26.4.2007

11. Akademie-Gespräch am 25. April 2007 "Das Fernsehen und die Kultur" - Einführung von Klaus Staeck

Als wir uns vor acht Wochen hier eingefunden haben, um über das Radio und die Kultur zu diskutieren, habe ich mir erlaubt, ein paar Jahre, auch ein paar Jahrzehnte zurückzublicken. Mit dem schlichten Ziel, frühere Emphase und frühe Ernüchterung einfach zusammenzuspannen: Beides gehört nämlich unbedingt zur langen Geschichte der ewig alten und ewig jungen Frage, wie denn die Medien und die Kultur zusammengehen.
Eine Frage übrigens, die oft mit einer Klage beantwortet wurde, bei jeder weitreichenden technischen Neuerung oder gar Umwälzung: der Klage nämlich, dass die neuen Medien – Schrift, Buch, Zeitung, Film, Radio, Telefon, Fernsehen, Computer – eher der Beginn einer verlustvollen Reise seien: weg von der Kultur, hin zur folgelosen Zerstreuung oder zur folgereichen Verdummung.
Auch diesmal, wo es um das Bruderthema Fernsehen und Kultur geht, will ich Ihre Erinnerung beanspruchen.
Wolfgang Kraus, lange Zeit beim österreichischen Rundfunk ein phantasievoller Medien-Arbeiter und Gründer der österreichischen Gesellschaft für Literatur, hat 1989 – also vor bald 20 Jahren – bei Fischer ein Buch vorgelegt. Sein Titel: „Neuer Kontinent Fernsehen“. Der Untertitel: „Kultur oder Chaos“. Die Fragestellungen werden Ihnen vertraut vorkommen. Hat die Kultur im Fernsehen eine Chance?
Ist das Fernsehen überhaupt ein Teil der Kultur oder das Medium ihrer Zerstörung?
Seine Buch-Antworten wiederum mag man als das gewöhnliche Sowohl/Als qualifizieren, doch lassen sie sich auch anders lesen: als Versuch einer kontinentalen und damit fundamentalen Eroberung.
Denn Kulturpessimismus, das ist seine Generalthese, können und dürfen wir uns nicht leisten. Im Fernsehen, so sein Befund, steckten große Potentiale, die zu nutzen seien. Das Fernsehen sei ein Kontinent an Wirklichkeit und Wirklichkeiten, der sich noch nicht im vollen Ausmaß erhoben habe.
Für manche Beobachter immer noch provozierend an Kraus’ Beschreibung: Es hänge nicht allein von den Machern, sondern zum großen Teil auch vom Publikum ab, wie der Fernseh-Kontinent aussehe.
Wie es um das Verhältnis Publikum/Macher steht, das war schon vor acht Wochen hier ein umstrittener Punkt. Denn natürlich wirkt kraftvoller und entschiedener, wenn die Verantwortung eindeutig zugesprochen wird. Aber ob in einer Gesellschaft der Verflechtungen überhaupt Eindeutigkeiten zu haben sind, das ist mehr als zweifelhaft.  Doch dies wird sicher auch heute ein Diskussionspunkt sein.
Wie auch immer: Geradezu niedlich liest sich heute, wenn Wolfgang Kraus 1989 über die Technik spricht -- für ein damaliges Fernsehen der Zukunft. Satelliten-TV, vier Programme auf einem Kanal, die Norm D2Mac, das Sich-Einfädeln des Glasfaserkabels, dort dann 60 Fernsehprogramme auf einmal. Er deutete es damals als ein „Hauptgeschehen unserer Jahrzehnte“.
Heute wissen wir: Ja, das stimmt, aber die Dimensionen sind noch viel ungeheurer als  damals angenommen, die prognostizierte Rasanz und die Phantastik der technischen Entwicklung bargen und bergen in sich ein unglaubliche Steigerungsrate.
Heute hat der technische Beschleunigungsprozess einen klaren Ursprungsnamen: Digitalisierung. In der Folge verändert sich die Medienlandschaft tiefgreifend und in hohem Tempo. Ich nenne noch einmal die wichtigsten Kennzeichen dieser Änderung: eine hohe Individualisierung, gekennzeichnet von durchgängiger Verfügbarkeit. Mithin: Inhalte jeglicher Art, um ein neutrales Wort zu gebrauchen, können jederzeit an jedem Ort auf immer universelleren Geräten empfangen werden.
Digitalisierung, das bedeutet vornehmlich: Die Transportwege und  Verbreitungsformen spielen eine immer geringere Rolle. Statt dessen wird Verschmelzung ein Hauptmerkmal sein. Ebenso wie die zielgenaue Adressierung – und die ebenso zielgenaue Abrechnung.
Immer mehr, immer schneller, immer billiger, überall – was Produktionen und Verbreitung betrifft: Das wäre die Grundformel. Was bedeutet: Die Medien verlieren mehr und mehr ihre alten Trennlinien. Hybridformen – Töne, Bilder, Texte – sind in der neuen Technik angelegt.
Meine – und sicher auch unsere – Frage: Bedeutet diese potentiell hochgradige Individualisierung schon bald eine Abkehr von allen linearen Formen herkömmlicher Programme? Ist die Abrufbarkeit von beliebigen medialen Formen die Hauptlinie und das Hauptmerkmal der Zukunft?
Wird damit aber vielleicht das Ziel schon im Ansatz obsolet, über sinnvoll komponierte Programme im zeitlichen Ablauf und im Raster einen gemeinsamen Gesprächs- und damit Verständnisraum für möglichst viele Bürger eines sich selbst definierenden Gemeinwesens zu schaffen?
Löst sich Kultur als Deutungsnetz der Welt auf, weil die Vermittlung selbst als zwar unendlich fein gesponnenes Netz gesehen wird, aber mit dem Nebeneffekt, dass es im subjektiven Erleben zerfasert?
Auf den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik, einem Forum des ZDF zur Selbst- und Fremdvergewisserung, hat der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren einem Rundfunk, der sich als Gesellschaftsforum versteht – und damit als Institution der Öffentlichkeit  – durchaus eine Chance gegeben. Die etablierten Massenmedien, so seine Prognose, würden zwar aufgrund der veränderten Technik ihre Position als Flaschenhals, durch den alles gehe, einbüßen. Dafür sorgten die neuen Akteure und Anbieter auf den neuen digitalen Plattformen, die keine Publizisten und Journalisten im herkömmlichen Sinne mehr seien. Doch könne der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Position als „Institution Publizistik“ sehr wohl behalten, denn erst eine gesellschaftsweit anerkannte Auswahl weise Ereignissen Relevanz zu. Es gehe um das Ziel einer verlässlichen Orientierung durch publizistische Ordnung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse sich dabei auf einen sozialen Wandel einstellen, der mit Flexibilität, mit mehr Individualisierung, mit Wertepluralität und Mobilität verbunden sei. Was bedeute, dass sich die Art verändere, wie sich Ordnung in der Gesellschaft bilde.
Sprich: Der Rundfunk könne sich nicht mehr auf nationalstaatliche Politik und auf das Verfassungsrecht verlassen, sondern er müsse sich gegenüber der Gesellschaft selbst begründen und legitimieren, müsse selbst Netzwerkfähigkeiten entwickeln.
Überhaupt, Jarren verwendete den Begriff des Netzes phantasievoll. Er skizzierte nämlich prinzipiell für sein Öffentlichkeitsmodell „netzwerkähnliche Strukturen“, die sich zusammensetzten aus einer „Vielzahl von unterschiedlichen Kommunikationsarenen“. Die wiederum auf drei Ebenen zu finden seien: einer massenmedial bestimmten Ebene, einer darunter liegenden Ebene der Themenöffentlichkeit, und auf einer Ebene der unvermittelten Alltagskommunikation.
Auch der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger sieht einen solchen Funktions- und Statuswandel als notwendig an. Auch er sieht das „Nadelöhr öffentlicher Kommunikation“ nicht mehr auf der Anbieterseite, sondern auf der Seite der Nutzer – die tatsächlich im Internetzeitalter quantitativ und qualitativ überfordert seien.
Worauf es nun ankomme: die an vielen Stellen isoliert stattfindenden Diskussionen zu einem Thema zu vernetzen. Das bedeute: Abschied vom Massenpublikum, Abschied also auch von der großen Reichweite. Hier müsse der öffentlich-rechtliche Rundfunk neu ansetzen, hier finde er seine Aufgabe und Funktion der Integration.
Hier wäre also auch anzusetzen, um den vom ZDF-Intendanten beschworenen public value, den öffentlichen Wert -- besser vielleicht: den Mehrwert der Öffentlichkeit – zu umreissen, um den es beim Rundfunk als Medium der Kultur gehen sollte, gehen müsste.
 Um diese neue Perspektive muss jede Diskussion erweitert sein, welche sich der Frage widmet, welche Zukunft die Kultur im Fernsehen hat, welche Zukunft das Fernsehen als Kultur hat – als wahrscheinlich immer noch wichtigstes Medium der Alltagskultur.
Dass es, öffentlich-rechtlich verfasst, seine idealiter immer gesellschaftsdienende Rolle oftmals nur unzureichend oder an manchen Stellen gar nicht ausfüllt, das wiederum ist eine oft gehörte Kritik und Klage.
Populismus, Formatierung, Verdrängung wichtiger Programme in Randzonen, Hineingleiten in eine Verflachungsspirale: lauter Hauptvorwürfe, die sich an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk richten. Gesehen – und kritisiert – werden Marktanpassung, Angleichung, inhaltlich-formale Konvergenz zu den Angeboten der privaten Sender. Ideale der Konzentration, der Vielfalt, des formalen Reichtums, der hohen handwerklichen Standards, des größtmöglichen künstlerischen Spektrums würden hingegen verraten an Marketing-Muster und die Schein-Diktate des Massenerfolgs. Statt auf die individuelle produktive Auseinandersetzung mit vielfältigen, sorgfältig ausgearbeiteten Inhalten zu setzen, gelte in vielen Programmfeldern als höchstes Kriterium der Marktanteil oder auch die absolute Zuschauerzahl. Sprich: Quantität sei wichtiger als Qualität.
Wir haben schon bei unserer Radiodiskussion festgestellt: in einfache Schwarz-Weiß-Schemata lassen sich weder die Fragen noch die Antworten einpassen zum Verhältnis Qualität und Quote, zum Verhältnis der individuellen Produktivität und der Interessen mehr oder weniger bedeutsamer Mehrheiten.  Doch genau darin liegen die großen Chancen –  indem wir die vorhandenen Spannungen produktiv machen, und fragen: Wie steht es um das Verhältnis von Kultur und Fernsehen, wie sieht sie aus, die Fernsehkultur, wie sollte sie aussehen?
Denn sicher ist, und hier kann ich ohne Gefahr noch einmal Wolfgang Kraus zitieren: „Der Kontinent des Fernsehens ist geschichtlich gesehen außerordentlich jung, zwar geboren und in atemberaubenden Wachstum, aber längst noch nicht fertig“.
Bitte schön, bauen wir heute weiter an einer lebenswerten Form.

Die Akademie-Gespräche können Sie auch als mp3-Datei hören oder herunterladen: http://blog.adk.de


Das Radio und die Kultur

Positionen der Akademie der Künste nach dem
9. Akademie-Gespräch vom 19. 2. 2007 „Das Radio und die Kultur“


1.
Mit seinem „Grundstrom der Mündlichkeit“ (Alexander Kluge), als Vermittler, Produzent und kritischer Begleiter kultureller Darbietungen, als Instrument der Demokratisierung und auch mit seinen Traditionen demokratischer Bewusstseinsbildung gehört das öffentlich-rechtliche Radio zur Kultur unserer Zeit. Es ist nicht allein ein neutrales „Medium“, sondern ein „Kulturgut“ und überdies einem Auftrag unterworfen, wie er für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk generell in § 11 des Rundfunkstaatsvertrags von 1991 festgelegt ist: „Sein Programm hat der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten“.

2.
In der Praxis haben sich in den letzten Jahren allerdings Wandlungen vollzogen, die die Frage aufwerfen, ob und wie das Radio diesem Programmauftrag gerecht wird. Bei allen Landesrundfunkanstalten hat inzwischen die Aufgliederung in Hörfunk-„Sparten“ bzw. „Formate“ dazu geführt, dass anspruchsvolle Wort- und Musiksendungen in sogenannten Kultur- oder Klassik-Programmen untergebracht werden, die in gewisser Weise auf die Tradition der Dritten Programme zurückgreifen, sie allerdings auch durch ein Verengen beispielsweise des Musikangebots („Klassik“, definiert durch Kompositionen vornehmlich des 17. bis 19. Jahrhunderts) hinter sich lassen. Beklagt werden „Verflachung“ und „Berieselung“. Auch beim Deutschlandradio sind „Information“ (Deutschlandfunk) und „Kultur“ (Deutschlandradio Kultur) wenigstens nominell zwei getrennten Programmen zugeordnet.

3.
Mit seiner Aufgliederung in „Sparten“ und „Formate“ lehnt sich das öffentlich-rechtliche Radio an die kommerziellen, privaten Radioprogramme an. Deren Profilierung durch „Musikfarben“, Moderatorenstimmen und ähnliche auf Marktforschung beruhende Charakteristika ist inzwischen auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk übernommen worden. An allen Sendern bestimmen Marketingabteilungen wesentlich die Programmgestaltung, womit sie oftmals freies Entscheiden der Redaktionen begrenzen. Mit allen diesen Charakteristika ist das „Kulturradio“ und seine Orientierung auf Hörerakzeptanz zunächst eine Gegebenheit, die zumindest im Blick auf bestehende Programmstrukturen nicht wegzudiskutieren ist. Andererseits darf sie nicht den Blick darauf verstellen, dass das Radio insgesamt Träger von Kultur ist. Dies bedeutet, dass bei Erörterungen seiner kulturellen Potenz auch andere Programme berücksichtigt werden sollten.

4.
Im Zuge seiner „Modernisierung“, die sich als Anpassung an veränderte Hörergewohnheiten darstellt, ist es beim sogenannten Kulturradio inzwischen zum Streit um „Einschalt-“ vs. „Begleit“-Programme gekommen. Werden längere und anspruchsvollere Beiträge (Hörspiele, Features, Essays, Lesungen, Konzerte) eher im Abend- und Nachtprogramm sowie am Wochenende gesendet, wo sie der Hörer gezielt „einschalten“ soll, so ist die übrige Zeit einem „Tagesbegleitprogramm“ vorbehalten, das durch Kürze der Beiträge, einen abwechslungsvollen Magazincharakter, sowie einen speziellen, auf Zerstreuung ausgerichteten Tonfall der Moderatoren und Autoren gekennzeichnet ist. Dabei sind unterschiedliche Ausformungen dieses Modells zu beobachten: verstehen es etwa Bayern 2 Radio, der SWR 2 oder Deutschlandradio Kultur, mit einem „Mischangebot“ Elemente des „Einschalt“- und des „Begleit“-Radios zu kombinieren, so scheint beim RBB-Kulturradio oder bei NDR Kultur der Abbau anspruchsvoller Wortbeiträge und längerer Musiksendungen im Tagesprogramm am weitesten fortgeschritten. Einigen Beobachtern zu Folge ergibt sich so bei den Landesanstalten ein Qualitätsgefälle von Süd nach Nord.
Bei der Neubesetzung von Moderatoren, die einem „Tagesbegleitprogramm“ entsprechen sollten, haben einige Sender auf der Suche nach All-Round-Talenten  spürbare Qualitätsmängel in Kauf genommen. Maßstab für die Auswahl und Ausbildung von Moderatoren für kulturorientierte Radioprogramme kann jedoch nur intellektuelle und kulturpolitische Kompetenz sein. Wer ein Kulturprogramm präsentiert, muß dem Anspruch der Hörer wie den Inhalten der Sendung gewachsen sein.

5.
Anlass zu den jüngsten, nach ihrer Einführung jedoch teilweise wieder revidierten Programmreformen beim Kulturradio ist ein durch Ergebnisse der Medienforschung (gesunkene Einschaltquoten) festgestellter Hörerschwund. Seinen Grund sehen die Reformer im Auseinanderklaffen bisheriger Kulturradioprogramme und einem veränderten Hörverhalten, wie es prototypisch in einer Untersuchung zum Kulturradio festgehalten wird: „Nur die wenigsten Nutzer wollen noch konzentriert einer längeren Sendung gezielt zuhören, sich auf ein Musikwerk einlassen, und wahrscheinlich könnten dies auch nur noch die wenigsten Menschen, denn die Fähigkeit zum Zuhören ist immer mehr verloren gegangen“ . Dieser Ansicht folgend gilt bei Musik- aber auch bei Wortbeiträgen zerstreutes Wahrnehmen flüchtiger Hörereignisse als „modern und „jung“ und intensives Zuhören als eher selten, ja „veraltet“. Dem widerspricht allerdings eine gewachsene „Kultur des Hörens“, wie sie in anderen Sparten zu beobachten ist. Zu nennen sind der Boom der Hörbücher, die in großer Zahl Radioproduktionen sind, die zunehmende Attraktivität des Auditiven, wie sie in eigenen (Amateur-) Produktionen, sowie in Herstellung und Austausch von „Audioblogs“ im Internet zum Ausdruck kommt, oder der massenhafte Zuspruch, den Musikfestivals wie „Ultraschall“ mit ihren oft ebenso langen wie schwierigen Programmen neuerdings gerade bei jungen Leuten finden. Zu fragen ist: wie kann dieser Widerspruch in der Gestaltung von Radioprogrammen aufgelöst werden?

6.
In der Folge der jüngsten Programmreformen beim Kulturradio kam es zu massiven Hörerprotesten, gerichtet gegen „Zerstückelung“ und „Häppchenprogramme“ im „Tagesbegleitprogramm“, gegen die Begrenzung seiner Wortbeiträge auf maximal 3 Minuten, sowie gegen das Abspielen nur noch einzelner Sätze aus dem Repertoire der E-Musik. Eine Flut entsprechender Leser- und Hörerbriefe sowie die Bildung von Hörerinitiativen lassen inzwischen erkennen, dass es weiterhin Hörer gibt, die sich eine „anspruchsvolle“ Gestaltung auch des Tagesprogramms der Kulturradios wünschen, aber auch: dass sich dieser eher kleine Hörerkreis durch starke Sender- und Programmbindung, sowie durch Entschiedenheit des Urteils auszeichnet. Die Ansprüche dieser Hörer sind berechtigt, ohne dass damit deren teilweise vorhandener Fundamentalismus legitimiert wäre. Verfehlt wäre es, „Qualität“ einzufordern, ohne sie an veränderten Hörgewohnheiten zu messen. Verfehlt wäre es insbesondere, sie in einer Rückkehr zu den „alten“ Radioprogrammen verwirklicht zu sehen. Vor allem aber ist zur Kenntnis zu nehmen, dass sich neben diesem Hörerkreis längst andere Hörertypen gebildet haben, die mit dem Kulturradio (noch) nicht erreicht werden.

7.
Unabhängig von den Ergebnissen der Medienforschung wäre jedoch ein Kulturbegriff zu entwickeln, der sich nicht an Hörertypen allein (den „Traditionellen“ hie, den „neuen Kulturinteressierten“ da ) orientiert, sondern am „Auftrag“ von Kultur und Bildung. Kultur und Bildung sind kein Selbstzweck, schon gar nicht durch eine „Holschuld“ der Hörer einzulösen. Ihren Auftrag kann das Radio nur realisieren, indem es Neugier weckt. Dazu gehört, der Spartentrennung in „Kultur“ (anspruchsvolle Wortprogramme), „Klassik“ (anspruchsvolle Musikprogramme) „Information“ und „Unterhaltung“ mit einem Programmangebot zu begegnen, das Elemente des „anderen“ nicht ängstlich ausklammert, sondern sie in das jeweilige Programmprofil integriert. „Anspruchsvolles“ kann auch unterhaltsam sein, politische Themen können und sollen auch „kulturell“ aufgearbeitet sein, Kulturthemen können auch die Brisanz von Nachrichtenmagazinen haben (die Feuilletons der großen Tageszeitungen zeigen es). Die Hinwendung hierzu ist bei einigen Radioprogrammen bereits zu beobachten. So scheinen reine Klassikwellen auf dem Rückzug zu sein. Nach dem Einstellen von HR Klassik ist Bayern 4 Klassik das einzige Programm dieses Typus. Und auch hier scheint inzwischen eine Öffnung über die reine Klassik hinaus stattgefunden zu haben. Schon dies zeigt: Ansprüche an das Radio, Lobbyarbeit für dessen Zukunft können sich nicht in abstrakter Entgegensetzung erschöpfen, sondern müssen berücksichtigen, dass Radioprogramme im Fluss sind und sich Impulse für Neues auch aus der Programmbeobachtung ergeben. Zu messen ist das Radio letztlich daran, ob es ihm gelingt, neue Sprachen des Wortes, der Musik und der Klänge zur Geltung zu bringen.

8.
Über das Anprangern hinlänglich bekannter Gefahren hinaus, die dem Radio gegenwärtig drohen (Einsparungen, Musik als Dauerberieselung, Kürzung der Wortanteile, sowie deren populistisch anbiedernde Ausformung, Fehlentwicklungen einer auf Fachterminologien der “Medienforschung am grünen Tisch“ gestützten Programmausrichtung, nicht zuletzt der Schatten, den das Fernsehen über das Radio wirft) gilt es, die Spezifik des Radios und seine offenkundigen Stärken im Auge zu behalten. Sein relativ geringer technischer Aufwand auf Sender- wie Empfängerseite ermöglichen Nähe und Beweglichkeit. Als Medium für das Ohr und als „erzählendes“ Medium ist es dem gesprochen Wort verpflichtet und verkörpert somit Basiseigenschaften der Demokratie. Es verfügt über einen großen Reichtum von Stimmen und Tonlagen und ist so in der Lage, sich allen Lebenslagen und Orten anzupassen. Darüber hinaus stimuliert es gerade durch seine Beschränkung auf das Ohr und seine Mittel des kreativen Umgangs mit Klangmaterial aller Art die Phantasietätigkeit des Hörers. Eingebunden in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verfügt es über eine Vielzahl regionaler Färbungen, die damit auch einem großen Radius von Ansprüchen entgegenkommen und ihrerseits zur Hörernähe beitragen. Als aktuelles Medium und – mit den angehäuften Schätzen seiner Schallarchive – als mediales Gedächtnis unserer Epoche zeichnet es sich durch eine große Bandbreite von Möglichkeiten aus. Nicht zuletzt sind die Radioanstalten mit ihren Klangkörpern, als Veranstalter von Konzerten, Performances und Festivals, als Produzenten von Hörspielen, Features und Lesungen, sowie als Auftraggeber von Autoren ein bedeutender Kulturfaktor. Auch wenn eine fortschreitende Digitalisierung des Radios durch Internetradio, Podcast und Audioblogs möglicherweise zur Abkehr von den linearen Programmen führt, können sich die spezifischen Möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Radios auch unter diesen Bedingungen behaupten.


Teilnehmer des 9. Akademie-Gesprächs „Das Radio und die Kultur“ waren Gerhart-Rudolf Baum, Bundesinnenminister a. D., Vorsitzender des NRW-Kulturrats; Wolfgang Hagen, Leiter der Abteilung Kultur und Musik, Deutschlandradio Kultur; Uwe Kammann, Direktor des Adolf-Grimme-Instituts; Christoph Lindenmeyer, Koordinator für kulturelle Beziehungen und Projekte, Hörfunkdirektion Bayerischer Rundfunk; Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste; und Johannes Wendt, Kulturjournalist, der mit einem Statement zur Situation des Kulturradios im Zeitalter der Digitalisierung in den Abend eingeführt hatte.

Berlin, 19.3.2007

Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste


 

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