofür Information einmal gestanden hat: Rohstoff zu sein für das Erarbeiten einer eigenen Meinung. Früher hieß dieser Rohstoff: Nachrichten.

 

Und das ist das Thema von Georg Seeßlen. Sein Beitrag wird sich grundsätzlich mit der Frage beschäftigen,  was eine Nachricht ist. Dabei geht er aus von einer trivialen Aussage, die aber zugleich apokalyptisch ist. Wir alle wissen, dass die progressive Ökonomisierung und Privatisierung dazu führt, dass letztlich jede Nachricht nichts anderes ist als der Köder für das eigentliche Ziel der Inhaber des Mediums, nämlich Geld zu verdienen. Aber sie besagt eben auch – und hier kommt der apokalyptische Zungenschlag –, dass es eine freie Meinungsäußerung nur noch theoretisch und vor allen Dingen außerhalb der Mainstream-Kanäle gibt. Wir „wissen“ also, dass wir in den Nachrichten weder die Wahrheit erfahren noch belogen werden, sondern das hören und sehen, wovon die Erzeuger der Nachrichten glauben, dass wir es hören oder sehen wollen. Die Vertreter der öffentlich-rechtlichen Anstalten sprechen gern davon, dass man die Zuschauer da abholen müsse, wo sie stehen. Das ist dieselbe Haltung, aber dieses Mal mit pädagogischem Zungenschlag. Das Problem ist, dass man die, die man abholen will mit den Angeboten, deren Verständnis man ihnen zutraut, meistens dann da auch stehen lässt, wo sie eben stehen. Das gleiche gilt auch für die großen Medienkonzerne und die wirtschaftlichen Kommunikationsunternehmen. Ihre Währung ist die Aufmerksamkeitsökonomie der User und ihr Interesse besteht darin, diese in ihren eigenen Interessen zu bestärken und zu zementieren, denn nur so werden sie berechenbar.  Facebook hat die Evaluierung der User-Interessen gleich dem Nutzer überlassen, der mit der Funktion like oder like not bekannt gibt, was von dem Immergleichen er oder sie immerwährend bevorzugt. Damit verengt sich die Überfülle auf wenige Codes. Und deren Vernetzung ist eine zweite Form der Pressekonzentration neben der ökonomischen. Auch öffentlich rechtliche Journalisten arbeiten in diesem Super-Code, der unter anderem sehr genau vorschreibt, wo die Grenzen der Kritik und wo die Unkritisierbaren und auch das Unkritisierbare liegen. Georg Seeßlen fragt nach den Strukturen der Postdemokratie, die ja eine  hysterisierte und infantililsierte Erzählgemeinschaft ist, die zwangsbespaßt wird.  

 

Am zweiten Tag werden die philosophischen und medientheoretischen Annahmen des ersten Tags in Vorträgen und Gesprächen unterfüttert und vertieft,  die pragmatisch-bilanzierend aufzeigen, welche Probleme die Information als gesellschaftskritisches Moment  heute hat.  Es geht um Strategische Kommunikation, Filter Bubble und Roboterjournalismus. Und zum Abschluss gibt es etwas ganz altmodisches: einen Film, der in großer Klarheit  und mustergültig recherchiert einen politischen Fall schildert.  Kann man einen Menschen, der zum Tode verurteilt ist und bei dem die Mechanismen der Hinrichtung versagt haben, zum zweiten Mal töten? Wir können uns alle vorstellen, wie eine solche Geschichte  in einer Doku-Fiction mit melodramatischen Elementen aussehen würde. Michael Verhoeven zeigt uns aber eine klassische Recherche, die mühselige Prozedur der kleinen Schritte einer Wahrheitsfindung und erreicht damit eine Eindringlichkeit, die durch kein unglückliches Pathos und forcierte Betroffenheit erreicht werden kann. Dieser Film über den persönlichen Fall eines Todeskandidaten weitet sich aus zu einem Film über die Todesstrafe in Amerika und zu einem Film darüber, wie nahe im amerikanischen Unterbewusstsein das Andere, die schwarze Hautfarbe eines Teils der Amerikaner, am Vernichtungswunsch liegt. 
 
Prof. Dr. Jutta Brückner
(Druckfassung, pdf-Dokument)
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Beitrag von Uli Gellermann, Journalist und Filmautor sowie Herausgeber der Onlinepublikation "Rationalgalerie".

CHIMÄRE DER INFORMATION
Vortrag in der Akademie der Künste am  15. September 2012 im Rahmen des gleichnamigen Symposiums


Seit mehr als zehn Jahren befindet sich Deutschland - neben einer Reihe anderer westlicher Staaten - im Krieg: Im "Krieg gegen den Terror". Diese Formulierung ist eine übergreifende Metapher für ein Bündel von Sicherheitsmaßnahmen, die ebenso innenpolitisch wie außenpolitisch wirksam werden. Im Kern dieser Maßnahmen steht der Afghanistan-Krieg. Und wie bei allen Kriegen gibt es einerseits die militärischen Schritte, um den Krieg zu gewinnen und andererseits die Maßnahmen der Propaganda, der Information, des Marketings. Auf dem Feld des Marketings haben wir Deutschen den Krieg weitgehend gewonnen. Denn der Afghanistan-Krieg ist eigentlich gar keiner. Gibt man bei der Internet-Suchmaschine GOOGLE den Begriff Afghanistan-KRIEG ein, bekommt man lächerliche 600.000 Treffer. Schon mit dem Begriff Afghanistan-MANDAT werden rund vier Millionen Ergebnisse erzielt. Der technizistische Begriff Afghanistan-EINSATZ erreicht die fünfte Million und der fast heilige Begriff der Afghanistan-MISSION erreicht das Traum-Ergebnis von rund 130 Millionen Treffern.

 

Bei dieser Begriffs-Erfassung stützt sich GOOGLE weitestgehend auf das im Netz veröffentlichte Material von elektronischen und gedruckten Medien, von gesammelten Meldungen, Kommentaren und Artikeln. Natürlich sind in dieser Sammlung auch Schlagzeilen und Sätze aus der Zeit vor der amtlichen Freigabe des Wortes "Krieg". Also bevor der damalige Verteidigungsminister von Guttenberg im November 2009 "kriegsähnliche Zustände" in Afghanistan als Begriff für zulässig hielt. Aber wer gedacht hatte, dass nach dieser ministeriellen Erlaubnis den Krieg, den es natürlich in Afghanistan gab und gibt, auch Krieg zu nennen, dass die "Mission", also die Missionierung Andersgläubiger zu ihrem angeblichen Vorteil mittels moderner Waffen, als Metapher gestorben wäre, sieht sich getäuscht: Noch jüngst hatte SPIEGEL-ONLINE, anlässlich des möglichen Abzugs französischer Truppen den Begriff "Afghanistan-Mission" als Sammel-Überschrift gewählt und im Text seiner Afghanistankriegs-Zusammenfassung patriotisch von einer "Tödlichen Mission" (SPIEGEL, online, Zusammenfassung, 5. August 2012) geschrieben und erneut erzählt worin diese "Mission" besteht: In "Stabilität und Demokratie im Norden Afghanistans". Selbst die GOOGLE-NEWS-Sammlung, jene Suche, die nur auf die letzten Tage und Wochen zurückgreift, verzeichnet immer noch 40.000 "Missionen", die von so seriösen Medien wie der TAGESSCHAU, der WELT, N24, der SAARBRÜCKER ZEITUNG und auch der TAZ auf den Kriegspfad geschickt wurden.

 

Während den Deutschen, die aus ihrer historischen Schuld heraus Kriegen mehrheitlich distanziert gegenüberstehen, eigentlich ein Friedens-Kompliment gebührt, finden manche die Kriegs-Distanz hinderlich: "Wie die Schuldfrage uns im Weg steht" titelt die SÜDDEUTSCHE noch im Juli dieses Jahres in einem Artikel, in dem beklagt wird, dass sich die Deutschen mit "sicherheitspolitischen Fragen" schwer tun, und der positiv heraushebt, dass  "Wehrdienstleistende stressresistenter" sind als Kriegsdienstverweigerer und dann empört festhält: "Alles dreht sich um das eigene kleine Leben. Kaum jemand grübelt über die Sicherheit des Staates." (http://www.sueddeutsche.de/politik/die-deutschen-und-der-krieg-wie-die-schuldfrage-uns-im-weg-steht-1.1404261-3)

 

Anscheinend ist das Erinnern an deutsche Schuld kein moralischer Gewinn, den die Deutschen nach einem mörderischen Krieg immerhin für sich in Anspruch nehmen dürften. Nicht wenige Kommentatoren in deutschen Medien beschreiben diese Moral als eher lästig in einem "größer" gewordenen Deutschland, das aber bitte endlich seiner "Verantwortung" gerecht werden soll, um seiner "weltpolitischen Rolle" zu entsprechen. Doch um gleich jeder Verschwörungstheorie entgegenzutreten: Es gibt in den selben Medien auch einige Kollegen, die kein Problem damit haben das Wort "Krieg" zu nutzen, die nach gründlicher Recherche ihre Zweifel an den Auslands-EINSÄTZEN (immerhin 700 000 Google-Treffer) äußern. Einsätze, die selbst bei den zweifelnden Journalisten nicht  "Auslandskriege" heißen dürfen (der Begriff ergibt kaum 4.000 Google-Treffer). Aber die Zweifler sind in der Minderheit. Der Medien-Mainstream nennt den Krieg zwar nicht Krieg, verteidigt ihn aber, verlautbart ihn, hält ihn vielleicht für bedauerlich aber sicher für notwendig. Ihm steht die deutsche Schuldfrage offenkundig nicht im Weg.

 

Es war einmal, so beginnen viele Märchen und beschwören gute alte Zeiten, es war einmal eine VIERTE GEWALT, die neben der Legislative, der Exekutive und der Judikative so etwas wie eine Gegenmacht darstellte: Nämlich die Presse. In ihr vermutete man lange ein öffentliches Korrektiv. Während man als Medienkonsument den Verlautbarungen der Politik mit Skepsis begegnete und sich sicher war, dass man bestenfalls die halbe Wahrheit erfuhr, erhoffte man sich von den unabhängigen Medien so etwas Ähnliches wie die Wahrheit oder zumindest die andere Hälfte: Das was die Staatsgewalten gern geheim gehalten hätten, wovon sie nicht erzählen wollten oder zumindest eine sehr eigene Lesart verbreiten mochten. Legendär bleibt die SPIEGEL-AFFAIRE aus dem Jahr 1962, jene Überreaktion des Staates - von Verhaftungen begleitet - auf einen Artikel im SPIEGEL, der sich gegen die von Franz Josef Strauß verfolgte atomare Aufrüstung der Bundeswehr wandte.

 

Ob es das Verdienst des SPIEGEL war, dass die Bundesrepublik nie selbst über Atomwaffen verfügte, ist ungewiss. Gewiss ist, dass mit den landesweiten Solidaritätsaktionen für den SPIEGEL, mit dieser frühen Bewegung gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit, die junge Bundesrepublik einen wesentlichen Schritt aus den vermieften 50ern in die bewegten 60er begann. Es war eine Zeit, die mit ihren Anti-BILDZEITUNGS-Aktionen die Mediendebatte in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurs stellte und so, rund um die Medien, die Demokratie in der Bundesrepublik weiter entwickelte. Solidaritätsaktionen mit deutschen Norm-Medien sind heute unnötig geworden. Die Mehrheitsmedien verstehen sich nicht mehr als VIERTE GEWALT, nur selten stehen sie in kontrollierender Gegnerschaft zur aktuellen Politik. Und wenn sie doch einmal in einer wesentlichen Frage auf Konfrontationskurs mit der Regierung gehen, dann ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem eine deutsche Regierung einem Krieg nicht zustimmt: Wie im Fall der Schröder-Regierung und dem Irak-Krieg.

 

Es war die feinsinnige ZEIT, deren Herausgeber Josef Joffe bereits im Dezember 2002 über den denkbaren Irak-Krieg wusste, dass er der "Despoten-Dämmerung" diene und der den Amerikaner attestierte: "Noch machen sie es richtig: Militäraufmarsch hier, diplomatische Kärrnerarbeit dort. Je mehr Staaten die USA und England davon überzeugen können, dass sie alle friedlichen Mittel ausgeschöpft haben, desto legitimer würde der Krieg sein." Man muss zu den "Despoten" dringend anmerken, dass die Welt leider voll von ihnen ist. Nur heißen sie nicht immer so.  Auch zur Zeit des Irak-Krieges gab es zum Beispiel den saudischen König, der besser Despot oder Diktator heißen sollte und von dem man weiß, dass er die schrecklichen Taliban finanzierte und ausrüstete. Der ist aber, als guter Freund der USA und damit Deutschlands, in kaum einem Medium als "Despot" zu finden.

 

Wenn es also die Aufgabe des Westens, wie mehrfach in den deutschen Medien verkündet, sein sollte Despoten zu beseitigen, dann sollte es doch die Aufgabe der Medien sein zu enthüllen warum jetzt gerade dieser Despot mit der Beseitigung dran ist und nicht irgend ein anderer. Stattdessen erklärte zum Beispiel Joffe von der ZEIT das NEIN des Kanzlers Schröder zur deutschen Teilnahme am Irak-Krieg zum Teil eines "Abenteuer-Wahlkampfes". Und so lag er auf der Linie der Mehrheit der Medien, die Schöders Entscheidung für falsch hielten.

 

Aber wo die ZEIT im Irakkrieg nur gepfiffen hatte, da trommelte die BILD-Zeitung: Am 06. Februar 2003 schreit die Schlagzeile: "Terror-Beweise gegen Saddam – Jetzt Krieg?". Dann behauptet sie am 19.März 2003 "Saddam erklärt uns den Krieg – Ihr werdet Blut weinen" um dann am 20. März 2003, dem Tag des Kriegsbeginns zu fordern: "Tötet Saddam!".


Für die Kriegs-Ouvertüre sorgte auch die FAZ, die von Hinweisen auf rollende Giftgas-Labors wusste und völlig vom Auftritt des amerikanischen Außenministers Colin Powell überzeugt war, dem sie auf ihrer Titelseite, eine "beeindruckende Beweisführung" zur irakischen Giftgas-Produktion vor den Vereinten Nationen bescheinigte. In der FAZ v. 7. Februar 2003:  "Vorübergehend hat der amerikanische Außenminister den UN-Sicherheitsrat in eine Art Weltgerichtssaal verwandelt; er selbst hat den Vertreter der Anklage gegeben. Angeklagt wurde das irakische Regime des Saddam Hussein. Dieses Regime beschuldigte Powell der gezielten Täuschung und Irreführung der UN-Waffeninspekteure und der systematischen Verletzung der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats. Beeindruckend an der Beweisführung", schreibt die FAZ weiter, "war nicht der multimediale Präsentationseffekt, sondern ihre Breite."  Erst viel später sollte diese Hymne an die Lüge widerrufen werden.

 

Vielleicht weil man spürte, dass die Faktenlage sich als dünn herausstellen sollte, wurden die moralischen Geschütze in Stellung gebracht, um den Deutschen den Irak-Krieg plausibel zu machen: Die BILD-Zeitung ließ Arnulf Baring mit einer vierteiligen Serie zur Vorbereitung des Krieges auftreten in der das Bündnis mit den USA beschworen wurde: "Deutschland braucht Amerika" lautete der Übertitel und erzählte dann: "Feindschaft zu den USA führte uns schon einmal ins Verderben", "Amerika schenkte uns das Wirtschaftswunder" und "Die 68er verrannten sich in blindem Anti-Amerikanismus" um dann die letzte Karte auszuspielen: "Ohne die USA wäre Deutschland noch geteilt." Alles Treue-Punkte, um den Irak-Krieg zu rechtfertigen.

 

In allen möglichen Medien gab es weitere "moralische" Stimmen: Die WELT ließ Henryk M. Broder im Vorfeld desKrieges von der Leine, der schon früh ( 23. Februar 2002) wußte: (Im Fall einer US-Intervention) "werden wir wieder deutsche Hausfrauen erleben, die ihren Dutt schnüren, sich bei Aldi einen Vorrat Reiseschokolade kaufen und dann nach Bagdad aufbrechen, um mit ihren fülligen Leibern den Diktator zu schützen." - -  Die FAZ bewegte sich etwas zierlicher und ließ André Glucksmann zum Irak mitteilen: "Das Land wird von einem Tyrannen beherrscht. Das Volk hat ein Recht darauf, von ihm befreit zu werden." (24. 1. 2003)" Er fand Unterstützung bei György Konrad, der in verschwenderischem Plural (27. Februar 2003) zu sagen wusste: "Wir, ehemalige Dissidenten Mitteleuropas, sind daran interessiert, dass es weniger Diktaturen auf der Erde gibt. Deshalb ist uns die aufgefrischte anti-imperialistische Propaganda … nicht sympathisch." Ob Hans Magnus Enzensberger, ebenfalls in der FAZ (15. 4. 2003) mit seiner Meinung gegen Kriegs-Ende heute noch glücklich ist, darf man bezweifeln. Denn damals war er überzeugt: "Fest steht, dass noch nie ein Krieg so wenige Opfer gefordert hat wieder dieser." Immerhin weiß der SPIEGEL heute, damals ein heftiger Gegner des Schröderschen NEIN, dass im andauernden irakischen Bürgerkrieg allein im Monat Juli 2012 "325 Menschen durch Anschläge und Bomben" starben. Rund neun Jahre nach dem offiziellen Kriegsende.

 

Ähnlich wie der Afghanistan-Krieg wurde auch der Libyen-Krieg nur eine OPERATION genannt. So erzählt es uns jedenfalls die bekannte Suchmaschine, gestützt auf die Texte deutscher Medien, bei der Frage ob es sich denn jüngst in Libyen um einen Krieg gehandelt habe oder um eine Operation. Das Wort OPERATION gewinnt mit 2,5 Millionen Treffern gegen den Krieg mit nur 1,6 Millionen überzeugend. Und tatsächlich wurde den Medienkonsumenten der internationale Libyen-Kriegs-Einsatz anfänglich als eine kurze, fast schmerzlose, notwendige Operation verkauft: Da gehen die beteiligten Militärmächte mal kurz per Flugzeug rein und dann, nach der Entfernung des schädlichen Gaddafi-Geschwürs, schnell wieder raus. Die OPERATION, auch gern "Internationaler Militäreinsatz" genannt, hat gute sechs Monate und 20.262 Lufteinsätze gedauert. Und etwa 50.000 Tote gekostet. Aber es ging ja immer, glaubte man dem Mainstream, um das "libysche Volk" und dessen Wohlergehen.

 

Das jeweilige VOLK wird uns in der Kriegsberichterstattung über den Nahen Osten immer wieder begegnen. Die Medien-Nutzer sollen vom deutschen Volk - das es ja seit der 48er Revolution und Bismarck ziemlich gesichert gibt - auf andere Völker schließen. So, als ob deren Entwicklung zur Nation schon abgeschlossen wäre, als ob sie nicht, wie zum Beispiel die Libyer, aus einer Reihe recht unterschiedlicher Stämme und Clans bestehen würden, die von einer einheitlichen Nation erheblich weit entfernt sind. Aber sonst wäre ja die zur Zeit des Libyen-Krieges gängige Medien-Formulierung nach der "Gaddafi sein Volk" bombt nicht möglich gewesen. Sonst hätte sich ja die Frage gestellt, welche Interessen bestimmte Teile des "libyschen Volkes" verfolgten, als sie gegen jene Teile aufstanden, die mit dem Gaddafi-Clan verbunden waren. Und man hätte dann vielleicht die gern und häufig gedruckte und gesendet Flagge der Rebellen (der scheinbar legitimen Vertreter des "Libyschen Volkes") als die alte Flagge des libyschen Königs identifiziert: Als die Fahne des Senussi-Clans, einer ziemlich islamistischen Gruppe, deren Wurzeln weder sonderlich demokratisch noch menschenrechtlich zu nennen sind. Ein wesentlicher Anlass des libyschen Bürgerkrieges lag im Streit um die Verteilung der Öl-Gewinne auf die unterschiedlichen Stämme und Regionen, und in diesem Streit hat sich ein von der NATO geführtes Militärbündnis auf die Seite der Rebellen gestellt. Das aber mochten oder konnten die deutschen Medien nicht erkennen.

 

Manchmal ist es für die Medien-Analyse wichtiger über jene Fakten nachzudenken, die selten referiert oder kommentiert werden: Kaum eines der Mainstream-Medien mochte in Vorbereitung des Libyen Krieges die finstere islamistische Diktatur in Katar, (einem Partner der NATO-OPERATION) und der laizistischen Gaddafi-Diktatur vergleichen. Mann wäre, zumal bei der Lage der Frauen, zu überraschenden Erkenntnissen gekommen. Auch über die Saudi-Diktatur, die mit von der Libyen-Partie war und zeitgleich einen Aufstand in Bahrein niederschlagen half, kein Wort.

 

Statt dessen an der Spitze die schon im Irak-Krieg bewährte ZEIT, die, weil die Bundesrepublik in Libyen nicht mit-kriegte, über "Deutschlands feige Außenpolitik" räsonierte (18.03.2011) und sich weiter empörte: "Die Bundesregierung lehnt eine Beteiligung an einer Militärintervention in Libyen ab – vor allem aus innenpolitischen Gründen. Das ist verantwortungslos."  Die FAZ sorgte sich um einen deutschen "Sonderweg" und auch darüber, dass sich Deutschland weg ducke. Die BILDZEITUNG verglich das "Gaddafi-Regime" mit der "Mörderbande" Hitlers und hoffte "auf die Landung der Alliierten". Und der SPIEGEL ließ einen "Außenpolitik-Experten" zu Wort kommen, der dem Außenminister Westerwelle "neudeutschen Wilhelminismus" attestierte, der sich vor allem in der Enthaltung bei der Libyen-Resolution des UNO-Sicherheitsrates gezeigt habe. Außerdem sei der FDP-Politiker der "bornierteste Außenminister" seit Hitlers Gefolgsmann Ribbentrop.

 

Zeitweilig gewann der Beobachter deutscher Medien den Eindruck, Westerwelle hätte sich eine gebrauchte Kalaschnikow kaufen und über Tripolis abspringen sollen. Wahrscheinlich weil dieser Akt ausblieb musste in der SÜDDEUTSCHEN (22.03. 2011) der ehemalige Aussenmister Joschka Fischer zur deutschen Enthaltsamkeit im Libyen-Krieg ausführen: "Die deutsche Politik hat (…) ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt, der Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat wurde soeben in die Tonne getreten." (...)  "Wie der Balkan gehört die südliche Gegenküste des Mittelmeeres zur unmittelbaren Sicherheitszone der EU. Es ist einfach nur naiv zu meinen, der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Staat der EU könne und dürfe sich da heraushalten. Wir reden bei dieser Region über unmittelbare europäische und deutsche Sicherheitsinteressen." Um der journalistischen Hygiene willen hätte die SÜDDEUTSCHE eigentlich anmerken müssen, dass Fischer gemeinsam mit der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright eine Reihe lukrativer Kommunikations- und Lobby-Projekte betreut. Aber das war nicht zu lesen. Zu lesen war eine Chimäre in der TAZ (06.März 2012): Dort überschrieb ein Journalist nach dem Krieg seinen Artikel mit: "Nato-Angriffe waren korrekt", um dann im Text aus einem UN-Bericht die Begründung für diese Korrektheit zu zitieren "Gaddafis Truppen begingen Massaker. Auch die herrschenden einstigen Rebellen verüben Verbrechen." Ja, was nun? Gibt es auch korrekte Verbrechen?

 

Der andauernde Bürgerkrieg in Syrien folgt in der Medienverarbeitung lange Zeit dem Muster des Libyen-Krieges: Schon im April 2011 stellte die BILD-ZEITUNG die Frage: "Assad lässt auf sein Volk schiessen - Warum bombardiert die Nato nicht auch Syrien?" -  Auch und wieder wird "das syrische Volk" als Chimäre eingesetzt: Der Staat Syrien besteht aus vielen verschiedenen Ethnien, die Frontlinie im Bürgerkrieg verläuft weitgehend zwischen den verschiedenen Religionen. Aber der Begriff VOLK suggeriert so schön glatt, dass "da oben" ein Diktator ist und da unten nur das gute Volk. Dass der syrische Diktator, ähnlich wie Gaddafi in Libyen, Verbündete in der Bevölkerung hatte, dass die mit ihm verbündeten Minderheiten der Alaviten und der Christen eine Heidenangst vor den sunnitisch bestimmten Rebellen-Milizen haben, das war in deutschen Medien nur schwer zu erkennen. Auch weil ein Massaker alles überstrahlte: STERN, SPIEGEL, HANDELSBLATT, FAZ, ZDF und auch die TAZ alle waren sich sicher, dass das Massaker von Hula, die Ermordung von etwa hundert Menschen, von Assad-Truppen verübt worden war.

 

Aber es gab von Beginn an die Möglichkeit eine "zweiten Meinung"  einzuholen, was eigentlich guter journalistischer Brauch gewesen wäre. Denn neben der von der Agentur der Opposition, "Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in London, verbreiteten Meldung über das Massaker in dessen Mittelpunkt die Regierungstruppen standen, gab es die Meinung der UN vor Ort:  Weder (Rupert Colville) der Sprecher des UN-Kommissariats für Menschenrechte, noch der militärische Leiter der UN-Beobachtermission in Syrien (General Robert Mood) wollte auf Nachfragen die syrische Regierung des Massakers beschuldigen. Das hinderte die TAZ aber nicht daran im Chor mit anderen zu titeln "UN verurteilen Massaker in Hula". Doch dann war weit, weit unten zu lesen: "Der Sicherheitsrat lässt in seiner Erklärung aber offen, wer für die von den UN-Beobachtern festgestellte `Tötung von Zivilpersonen durch Schüsse aus nächster Nähe sowie durch massive physische Misshandlung´ verantwortlich ist." Immerhin meldete die FAZ, die anfänglich genau wusste "dass die Menschen durch Artillerie- und Panzergranaten der Assad-Truppen sowie durch das Wüten regime-treuer Milizen ums Leben kamen" nach ein paar Tagen schwere Zweifel an ihrer ersten Version an. Und hat danach mit einem zweiten Bericht eindeutig belegt, dass die Rebellen für das Massaker verantwortlich waren.

 

Inmitten der Gleichförmigkeit der Syrien-Berichterstattung ragen zwei Artikel aus zwei Zeitungen heraus. Da ist zum einen die gewichtige FAZ, die (am 24.7.12) unter der Überschrift "Syrien: Und ihr denkt, es geht um einen Diktator" Hans-Christof Kraus zu Wort kommen lässt, der in Passau Neuere und Neueste Geschichte lehrt: "Den Amerikanern und der westlichen Seite geht es (im Syrien-Krieg) nicht oder nicht vorrangig darum, der bedauernswerten syrischen Bevölkerung zu helfen", schreibt der Professor, "sondern um Einflussnahme auf die Neugestaltung des Landes nach einem voraussichtlichen Sturz des derzeitigen Regimes, obwohl man mit diesem bisher stets gut zusammenarbeiten konnte. Mehrere," so heißt es weiter, "seit längerem geplante, für den Westen wichtige Öl- und Gaspipelines stehen auf dem Spiel, die Saudi-Arabien und Katar mit dem östlichen Mittelmeerraum und der Türkei verbinden und deshalb partiell durch syrisches Gebiet führen sollen." Der Autor stellt die entscheidende Kriegsfrage, nämlich die nach den Interessenlage. Und schon entlarvt sich der scheinbare Bürgerkrieg zu dem, was er in Wahrheit auch ist: Ein Teil des globalen Rohstoff- und Strategie-Krieges.

 

Ein nicht gleichermassen bedeutendes Medium, die "Landeszeitung Lüneburg"  ließ, ein wenig früher als die FAZ (12.07.2012), den Orient-Experten Professor Günter Meyer von der Uni Mainz zu Wort kommen. Der spricht von massiven Fälschungen in der Syrien-Berichterstattung und deckt auf, dass  z. B. "in den meisten westlichen Medien (. . .) bei der Bombardierung von Homs unterschlagen (wurde), dass sich dort viele El-Kaida-Kämpfer verschanzt hatten, die Zivilisten als Schutzschilde missbrauchten sowie alawitische Einwohner kidnappten, folterten und töteten". Und er deckt ausländische Interessen am Bürgerkrieg auf: "Den USA geht es darum, einen alten Gegner loszuwerden. Dahinter stecken auch Interessen des israelischen Verbündeten: Da der Iran über Syrien Waffen an die Hisbollah im Libanon liefert, könnte ein Sturz Assads den Nachschub unterbinden." Und der Mainzer Professor weiß noch mehr: "Der Plan von Annan (zur Beilegung des Bürgerkriegs) war hervorragend. Er ist nur systematisch von den Golfstaaten und den USA torpediert worden. Er ist in erster Linie an der fehlenden Kompromissbereitschaft der Aufständischen gescheitert, die von ihrer Forderung des Sturzes von Assad nicht ablassen. Eine Lösung mit relativ wenig Blutvergießen wird es nur geben, wenn unter Einbeziehung des Iran verhandelt wird." Der Kollege Joachim Zießler von der "Landeszeitung Lüneburg", der das Interview geführt hatte, versicherte mir es sei nicht schwierig gewesen den Professor Meyer zu finden. Aber wohl zu schwierig für die vielen anderen Medien, die den Krieg weiterhin ausschließlich aus eines einseitigen Menschenrechts-Perspektive betrachten.

 

Nun hat der Orient-Experte Günter Meyer zwei Ländernamen ins Spiel gebracht, die in der deutschen Mehrheits-Medienlandschaft geradezu Pawlowsche Reflexe auslösen: Der eine ist Israel, der andere Iran. Israel ist, glaubt man dem Mediendurchschnitt, immer gut, Iran ist immer böse. Dieser erstaunliche Reflex schadet der journalistischen Recherche und der gebotenen Neutralität als Ausgangsvoraussetzung für die journalistische Analyse. Er war insbesondere in der Günter-Grass-Debatte zu beobachten.

 

Ausgerechnet der Autor der BLECHTROMMEL wurde zum Antisemiten gemacht. Der Mann, der schon 1959 über den Mord an den europäischen Juden schrieb als auf Deutschland noch das schwere Verschweigen lastete. Die ZEIT wusste über das Grass´sche Gedicht zu sagen:  "Der Antisemitismus will raus", der Berliner TAGESSPIEGEL fragte rhetorisch "Ist Günter Grass ein Antisemit?" und antwortete "Ja, das ist er. Das beweist sein jüngstes Gedicht". Und so las es sich in der WELT, im SPIEGEL und nahezu überall. Wer keinen  Antisemitismus denunzieren wollte, der erkannte zumindest eine Verunglimpfung Israels, eine Sympathiekundgebung für den Iran oder - glanzloser Höhepunkt der kollektiven Grass-Beschimpfung - ein schlechtes Gedicht. Warum die selben Medien, die so einhellig den Schriftsteller verurteilten, über lange Jahre die Lieferung von deutschen U-Booten nach Israel faktisch verschwiegen hatten, darauf mochten sie keine Antwort geben. Obwohl diese Lieferung eine echte Sensations-Story gewesen wäre, wie die SPIEGEL-Enthüllung zur U-Boot-Lieferung - zeitlich nach dem Grass-Gedicht - eindeutig bewiesen hat.

 

Spätestens mit den Enthüllungen des israelischen Nukleartechnikers Mordechai Vanunu 1986 in der englischen Zeitung "Sunday Times" und dessen Verurteilung vor einem israelischen Gericht wegen Spionage könnte die atomare Bewaffnung Israels allgemein bekannt sein. Aber sie spielte bis zum Grass-Gedicht in der öffentlichen Debatte keine Rolle. Eine Riesenrolle im Wert von 1,2 Millionen Google-Treffern nahm und nimmt allerdings die vorgebliche iranische Atombewaffnung ein: Sie bestimmt den schrillen Ton der Auseinandersetzung mit dem Iran, notiert auch im Syrienkrieg den "iranischen Atomverbündeten Assads" (FAS 5. 8. 2012) bis in den Nebensatz, obwohl jeder Beweis für eine atomare Bewaffnung des Irans ausbleibt. Im Gegenteil sagen amerikanische Geheimdienste, dass ein ursprüngliches Bauprogramm für Atomwaffen seit 2007 aufgegeben wurde.

 

Symptomatisch wird die "iranische Atomrüstung" nicht nur unterstellt, sondern auch als Argument für die weitere Militarisierung der Außenpolitik Deutschlands genutzt, für die ein Kommentar in der SÜDDEUTSCHEN  (3. 7. 2012) unangenehm beispielhaft ist. Der Autor stimmt dem deutschen Verteidigungsminister nachdrücklich zu, der Auslandseinsätze der Bundeswehr überall in der Welt für vorstellbar hält. Dann bedauert er den möglichen Rückzug aus Afghanistan "nicht weil der Auftrag erfüllt wäre, sondern (nur) weil die Öffentlichkeit des Kriegs müde ist". Solch defätistische Haltungen der Bürger führt er auf die Lehren aus den "Zeiten vor 1945" zurück, und schreibt dann hastig: "Aber Maß aller Dinge kann die Vergangenheit nicht sein." Denn die "Soldaten in einem fernen gefährlichen Land (dienen) der Gesellschaft und damit uns allen." Was da zu lesen war ist ein propagandistischer Kriegs-Dienst, der in deutschen Medien immer häufiger geleistet wird und über den die Menschen in den "fernen und gefährlichen Ländern" und auch jene an der Heimatfront offenkundig anders denken als der kleine Kriegs-Stratege hinter seinem Schreibtisch.

 

Es ist kaum vier Wochen her, da hatten die deutschen Medien einen neuen Blitzkrieg im Auge: Den Präventiv-Krieg Israels gegen den Iran. Fast alle bekannten Zeitungen und Sender wussten, dass er nur so um die 30 Tage dauern würde wenn er denn kommt. Auch die Zahl der Toten konnten alle exakt herbeten: Nur 500 sollen es werden, so plapperte man die israelische Regierungspropaganda nach. Gezählt wurden in Tel Aviv und in Hamburg, Mainz oder Frankfurt natürlich nur die guten Toten in Israel. Über die bösen Toten im Iran: Kein Wort.

 

Uli Gellermann

 

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