Interview mit Georg Katzer am 31.8.2015 in Zeuthen (Ausschnitt)

FH (Folkmar Hein): Lieber Georg, du bist zum Ehrenmitglied der degem ernannt worden. Gab es eigentlich eine Laudatio?

GK (Georg Katzer): Nein, es gab keine Laudatio.

FH: Sollte man denn die Momente, die in einer Laudatio zum Zuge kommen, ganz weglassen?

GK: Ja. Man kann so etwas nur sachlich erwähnen ...

FH: Ich frage eigentlich nur deshalb: eine Ehrenmitgliedschaft hat immer einen Grund, nämlich, dass sich jemand für eine Sache verdienstvoll eingesetzt hat. Es gab einen Augenblick in deiner Geschichte, aber auch in der Geschichte der DDR, der eine vorrangige Bedeutung hatte, nämlich nach der Entstehung von "Bevor Ariadne kommt". Was in dem Wergo-CD-Booklet nicht steht: du hast für dieses schöne Werk 1977 einen Preis bekommen; und zwar vom Studio in Bourges. Und damit wurden Grenzen geöffnet, denn du solltest den Preis in Frankreich entgegen nehmen; dafür musstest du nach Frankreich reisen. Ich denke, dass das ein gewaltiger Sprung war.

GK: Ja, das war wirklich eine Zäsur in meinem Leben. Hätte ich diesen Preis nicht bekommen, dann weiß ich nicht, wie das weiter verlaufen wäre mit meiner Beschäftigung mit der Elektroakustik. Denn dieser Preis hat mir die Möglichkeit gegeben, auf Grund von Einladungen in andere Studios, aber vorrangig Bourges, auf diesem Gebiet weiter zu arbeiten. Das war in den 70er Jahren in der DDR noch nicht möglich, oder nicht mehr möglich - muss man sagen - , weil es in früheren Zeiten diese Möglichkeit durchaus gegeben hat, für eine kurze Zeit [1], und dann erst wieder gegeben hat, nachdem die Studiogründung in der Akademie erfolgte. Also war es die einzige Möglichkeit auf diesem Gebiet zu arbeiten, wenn ich Einladungen in andere Studios bekam. Ich habe natürlich damals schon versucht, mir selbst Geräte anzuschaffen. Ich erinnere mich mit Freude z.B. an den Commodore64. Ein Gerät, das ich wirklich außerordentlich geliebt habe, und das ich leider nicht mehr besitze (schmunzelt). Ich könnte mir vorstellen, wieder damit zu spielen, selbst zu programmieren. Der Spieltrieb hat eine große Rolle auch in der Elektroakustik. Jedenfalls: dieser Preis war für mich von entscheidender Bedeutung.

FH: Wir hatten mal eine Sendung über die EM in der DDR gemacht und Beiträge über dich in einigen Musikzeitschriften nachgelesen - aber, da hat keiner etwas über Ariadne gesagt, komischerweise. - "Preußisch blau" entstand ebenfalls in Bourges, 1979. Und beide Werke hatten eine ganz besondere Bedeutung nicht nur für dich, sondern auch ganz allgemein für Komponisten aus der DDR; denn: einige andere Kollegen durften nach deiner Preisverleihung auch nach Bourges fahren. Wer war das, wie lange währte das?

GK: Das war vor allen Dingen Lothar Voigtländer, der mehrfach in Bourges gearbeitet und auch einen Preis bekommen hat. Aber es hat natürlich ganz allgemein Aufmerksamkeit erregt, dass man mit EM unter Umständen Punkte machen kann, die Komponisten begannen sich ganz allgemein für dieses Gebiet zu interessieren, was von mir auch ein bisschen forciert wurde. Ich habe nämlich an der Akademie schon Ende der 70er Jahre, ich sage mal "Trockenkurse" in Elektroakustik gemacht, also rein theoretisch, da es an Equipment fehlte. Das einzige Gerät war mein Synthi-AKS, den ich immer mitbrachte, um Praktisches zu demonstrieren. Es gab bald einen Interessentenkreis von etwa 15 Personen, dem übrigens auch Armin Köhler angehörte, der später Donaueschingen geleitet hat, er kam regelmäßig aus Dresden dazu. Viele junge Komponisten waren dabei....

FH: Das ist wichtig zu wissen. Es gab in der Zeitschrift "Musik und Gesellschaft" einen Bericht darüber [2] [i], aber erst sehr viel später wurde auch über andere Kurse berichtet, überwiegend Kurse in Gera? ...

GK: ja, in Gera. In Gera gab es einen Sommerkurs für neue Musik, und da spielte die Elektroakustik eine gewisse Rolle, Ich bin als Dozent eingeladen worden, auch Lothar Voigtländer; Paul-Heinz Dittrich war weniger wegen der Elektroakustik da, sondern ganz allgemein. Das war eine verdienstvolle Sache, die über einige Jahre ging - aber ich weiß nicht, bis wann eigentlich, ob das bis 1980 ging und dann aufhörte, - ich vermute das fast. [3]

FH: Fanden in Gera auch praktische Kurse statt, oder waren sie nur theoretisch - wegen des fehlenden Equipments?

KG: halb-halb; was an verschiedenen Stellen an Equipment vorhanden war, wurde zusammen getragen, und man hat tatsächlich auch ein bisschen praktisch gearbeitet. Das war natürlich auf einem technisch unzulänglichen Niveau, es gab kein professionelles Equipment, also auch nicht für Aufnahme- und Wiedergabetechnik.

FH: Auf dieser neuen CD sind noch zwei weitere Stücke, die in Bourges entstanden: einmal "Die Mechanik und die Kräfte der Abnutzung" von 1985, und dann "Blühende Landschaften", etwas später entstanden, 2000. Das zeigt, dass du von 1977 bis weit über die Wende hinaus immer wieder in Bourges warst.

GK: Ich müsste direkt mal zählen, wie viele Stücke ich insgesamt in Bourges realisiert habe, es sind etwa 10.[4] [ii]Ich war etwa jedes zweite Jahr in Bourges und habe dort arbeiten können, was natürlich eine wunderbare Sache war, A natürlich wegen der beruflichen Qualifikation, aber auch weil ich das Umfeld kennen lernte; ich habe bei der Gelegenheit auch ein bisschen Französisch gelernt (mehr war nicht drin, weil: mit Maschinen spricht man nicht!). Und: ich bekam es bezahlt, bekam ein Honorar!! Das war toll! Die Familie hatte allerdings wenig davon, denn ich habe natürlich sofort Equipment davon gekauft. Und ich habe immer noch ein paar Tage Urlaub in Frankreich angehängt, ein Privileg ohne gleichen!

FH: Wer hat das Honorar bezahlt?

GK: Das hat das Studio Bourges bezahlt; es waren ja Auftragskompositionen. Ich bekam regelmäßig einen kleinen Vorschuss und am Schluss das Honorar, und das reichte eben für ein paar Tage Urlaub und für ein paar Einkäufe meistens technischer Art, etwa ein Mikrofon oder irgend etwas anderes.

FH: Interessant ist - ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst: wir haben uns zum ersten Mal in Bourges gesehen, vorher nicht; wir hatten noch keinen direkten Kontakt. Wir hatten zwar bei Inventionen 1986 von dir ein Stück gespielt [5] - das passte gut in das Konzept "Sprache und Musik", aber du warst nicht da, das weiß ich noch. - Aber zunächst nochmal kurz zurück zu Bourges und zur Degem-Geschichte und über die Wichtigkeit von Bourges. Als damals die degem (die übrigens noch DeCIME hieß ≈ "deutsche CIME") die CIME [6] verließ und aus ihr austrat, muss das doch einen gewissen Schock bei dir ausgelöst haben.

GK: Ich habe das bedauert, weil ich glaubte - und ich glaube es eigentlich immer noch, dass es gut ist, Mitglied in so einer internationalen Konföderation zu sein. Ich weiß natürlich um die Hintergründe dieses Austritts, aber ich habe ihn bedauert, hätte es besser gefunden, dort zu bleiben.

FH: Offen gesagt, der CIME-Austritt hat auch mir damals große Schwierigkeiten bereitet. Im Grunde genommen muss der Austritt dem ganzen Komponistenkreis aus der DDR irgendwie sehr schlimm aufgestoßen sein.

GK: Na ja, ich weiß nicht wie die Mitglieder darüber gedacht haben. Aber von einigen weiß ich schon, dass sie das nicht so befürwortet haben. ...

FH: Wir haben jetzt im September die degem-Versammlung und deshalb möchte ich auch über die degem sprechen. Einige degem-Mitglieder, die - aus meiner Sicht - quasi den alten DDR-Stamm bildeten (das warst du, der Lothar, aber auch Glandien und Zapf und noch ein paar andere): etliche sind aus der degem ausgetreten! - Es wäre beinahe so weit gekommen, dass das Akademiestudio ausgeschlossen wurde, weil es gar nicht mehr die Beiträge gezahlt hatte! Gott sei Dank ist das AdK-Studio geblieben. Also, diese Entwicklung finde ich etwas schwierig, vielleicht auch wegen dieser Bourges-Geschichte, kann das sein?

GK: Hier kommen zwei Dinge zusammen; einmal die Sache mit Bourges, und dann speziell die Situation mit dem Akademiestudio.... ein besonderes Problem, das glücklicherweise jetzt gelöst ist.

FH: ... was mir übrigens erst kürzlich klar wurde: das Akademie-Studio gehört gar nicht zur Musikabteilung ...

GK: nicht mehr, es ist aus der Abteilung Musik herausgelöst worden, auch im Interesse anderer Sektionen der Akademie; es hatte sich nämlich gezeigt, dass es z.B. in der Bildenden Kunst, vor allem aber auch in der Literatur Interesse gab, das Studio für ihre Zwecke zu nutzen, z.B. Aufnahmen für Hörspiele. Da ist auch einiges entstanden, z. B. Christina Kubisch hat das Studio für verschiedene Produktionen in Anspruch genommen. Das Studio wurde aus der Musik herausgelöst und der Abteilung Veranstaltung unterstellt.

FH: Ich erinnere mich, irgendwann in der Zeit der Akademiestudiogründung 1986 gelesen zu haben, dass einerseits das AdK-Studio auf eine professionelle Ausrüstung hoffte, aber alleinig der Ausrüstung nicht vertraute. Denn es war und ist nicht die Regel, dass Ausrüstung automatisch die Qualität der Musik bestimmt. In dem Artikel in "Musik und Gesellschaft" wurde ausführlich dazu Stellung genommen; wie siehst du das heute?

GK: Auch die tollste Technik ersetzt nicht die Kreativität - die muss erst mal da sein. Und wenn wir von Studiogründung 1986 sprechen, muss ich das ein bisschen korrigieren: 1986 war sozusagen die offizielle Einweihung (in Anwesenheit des stellvertretenden Kulturministers immerhin - das zeigt übrigens einen Wechsel in der offiziellen Politik), aber schon seit 1980 wurde im Studio produziert. 1980 hat mein damaliger Meisterschüler Ralf Hoyer ein Kontrabassstück produziert, also für Kontrabass und Zuspiel, und das ist mit drei Bandmaschinen gemacht worden, die wir damals aus dem Rundfunk bekommen haben, abgelegte Maschinen, die aber noch in Ordnung waren, und mit ein paar Filtern, die wir ebenfalls beim Rundfunk gekauft hatten, - mehr hatten wir nicht! Und trotzdem ist ein ganz brauchbares Stück entstanden, das hin und wieder noch gespielt wird [7]. Also: da hat der Ralf Hoyer mit viel Geschick (er ist ausgebildeter Tonmeister) und mit viel Sachkenntnis etwas gemacht auf der Basis einer wirklich sehr niedrigen technischen Stufe.Generell muss man sagen, ist für ein solches Studio eine professionelle Ausrüstung ein absolutes Muss, und zwar vor allem auf der Abhörseite. Ich habe kürzlich wieder die Erfahrung gemacht, als ich ein Stück, das ich bei mir zu Hause mit simplen Boxen produziert und nun im Studio abgehört habe: ich war einerseits überwältigt, und andererseits auch frustriert, weil ich nun gewisse Dinge hörte, die ich hier bei mir zu Hause überhört hatte. Also: die Abhörtechnik muss wirklich auf dem letzten Stand sein! Aber das bedingt auch eine hohe Aufnahmetechnik, denn die gute Abhöre nützt nichts, wenn schon die Aufnahme nicht in Ordnung ist. Der hohe technische Stand muss heutzutage da sein, aber er ersetzt natürlich nicht Kreativität und Fantasie; die wird genauso vorausgesetzt wie in der Instrumentalmusik. Also wenn sie nicht vorhanden ist, dann: Finger weg!

FH: Ich möchte noch eine Bemerkung zur Ausrüstung machen. Ich denke, wir sind da einig: es geht nicht nur um die Ausrüstung, sondern auch um den Raum. Ein Wohnraum, so schön er auch ist mit einem Ausblick ins Grüne, ist doch eine ganz andere Sache als ein Abhörraum, wo auch wirklich die Wohnsituation keinen Einfluss mehr hat, z.B. darauf, an welcher Stelle ein Lautsprecher stehen darf ...

GK: ... das würde ich unter Ausrüstung mit subsumieren; der Raum ist natürlich Grundbedingung für eine gute Abhörung...

FH: ... aber der Raum ist keine Ausrüstung in einem anderen Sinne, weil: der Raum bleibt, die Technik wechselt ständig; da kommt immer etwas besseres hinzu, bessere Lautsprecher, immer diese merkwürdigen Verbesserungen. ... Aber der Raum bleibt! Nach meiner Ansicht ist es sogar so, dass der eigentlich Wert eines Studios seine Räume sind, also gar nicht die Ausrüstung. Die Ausrüstung ist nach 20 Jahren ...

GK: die muss erneuert werden, ja

FH: ... die Leute lachen sogar über alte Ausrüstungen: was habt ihr denn damals nur gehabt; so wird da rum geredet, es ist ganz lustig. Aber über die Räume wird nicht so gelacht! Basierend auf der Frage nach dem Equipment möchte ich nachhaken: wenn sich technikgläubige Menschen mit Wissenschaftsfetischisten (sag ich mal so ein bisschen übertrieben) zusammen tun: hat dann eine wissenschaftliche Qualifikation mit künstlerischem Output so direkt zu tun?

GK: Nein, würde ich nicht sagen. Das kann sich auch gegenseitig im Weg stehen. Also es besteht immer die Gefahr - natürlich auch beim Komponieren - , dass man ins Pfriemeln kommt: endlos an der Technik herumbastelt.

FH: ... hier noch eine kleine Korrektur, da ein Pünktchen verrücken, man kann das ewig fortsetzen ...

GK: ... oder: ich habe 64 Spuren und 5 sind noch nicht belegt, also mache ich da auch noch etwas drauf. Nun, eine gewisse kompositorische Weisheit gehört dann auch irgendwann dazu: das Ganze von einer höheren Warte aus zu beurteilen und nicht von einer technisch-wissenschaftlichen Warte. Entscheidend ist in allen Fällen die Musik.

FH: und ob die Musik fertig wird! ...

GK: ... also das war auch mein Handicap in Bourges. Ich hatte eine Produktionszeit von 14 Tagen, dann musste ich das Studio verlassen. Ein Komponist aus Lateinamerika, von denen viele dort gearbeitet haben, konnte irgendwann wieder kommen und das Stück zu Ende machen. Das konnte ich nicht, ich hatte nur dieses Visum für dieses eine Mal, für 14 Tage, und musste dann wirklich den Schlusspunkt setzen. Das hat mich einerseits zu irrsinnigen Arbeitstagen gezwungen, aber auch zu einer sehr großen Konzentration. Ich konnte es mir nicht leisten, während dieser 14 Tage Spaziergänge zu machen, und das hat dazu geführt, dass ich mich wirklich ganz intensiv in die Stücke versenkt habe.

FH: Einschränkung! Es ist eine "Einschränkung" ...

GK: Die ist nicht immer schlecht!

FH: Einschränkung gehört dazu: sich arrangieren, mit der Musik, der Zeit, dem Equipment, dem Raum, sogar dem Visum: die eigentliche Kunst, die schließlich zu einem Stück führt. Übrigens: meine persönliche Erfahrung hat mich zu der These geführt "trennt Wissenschaft und Kunst". Denn die Ziele und auch die Auftritte der Wissenschaftler stimmen nicht nur mit denjenigen der Komponisten nicht überein, sondern sie strangulieren die Kunst im Allgemeinen und führen in der Regel zu Langeweile!

GK: Du hast es noch zugespitzter gesagt als ich eben, aber da ist ein großer Funke Wahrheit drin, so sehe ich das im Prinzip auch.

FH: ... ich wollte noch folgendes sagen: wenn man den Werdegang eines Wissenschaftlers betrachtet, dann finden seine Auftritte in Publikationen, wissenschaftliche Tagungen, Promotionen, etc. statt - das ist ein ganz bestimmter "wissenschaftlicher" Weg. Aber der passt in das Leben eines Komponisten gar nicht hinein; weil: der Auftritt eines Komponisten ist eher das Konzert, das aber nichts mit einer Tagung zu tun hat. Es entsteht für Hochschulstudios ständig die Frage, wo und wie man sich präsentiert. Ist es wichtiger im öffentliche Raum Musik zu bieten, oder ist es noch wichtiger, also viel wichtiger, sich wissenschaftlich zu präsentieren?

GK: ... eine Trennung ist notwendig. Ich sehe schon die Notwendigkeit, Wissenschaft auf vielen Gebieten zu betreiben, Psychoakustik, Akustik allgemein, akustische Phänomene erforschen usw., – aber das hat noch gar nichts mit Musik zu tun. Musik kommt aus einem ganz anderen Keim, aus dem Verlangen nämlich, irgendetwas zu machen, was so noch nicht da ist.

FH: ohne Begründung auch ...

GK: ohne Begründung.

FH: Ja, das ist der Gegensatz zur Wissenschaft. Die Wissenschaft will immer Begründung, will alles begründen und beweisen, jeder Gedanke, jeder Pinselstrich eines Malers soll begründbar sein ... ein elektroakustisches Stück hat immer auch eine wissenschaftliche Seite, durch die Akustik, die Fragen an die Physik, oder durch Algorithmen, mit denen man ständig zu tun hat, - also das wird gar nicht angetastet. Es sollte doch gelingen, dass Wissenschaftler die Künstler wissenschaftlich betreuen und beraten, ihnen in gewisser Weise auch dienen. Auf der neuen CD gibt es auch dein Stück "Steinelied", 1984 im EMS entstanden [8]. Darüber freue ich mich sehr. Das EMS war nämlich neben Bourges der andere internationale Treffpunkt für EM. Ich glaube, dass dies in unserem elektroakustischen Geschichtsbewusstsein kaum zur Kenntnis genommen wird.

GK: ... das EMS stand immer ein bisschen im Schatten von Bourges. Es wurde nicht so wahr- genommen wie Bourges. Es gab in Bourges dieses sehr umfangreiche Festival, und Bourges war so etwas wie eine Börse, eine Musikbörse. Dort kamen die Leute zusammen, haben sich ausgetauscht, es wurden Bekanntschaften geschlossen; z.B. meine Einladungen, die ich nach diesem Preis bekam, die sind ja alle in Bourges zustande gekommen, weil man sich persönlich traf, zusammen gegessen, getrunken und gesprochen hat, und dann fiel irgendwann der Satz "warum kommst du nicht mal zu uns ins Studio und produzierst?"; dann hat man gesagt "wenn ich eine Einladung bekomme, komme ich gern", und so sind alle meine Gastproduktionen in anderen Studios entstanden. Das war der große Vorteil von Bourges. Und dieser Wettbewerb, ein dotierter Wettbewerb (nicht üppig dotiert, aber immerhin dotiert), hat viele Leute zusammengebracht, auch über die Jury sind viele Informationen geflossen. Wenn man in der Jury war (ich war zwei- dreimal in der Jury), hat man hunderte von Stücken kennen gelernt; da fielen manche auf, man behielt einige Namen im Kopf, und das alles war der große Vorteil von Bourges. In Bourges wurde mehr produziert als im EMS. Das EMS veranstaltete natürlich auch Festivals mit Fylkingen, einer eigenen Stiftung. Die haben zwar EMS-Stücke aufgeführt, aber EMS hat dadurch nicht diese Ausstrahlung gehabt, obwohl es zur damaligen Zeit ein tolles Studio war. Für mich war das EMS zunächst ein Buch mit 7 Siegeln, weil ich zum ersten Mal wirklich mit einem Computer gearbeitet habe (in Bourges lief alles analog, bis in späte Zeiten), und Tamas Ungvary hat sich eine Stunde Zeit für mich genommen, und dann saß ich da (lacht). Das Komponieren war äußerst mühsam, zeitaufwendig, man hat Stunden auf Ergebnisse gewartet - ich habe währenddessen ein Streichquartett konzipiert, aber noch nicht fertig komponiert ...

FH: und da stand dieses Monstrum von Digital-Synthesizer in einem riesen Raum, noch in der Kungsgatan; fandest du das damals anheimelnd oder eher abschreckend?

GK: Es war äußerst abschreckend, zumal ich mit diesem Ungetüm nicht umgehen konnte, zunächst mal. Ich bin wirklich nur durch die Methode "Trial and Error" in diese Maschine reingekommen. Aber da war noch der Bo Rydberg, ein Komponist und Programmierer, er hat mir ein bisschen auf die Sprünge geholfen. Wenn ich morgens ins Studio kam, lagen im Korridor die Ausdrucke des Computers für die Programmierer, mit den Zeichenkolumnen, Kilometer lang; und dann krochen die Programmierer über diese riesen Papierfahnen, um in den Bit-Kolonnen irgendwelche Fehler zu suchen. Ich muss sagen: ich habe einen ungeheuren Respekt bekommen, aber auch ein bisschen Angst. Bo Rydberg ist eigentlich ein guter Komponist, aber er hat nicht viele Stücke geliefert, weil er sich wirklich so in die Technik versenkt hat - die hat ihn aufgefressen. Und das ist wirklich die Gefahr - wir kommen wieder auf das Thema Wissenschaft und Komposition, ja... faszinierend natürlich, aber es schneidet dann irgendwie die Kreativität ab (ich meine die kompositorische Kreativität, nicht die technische). Es muss ein paar Pioniere geben, die den Weg bereiten, auf dem andere dann kreativ weiter arbeiten können. Also gerade zu Bo Rydberg will ich sagen, der hat sich doch irgendwie aufgeopfert; es war und ist zwar sein Leben, aber als Komponist trat er eben nicht so in Erscheinung, wie es eigentlich möglich gewesen wäre.

FH: Was übrigens die Anzahl der Stücke EMS / Bourges angeht: da bin ich mir gar nicht so sicher, ob es in Bourges mehr gewesen sind [9]. Du weißt ja, dass ich weiterhin mit der Datenbank EMDoku herumwurschtele - man darf das EMS nicht unterschätzen! Bezüglich der Stücke, auch international: im EMS durften Osteuropäer, Polen, Ungarn, Russen arbeiten, aber eben auch Engländer und Amerikaner; es gab keine ideologische Auslese, wenn ich das mal ganz böse sagen darf, wie in Bourges. In Bourges hatte man so ein gewisses linkes Sendungsbewusstsein, überwiegend arme Lateinamerikaner und Osteuropäer fördern zu müssen. Mit den anderen sind eher fragwürdige Dinge verbunden: die haben zu viel Geld usw.; das hat dazu geführt, dass in Bourges nicht so wahnsinnig viele Schweden waren; jedoch Menschen aus anderen Ländern waren nicht so zahlreich, wie man annehmen müsste ...

GK: ... ja, der Fokus lag sehr stark auf Lateinamerika

FH: Es gibt noch eine kleine Geschichte, die den Christian Clozier angeht. Ich war 1982 bei den Weltmusiktagen in Graz und Wien dabei (da hatten wir mehrere Aufführungen), und dann fand die Generalversammlung statt; irgendwann stürmte jemand rein, keiner wusste, wer das überhaupt ist, keiner kannte ihn, er hat sich auch nicht vorgestellt, hastete nach vorn zum Mikrofon, hat ungefähr zwei-drei Minuten auf Französisch ganz schnell geredet; alle waren total baff. Später wurde erzählt, was der eigentlich gesagt hat (selbst französischsprachige Menschen konnten das kaum verstehen): er hat die Weltmusiktage krass angegriffen, und gesagt: weil ihr hier keine EM aufführt, werden wir in Zukunft einen eigenen Verein aufmachen und dort EM präsentieren; damit hat er die CIME und das Festival in Bourges begründet. ... Ich denke, man hätte das anders hinkriegen können. Wenn man unterschiedlicher Meinung ist, kann man ja einfach mal diskutieren. Und es hat sich dann später gezeigt, dass auf den Weltmusiktagen zwar nicht unbedingt eine Euphorie für EM gewesen ist, aber EM ist nicht ausgeschlossen worden (wie er behauptet hat). Kommen wir nochmal auf Wissenschaft und Pädagogik zurück, und zwar: auf deren Wertigkeit. Die Akademie der Künste der DDR veranstaltete Meisterkurse. Damit fand eigentlich eine Ausbildung in der Akademie statt. Dies war für mich immer schon eine vorbildliche Idee, die aber nach der Wende aufgegeben wurde. Warum ist das eigentlich aufgegeben worden, und wie siehst du den Stellenwert der Meisterkurse - oder hat das mit Wissenschaft im eigentlichen Sinne nicht zu tun?

GK: Eigentlich weniger. Weshalb das aber aufgegeben worden ist, ich weiß es nicht. Ob das Finanzielle der Grund war und eine ausreichende Erklärung ist? Das besondere an der Ausbildung in diesen Meisterklassen war, dass es auch Quereinsteigern ermöglichte eine berufliche Ausbildung zu bekommen. Helmut Oehring ist ein schönes Beispiel. Oehring (Wehrdienstverweigerer !) hatte nichts. Er hatte kein Hochschuldiplom, eigentlich Voraussetzung für eine Bewerbung, ich glaube nicht einmal ein Abitur, aber er legte ein paar Partituren vor, und aufgrund dieser Partituren haben wir, die Kollegen der Sektion Musik gesagt: ja, ok, den akzeptieren wir. Nebenbei gesagt: ich hatte 3 Meisterschüler, die Wehrdienstverweigerer waren. Das war natürlich eine absolute Ausnahme, die nur an der Akademie möglich war. Ich bin mal gefragt worden, 'sag mal wie kommt es, dass bei dir all die Wehrdienstverweigerer landen'. Na ja, ich habe gesagt, weil ich ein guter Lehrer bin, das hat nur damit zu tun. Auf jeden Fall: es gab schon einen kleinen Freiraum innerhalb dieses Systems, den sich die Akademie leisten konnte. Ich muss noch sagen, unter den Kollegen, Komponisten, die in der Sektion Musik versammelt waren, gab es auch einige Genossen, aber die haben sich doch fair verhalten, indem sie dem entsprechenden Kandidaten zugestimmt haben, nicht immer einheitlich, aber immerhin sind die dann durchgekommen und akzeptiert worden. Und: die Meisterklasse hatte eine alte preußische Tradition, die von der Akademie der DDR wieder aufgenommen worden ist; aber leider hat die vereinigte Akademie sie nicht so weitergeführt. Es gibt jetzt die sogenannten Stipendiaten - in den verschiedenen Sektionen gibt es jeweils mindestens einen Stipendiaten - es wird so genannt, aber es sind eigentlich keine Stipendiaten. Sie bekommen einen Kompositionsauftrag, und es ist damit keine Ausbildung verbunden, die sich damals über zwei oder sogar drei Jahre hinzog. Es ist heute ein ganz anderes Modell.

FH: Ich hatte vor langer Zeit in meiner Reihe "EM-hören" zu einem historischen Abend mit dir und deinen Meisterschülern geladen. Noch heute habe ich einen Satz von dir in Erinnerung, nämlich dass mit dem Meisterkurs einigen Teilnehmern auch "ein Dach über dem Kopf errichtet wurde". Das hat mit Musikkursen und Studio kaum zu tun, aber mit einer gewissen Einstellung "zum Ganzen", die ich tief bewundere.

GK: Ich denke: ein Komponist kann eigentlich nur arbeiten, wenn er existentiell gesichert ist. Wenn er sich Sorgen und Nöte macht um seine Existenz, muss das notwendigerweise seine Kreativität behindern. Ich habe gerade so einen Fall, den ich nicht lösen kann. Ein junger Komponist, Improvisator und wirklich guter Musiker muss raus aus seiner Souterrain-Wohnung, Kündigung wegen Eigenbedarf, er ist völlig hilflos und jetzt wirklich in ein Nichts geworfen, und er schreibt mir, dass er keine Note mehr zu Papier bringen kann. Das ist so ein Beispiel für eine Notlage, die die Kreativität behindert. Und das mit "dem Dach über dem Kopf" ist genau damit gemeint. Es hatte eben auch den Sinn, die jungen Komponisten für eine Weile finanziell unabhängig zu machen, um ihnen diese Kreativität zu erlauben.

FH: Ich würde mir wirklich sehr wünschen, dass man die Meisterkurse fortsetzt. Kurse usw. passen doch in die allgemeine Kulturpolitik: in Deutschland sind Kurse nicht ungewöhnlich. Dass es ausgerechnet in der Akademie der Künste mit dieser Tradition aufgehört hat, das will mir irgendwie nicht einleuchten.

GK: ... ich fand das auch bedauerlich. Diese Art der Meisterkurse fand ich auch für mich als Lehrer sehr interessant, weil man ausgebildete Komponisten als Schüler bekam, - es war ein gegenseitiges Nehmen und Geben im Unterricht. Das hatte nichts mehr mit Pädagogik im engeren Sinne zu tun, sondern es war ein freundschaftlicher Austausch, auch menschlich sehr angenehm.

FH: Noch eine letzte neugierige Frage: du hast immer gern Landschaften durchradelt. Hat das künstlerische Eingebungen hervorgebracht?

GK: Ja, es gibt einige Stücke, die ich "Landschaft" nenne. Das ist mir ein lieber Begriff. Es gibt übrigens auch Stücke, die ich "Exkursionen" genannt habe. Es hat natürlich mit topografischen Landschaften nicht direkt zu tun. Nun, ich mache so ein bisschen beim Komponieren Erfahrungen wie auch in der Landschaft, es ist eine "Analogie", fand ich immer. Und ich mache beim Komponieren eben Entdeckungen; Entdeckungen in der Landschaft müssen nicht riesen Entdeckungen sein, das können Pflänzchen am Weg sein, insofern können Landschaften sich in Minibereichen abspielen. Ja, das ist ein Begriff, der mir sehr angenehm ist.

FH: Welche Landschaften passen am besten in deine künstlerischen Ideen, ist es hier die flache Landschaft um Berlin, oder ist es das Mittelgebirge, die Alpen ...

GK: eher das Bergland, ... wir waren gerade in Norwegen, eine dramatische Landschaft, das ist spektakulär. Ich meine, so dramatisch ist meine Musik im allgemeinen nicht, die ist ja eher lyrisch - dem entsprechen dann eher die lieblichen Mittelgebirgslandschaften. Zum Wandern ist die Hochgebirgslandschaft das Abwechslungsreichste, weil ständig wechselnd, mit ständig wechselnde Ausblicken ..., ...

FH: vielen Dank!!

Anhang / Fußnoten / Endnoten

[1] gemeint ist das RFZ: "Studio für künstliche Klang- und Geräuscherzeugung" im Rundfunk- und Fernsehtechnischen Zentralamt (Deutsche Post) in Berlin-Adlershof, Gründung 1960, Schließung 1970

[2] Siehe Endnote mit Zitat aus Heft 4, April 1989

[3] ab 1976 veranstaltete die Bezirkssektion Gera des Komponistenverbandes Sommerkurse, die ab 1981 ein bescheidenes Angebot für EM einschloss (Voigtländer, Katzer, Bennet); Kurse bis 1987 (?)

[4] es waren laut EMDoku 11 Werke ≈ siehe Anhang / Endnote

[5] Aide-memoire - sieben Alpträume aus der tausendjährigen Nacht; realisiert 1983 bei Radio DDR

[6] Confédération Internationale de Musique Electroacoustique, gegründet 1981 mit Sitz in Bourges

[7] Gemeint ist "Studie 4" von R. Hoyer, das am 26.9.2015 bei Kontakte aufgeführt wird.

[8] EMS ≈ "Elektronmusikstudion" in Stockholm, gegründet 1963

[9] laut EMDoku: 920 EMS-Werke ab 1963; 746 Bourges-Werke ab 1970

[i]In Musik und Gesellschaft, Heft 4 {April} / 1989 "Musik und Computer" lesen wir in einem Interview zwischen Katzer und Machlitt: Machlitt: .... Haben wir, was die Studiogründungen an der Akademie und der Dresdner Hochschule für Musik anbetrifft, einen großen Rückstand gegenüber den ausländischen Erfahrungen zu verzeichnen? Katzer: Einen Rückstand unseres Studios zu den entwickeltsten in der Welt gibt es natürlich - einen zeitlichen Rückstand, und der bedeutet eben Rückstand an Arbeitserfahrung, an Know-how, an Ausbildung junger Komponisten und anderem. Auch sind wir gerätetechnisch noch nicht so üppig ausgerüstet wie die modernsten Einrichtungen in der Welt. Diese Lücke wäre nicht so groß, hätte das während der 60er Jahre von Gerhard Steinke gegründete Versuchsstudio der Deutschen Post im Rundfunk und Fernsehtechnischen Zentralamt Adlershof weiterarbeiten können. Es besaß damals durchaus einen international vergleichbaren technischen Standard. Als wir in den 80er Jahren in Dresden und Berlin erneut anfingen, begannen wir technologisch aber nicht dort, wo man in Adlershof Ende der 60er Jahre aufgeben mußte, sondern auf einem entwickelteren Niveau. Freilich haben wir, zumindest an der Akademie, noch keinen Zugang zu Großrechnern wie die namhaften ausländischen Studios. Eine interessante Frage ist, wie umfangreich denn überhaupt die Ausstattung sein muß, damit künstlerisch akzeptable Kompositionen entstehen. Ich glaube, man kann auch mit relativ bescheidenen Mitteln - eine gewisse Grundausstattung vorausgesetzt - durchaus zu künstlerisch überzeugenden Ergebnissen gelangen. Wenn zum Beispiel Studios wie GRM und IRCAM in Paris, EMS Stockholm, andere in Mailand oder in den USA und Japan mit enormem technischem und finanziellem Aufwand für Forschung und Komposition arbeiten, unter Benutzung von Großcomputern, so ist damit nicht automatisch ein hohes ästhetisches Niveau aller dort realisierten Stücke garantiert. Natürlich stammen aus all diesen Einrichtungen hervorragende Kompositionen, aber eben auch weniger Gelungenes. Und es zeigt sich, daß bei all der wunderbaren Technik die Phantasie des Komponisten das Entscheidende bleibt. Freilich würde ich mir wünschen, daß auch unsere Komponisten Zugang zu Großrechnern hätten. Solange das nicht der Fall ist, werden wir ganz bewußt eine andere Richtung einschlagen müssen. Im Wissen um solche Beschränkungen müssen wir unser künstlerisches Konzept ausrichten.

[ii] Georg Katzer, 11 Werke realisiert im IMEB Bourges:

Stille, doch manchmal spürest du noch einen Hauch, 1978

Preußisch Blau. Tagtraum. Erinnerung, 1979/2008

Dialog imaginär 1 , La flûte fait le jeu, 1982

Le mécanique et les agents de l'érosion/Die Mechanik und die Kräfte der Abnutzung (Preis CIME 1986, Mention Bourges 1986),1985

Atmung (Respiration), 1990

Dialog imaginär 5, Versuch über die wahre Art das Akkordeon zu spielen, 1993

L'oracle de la dive bouteille, 1994

Die Landschaft von Vineta, 1998

Les paysages fleurissants, Die blühenden Landschaften,2000

Fukuyamas Kiste, La boîte de Fukuyama,2002

Mémoires d'un violoncelle,2004