Pierre Vago: Ein bewegtes Leben

Im Baukunstarchiv liegt jetzt die im Jahr 2000 im Brüsseler Verlag "Archives d’Architecture Moderne" erschienene Autobiografie "Une vie intense" von Pierre Vago als Manuskript auf CD in deutscher Sprache vor. Die Übersetzung besorgte Michael Kraus, der langjährige Sekretär der Sektion Baukunst in der Akademie.

Der Architekt Pierre Vago (1910–2002) war ein großer Kommunikator, Mitglied der Akademie der Künste Berlin, Mitbegründer und Präsident der Internationalen Architekten-Union (UIA), viele Jahre lang Chefredakteur der Zeitschrift "L’Architecture d’aujourd’hui" und Initiator internationaler Architekten-Akademien, die der Weiterbildung junger Architekten dienten. Zu seinen bekanntesten Bauten zählen das Haus Vago im Berliner Hansaviertel, die Universitätsbibliothek Bonn (Ausführung in Zusammenarbeit mit Fritz Bornemann) und die unterirdische Basilika in Lourdes. Pierre Vagos Autobiografie enthält vor allem Innenansichten aus dem Berufsleben eines Architekten von 1930 bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts und Reflektionen bautechnischer und kulturgeschichtlicher Art.
Vago war vielseitig interessiert und streitbar, gern auch polemisch. Sein 1928 an der École des Beaux Arts in Paris begonnenes Studium brach er bald ab, da er es als technisch nicht auf der Höhe der Zeit empfand. Zudem vermisste er den lebendigen Austausch über die vielfältigen Fragen moderner Architektur, während die Hochschule in den Traditionen von Akademismus und Regionalismus verharrte und chauvinistischen Überzeugungen anhing.
Vago hingegen war an einem kulturellen Dialog über die moderne Welt interessiert, an allen Formen der Neuerung, den Prinzipien des Werkbundes, des Bauhauses und der russischen Konstruktivisten. So wechselte er schon bald an die École Speziale d’Architecture. Hier machte er sich bei Auguste Perret mit den modernen Stahlbaustrukturen und –konstruktionen und der neuen Sachlichkeit vertraut. 1932 beendete er sein Studium.

Noch als Student hatte er begonnen, für eine italienischsprachige Zeitschrift Konzertkritiken zu schreiben, Architekturkritiken für eine Zeitschrift seiner Schule, und bald darauf für eine neu gegründete Architekturzeitschrift: L’Architecture d’aujourd’hui. Die Zeitschrift arbeitete unter der Direktion von André Bloc, ab 1933 war Julius Posener Redaktionssekretär. Mit Ausnahme der Kriegszeit war Pierre Vago von 1930 bis 1975 das einzige beständige Mitglied der Redaktion und viele Jahre ihr Chefredakteur. Man kann ihn die Seele der Zeitschrift nennen, er gab ihr eine Struktur, ein Gesicht und ein Konzept, das man mit einer Öffnung in die Welt, Aufnahme der Moderne und Universalismus umschreiben kann. Vagos Konzept für die Zeitschrift, wie auch sein architektonisches Credo, unterschied sich allerdings von dem Julius Poseners, der keinerlei Eingrenzungen anerkannte. Vago schreibt: „Dennoch habe ich mich immer darum bemüht, zwei Grenzen zu beachten: zum einen, indem ich alle akademischen Arbeiten ablehnte, jeglichen stilistischen Rückgriff, jeden falschen Regionalismus, jedes Pasticcio; zum anderen indem ich mich gegen den Formalismus wandte, d. h. gegen die Neigung zu willkürlichen Formen, gegen eine Architektur, die nicht in erster Linie auf die Befriedigung eines Bedürfnisses zielt, die Erfüllung einer Funktion, eines Programms und die nicht der rationale Ausdruck eines verwendeten Konstruktionssystems ist, welches auch immer es sein mag. Daraus resultieren die Kampagne gegen den neuen Formalismus und einige Zusammenstöße zunächst mit Le Corbusier und sehr viel später auch mit André Bloc, den die permanente Suche nach Originalität, und sei es um den Preis der Missachtung der Funktion oder der konstruktiven Logik, verwirrt hatte.“ Aus der Zeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui wollte er „ein brodelndes Zentrum vielfältiger Aktivitäten machen, ein ständiges Gären erzeugen, ein attraktives Forum schaffen. Aus diesem Geist habe ich alle möglichen Initiativen propagiert und gefördert: Ausstellungen, Reisen, Konferenzen, Filme, Wettbewerbe, Preise.“

Die Zeitschrift sah sich verbunden mit allen kulturellen Phänomen der Gesellschaft und griff Fragen auf, die man bislang nicht in Architekturzeitschriften vorfand: die Ästhetik der Straße, Werbung, Transportmittel. Zu den bedeutenden Beiträgen dieser Art gehört ein Aufsatz von Gaston Bardet im Zusammenhang mit dem Bau von Filmstudios: „Die Masse – Schauspielerin und Zuschauerin“. Oder eine vierzigseitige Studie von Bruno Taut über japanische Architektur, die in Frankreich bis dahin nicht wahrgenommen worden war.
Darüber hinaus brachte L’Architecture d’aujourd’hui thematische Hefte heraus – auch dies eine Neuerung: Über Sportbauten, Schulen, sozialen Wohnungsbau, Bahnhöfe, Theatersäle oder Sakralbauten. Um die Fülle der Themen zu strukturieren, erschienen zusätzliche Hefte, die sich ausschließlich der Bautechnik widmeten, aber auch Monografien bedeutender Baumeister, beginnend mit Auguste Perret und Le Corbusier. Diese Sondernummern wurden zu Grundlagenarbeiten über das jeweils behandelte Thema.
Vago lud von Anfang an bedeutende ausländische Architekten zur Mitarbeit ein, er förderte den Diskurs, regte Ausstellungen, Konferenzen, und Umfragen unter Architekten an, deren unterschiedliche Auffassungen dann in der Zeitschrift nebeneinander erschienen. Und er organisierte Kongresse in Form von Studienreisen in andere Länder, die mit einem internationalen Gedankenaustausch verbunden wurden. Der erste dieser Reise-Kongresse fand im August 1932 statt: Vago fuhr mit einer Gruppe von Architekten in die Sowjetunion. Sie trafen sich mit russischen Architekten, begutachteten das aktuelle Baugeschehen und hielten Vorträge. Es ging um Austausch und Diskussionen. Anschließend wurde in L’Architecture d’aujourd’hui ein Rechenschaftsbericht veröffentlicht, der so großes Interesse erweckte, dass viele Architekten darum baten, solche Treffen fortzusetzen. In der Mai-Ausgabe 1933 erschien dann auch die Ankündigung zu einem Folgetreffen in Italien. Nach diesem Muster wurden in den folgenden Jahren weitere Kongresse in anderen Ländern organisiert, sie wurden zur Keimzelle der Internationalen Architekten-Union (Union Internationales des Architectes – UIA). Dieser wichtigste internationale Architektenverband wurde auf Vagos Initiative hin 1948 in Lausanne gegründet und für viele Jahre von ihm als Generalsekretär geprägt. Die UIA spielte besonders in den Zeiten des Kalten Kriegs eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den Architekten aus Ost und West.

Vagos Autobiografie, die er selbst auch als „Bericht“ bezeichnet hat, enthält etliche Kurzporträts von Architekten, die ihm während seiner beruflichen Laufbahn begegneten, und ein ausführliches Porträt über seinen als Mensch und Architekt verehrten Lehrer Auguste Perret, darüber hinaus ein sehr differenziertes Porträt von Le Corbusier, das sowohl auf sein ästhetisches Genie und die formalen Neuerungen, als auch auf die technischen Mängel seiner Bauten eingeht. Vago beschreibt sie oft aus eigener Anschauung, er hat einen genauen Blick für technische Details und formale Innovationen, die er immer auf ihre Funktion und den Gebrauchswert für künftige Nutzer überprüft. Zugleich ordnet er die Arbeit seiner Kollegen in größere architekturgeschichtliche und kulturhistorische Zusammenhänge ein, eine Haltung, die er grundsätzlich auch auf seine eigenen Bauten anwendet. Er begann mit Innenarchitektur für Wohnungen und Tanzclubs, dem Umbau von Häusern und dem Bau eines Pavillons auf der Pariser Weltausstellung 1937.
Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich arbeitete er ab 1940 als Architekt in Marseille, baute ein größeres Wohnhaus bei Cassis und eine chemische Fabrik in Sorgues. Eine Kollaboration mit den deutschen Nazis kam für ihn nicht in Frage, er ging in die Résistance. Ab 1943 baute er in der italienischen Besatzungszone am Küstenabschnitt zwischen Monte Carlo und Hyères ein Nachrichtennetz auf, um der französischen Exilregierung unter General de Gaulle in London Truppenstärke, Bewaffnung, Standorte und Lagepläne der italienischen Truppen zu übermitteln. Am 9. Mai 1943 wurde er in Marseille von den Deutschen verhaftet und ins Gefängnis gesperrt, kam jedoch im Herbst 1943 wieder frei, weil man ihm nichts nachweisen konnte.

Nach dem Krieg wurde Vago im Jahr 1946 zum Chefarchitekten der Region Arles berufen. Es galt, die von Bombenangriffen schwer beschädigten Städte Arles, Tarascon und Beaucaire wieder aufzubauen. Vago war nun mit Städtebau, Regionalplanung, Großsiedlungsbau, dem Bau von Gesamtquartieren und Sozialwohnungen befasst, er baute Schulen, Kirchen und Universitätsgebäude. Detailreich und farbig schildert er das Baugeschehen in all seinen für Architekten relevanten Aspekten. Dabei werden die Vorteile seiner nutzerorientierten Arbeitsweise deutlich. Beispielsweise studiert er zunächst alle Abläufe der medizinischen Versorgung, als er einen Krankenhausumbau in Toulouse zu entwerfen hat, um den Ärzten und Schwestern ein optimales Arbeiten zu ermöglichen. Im Kapitel über Schulbauten wies er nach, dass normierte Typenbauten keineswegs billiger sind als frei geplante, der Umgebung angepasste Schulgebäude. Dahinter stand eine grundsätzliche Überzeugung: Der Wille zur Vereinheitlichung war ihm zu abstrakt und lebensfern.
All dies geschah in Auseinandersetzungen mit Behörden und Ministerien, womit denn auch die politische Ebene ins Spiel kam. Mit dieser hatte er auch bei seinen Bauten im Ausland umzugehen. Überdies hatte er andere Sitten und Mentalitäten zu berücksichtigen. In Algier baute er Wohnhäuser für Bankdirektoren, Bankfilialen der Banque d’Algérie und ein Warenhaus, in Tunis die tunesische Zentralbank.

Vago berichtet auch über Bauleitpläne für Städte in Persien, Marokko und Mexiko, die scheiterten. Und er beschreibt die Gründe des Scheiterns, in Persien etwa „wegen der Macht privater Interessen, des mangelnden Verständnisses der Regierenden, der Korruption, der Schmeichelei, die zu der (vielleicht unbewussten, was noch schlimmer ist) Verachtung der damals vermögenden herrschenden Klasse für die Lage und die Probleme von 90% der Bevölkerung noch hinzukam.“
Wie sehr die Architektur mit allen aktuellen Problemen der Welt verbunden ist, erfuhr Vago auch als er 1981 zusammen mit seinem israelischen Kollegen Alfred Mansfeld und dem ägyptischen Architekten El Rimaly ein gemeinsames Sanktuarium für die Gläubigen der drei monotheistischen Religionen auf dem Sinai errichten wollte. Sie holten das Einverständnis des damaligen ägyptischen Präsidenten Sadat ein und fanden einen geeigneten Ort auf dem Sinai. Nachdem sie das Modell dieser interkulturellen Begegnungsstätte erarbeitet hatten, wurde es von Sadat genehmigt. Der Bau des Sanktuariums hätte beginnen können, wäre Sadat 1981 nicht einem Attentat zu Opfer gefallen. Sein Nachfolger griff das Projekt nicht wieder auf. Bei vielen anderen seiner Unternehmungen war Vago erfolgreicher. Er resümierte: „Nutzen wir den Reichtum unserer jeweiligen Unterschiede – diesen Satz von Tocqueville hatte ich immer im Kopf und er inspirierte mich bei meinem ständigen Bemühen, diejenigen einander näher zu bringen, zusammenzuführen, zur Zusammenarbeit zu bewegen, die so vieles voneinander trennte – und das friedlich und möglichst freundschaftlich.“     

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(Stand 20.04.2011)


Autobiographie von Pierre Vago "une vie intense", AAM éditions, Bruxelles 2000


Das Haus von Pierre Vago im Berliner Hansaviertel, Klopstockstrasse 14-18, 1956/57, Foto: Albrecht


Das Haus von Pierre Vago im Berliner Hansaviertel, Klopstockstrasse 14-18, 1956/57, Foto: Albrecht


Das Haus von Pierre Vago im Berliner Hansaviertel, Klopstockstrasse 14-18, 1956/57, Foto: Albrecht