Eine Frage noch

Von Eran Schaerf

Das Radio befindet sich, mit Rosalind Krauss gesprochen, in einer Post-Medium-Condition, sagte Bernhard Siegert an dem Roundtable zum Ende der Konferenz „Radiophonic Cultures – Sonic Environments and Archives in Hybrid Media Systems“ in Basel im Mai 2018. Daraufhin fragte Colin Lang: Wenn das Radio sich in seiner Post-Medium Condition befände, was war es davor, also bevor es in diesen Post-Zustand geraten ist?

Mir gefiel die Frage. Nicht weil sie die Vorstellung von Radio als isoliertem Medium ins Spiel brachte. Vielmehr stellte sie „The Futures of Radio?“, die über dem Roundtable schwebten, in den Kontext seiner zukünftigen Vergangenheiten – seiner nicht realisierten Potenziale.

Im Ohr, zurück in Berlin, habe ich noch Ute Holls Einwurf auf dem Panel „Radiophonic Realities: Fieldwork and Sonic Fictions“, das Switchen als charakteristisch für den radiophonen Raum zu denken. Was ist Switchen in der Post-Medium-Condition, was war es davor?

Davor war das Radio – anders als die Künste – national institutionalisiert und hierzulande wie anderswo als einzige legale Stimme über den Äther zu hören. Die ebenso unausgesprochene wie hörbare Autorität dieser Stimme suggerierte einen scheinbar öffentlichen Raum.

Im national institutionalisierten Radio ist Switchen weiterhin das dramaturgische Konzept des Programms – an die Nachricht über vom israelischen Militär erschossene Demonstranten in Gaza schließt ein Popsong an, dann wird in einer Anrufer-Sendung eine Oma in Hoyerswerda gegrüßt, gefolgt von einem Science-Fiction-Hörspiel (natürlich nicht so, sondern verbal abgefedert durch eine Moderation). Dieses In-80-Sekunden-um-die-Erde-Drama lässt die Zuhörer die nationale Grenze in Gedanken überschreiten und eben dadurch auch immer wieder bestätigen.

In seiner Post-Medium-Condition wurde das Radio zunächst durch Community-Radio-Projekte, Cyber-Radios und den mit ihnen aufkommenden Bürgerjournalismus vielstimmiger. Diese Vielstimmigkeit hat sicher mit der Demokratisierung des Mediums zu tun, doch verfügt diese Demokratie nicht mehr über den gemeinsamen Ort, an dem die vielen Stimmen ins Gespräch kommen oder auch nur gegenseitig gehört werden können. Vielmehr wird dabei das Modell des national institutionalisierten Radios samt seiner Dramaturgie in eine Vielzahl paralleler Gesellschaftsvorstellungen multipliziert, die für ihr jeweiliges, durch Datenerhebung identifiziertes Zielpublikum den Tag akustisch komponieren.

Am anderen Ende dieses Sender-Empfänger-Modells liegt das Switchen in den Händen der Zuhörer. Der Suchknopf – jene Handlungsrequisite, die Hörern ihrerseits das Switchen ermöglichte – ist aber nicht mehr da. Mit dem Suchknopf wurde auch der Zufall, wodurch man auf nicht gezielt gesuchte, fremdsprachige, unbekannte Stimmen stieß, wegtechnologisiert. Denn das Suchen mit dem Druckknopf ist kein Suchen mehr, sondern ein vorprogrammiertes Finden. Genauer: ein Wiederfinden dessen, was man bereits als seine Wahl identifiziert und gespeichert hatte.

Als eine Suche mit einem offenen Ausgang muss also das Switchen wiedererlangt werden. Fängt man damit an, kann das Sender-Empfänger-Modell samt seiner unausgesprochenen Autorität, die nur scheinbar einen öffentlichen Raum herstellt, nicht intakt bleiben. Das zeigte Ole Frahms Beitrag „Zerstreute Handlungsfähigkeit“, zu den von der Gruppe LIGNA geschaffenen Hörsituationen. Zerstreut im urbanen Raum führen Mitspieler gleichzeitig Handlungsanweisungen aus, die sie per Funk erhalten. In der Doppelrolle von Empfänger und Sender sind diese Mitspieler im urbanen Raum einem Publikum ausgesetzt, das ihrer Aufführung begegnet, ohne sie vorprogrammiert zu haben. Publikum ist nicht unbedingt Öffentlichkeit. Es sind unvorhersehbare Handlungen, die Öffentlichkeit herstellen. In einer voll programmierten Welt sind solche Handlungen auf einen Switch des eigenen Wahrnehmungsmodus angewiesen.

Ich stelle mir vor, wie ich als Passant zielgerichtet gehe, nur Zeichen, die mir zum Ziel helfen, wahrnehme, und auf einmal einen Switch in meinem Wahrnehmungsmodus erfahre, der es zulässt, Unvorhersehbares zu empfangen. Das Switchen in einer Post-Medium-Condition würde insofern einen radiophonen Raum aufmachen, der sich intermedial ereignet. Es ist nicht mehr eine Suchknopfhandlung, sondern eine kulturelle Technik der Wahrnehmung. Mit ihr wird ein öffentlicher Raum vorstellbar, der das, was nicht national institutionalisiert werden kann, unvorhersehbar einschließt.

Dieser Raum ist nicht mit einem bestimmten Ort zu verwechseln. Er kann sich auch über Entfernungen, aber nur auf Zeit herstellen. Er lässt sich nicht bauen, nur aufführen – in eine sich endlos wiederholende Probe für den Einschluss des Unvorhersehbaren. Die Grenzen dieses Raumes verschieben sich während der Probe, das erschwert die Kommunikation. Man kann nicht von innen und außen sprechen. Das, was aus dem Raum ausgeschlossen wurde, kann durchaus wie der Elefant im Raum stehen, der nicht im Raum steht und ohne im Raum zu stehen, im Raum ist. Unvorhersehbar und unsichtbar. Wie eine Eidechse, die sich den Farben ihrer Umgebung anpasst, passt sich der Elefant wechselnden Inhalten an, die auf ihn projiziert werden, um verschwiegen zu werden, auf ihren Einschluss wartend.

Eran Schaerf, Bildender Künstler, ist Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Bildende Kunst. An „Wo kommen wir hin“ ist er mit der Performance Schnappschuss beteiligt, die vom 18. Mai bis 2. Juni 2019 täglich von 17 bis 17.30 aufgeführt wird. Sie handelt vom Umgang der Gesellschaft mit Erzählungen, die ihre konstitutive Erzählung unterbrechen, und ist Teil von Kathrin Rögglas Projekt „Der Elefant im Raum“.