Erfahrungsraum der Dinge
Kunst und Migration 1933–1945: Dokumente und Objekte aus dem Archiv der Akademie der Künste
„immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.
Das heißt doch auswandrer. aber wir
wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschlusse
wählend ein andres Land. [...]"
Bertolt Brecht, Über die Bezeichnung Emigranten, 1937
Bertolt Brecht lebte mit seiner Familie bereits vier Jahre im dänischen Exil, als er 1937 das Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten verfasste. Es ist eine Selbstverständigung im Ton eines Lehrgedichts. Der Dichter erklärt sich und uns die Differenz zwischen Flucht und Auswanderung. Doch die Gelassenheit täuscht. Der Text ist eine existentielle Ortsbestimmung. Diese Exilanten werden sich nicht abfinden. Mit ihnen ist noch zu rechnen.
Die Aktualität des Gedichtes ist ungebrochen. Die Emigranten könnten von heute sein. Auch wenn die Fluchtursachen andere sind, die Unsicherheit, in der sich damals wie heute Menschen auf der Flucht, in verschiedenen Exilländern befinden, verbindet sie. Sie sind in Sorge um ihre Angehörigen, haben ihre Existenzgrundlage verloren, bangen um ihre Zukunft, hoffen auf eine Veränderung der politischen Lage in ihrer Heimat.
„Die Angst weicht nicht mehr von mir; und am schlimmsten ist, dass ich ihre Ursachen schon nicht mehr auseinanderhalten kann, es sind zu viele.“
Heinrich Mann an Félix Bertaux, Nizza, 27. März 1939
Die Biografien von Künstlerinnen und Künstlern, die während des Nationalsozialismus fliehen mussten, sind geprägt von Verfolgung und Abschied, von Ort- und Sprachlosigkeit angesichts des Verlustes von vertrauten Kultur- und Sprachräumen. Ihr gewohntes Leben, künstlerisches Schaffen, ihre Pläne und Ideen wurden jäh unterbrochen. Wie ertragen sie das Gefühl der Ausweglosigkeit? Welche Ängste haben sie und welche Erfahrungen machen sie in der Fremde? Gelingt ein Neuanfang, ein „Denken ohne Geländer“, das Hannah Arendt als die Offenheit gegenüber instabilen Zuständen und einer ungewissen Zukunft beschreibt?
Es sind einfache Gegenstände und Dokumente, die von Flucht- und Exilerfahrungen zeugen. Auf den ersten Blick sind sie unscheinbar. Ein Taschenkalender. Eine Puppe. Ein Pass. Ein rotes Stück Stoff. Doch an ihnen hängen Erinnerungen und Geschichten. Die besonderen Umstände, in denen sie geschaffen oder verwendet wurden, machten sie für die Menschen, denen sie gehörten, so wertvoll. Sie wurden in den schwierigsten Umständen mitgenommen, aufgehoben und bewahrt; sie waren unersetzlich.
„Die völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz.“
Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, Lourdes, 2. August 1940
Die Dinge erzählen vom Verlust, von den Vorbereitungen und Entscheidungen, die urplötzlich getroffen werden mussten, und von Verzweiflung und Not. Sie erzählen aber auch vom Gerettetsein, von Rückkehr und vom Überdauern. Sie haben den Weg ins Archiv der Akademie der Künste gefunden und halten bis heute die Erinnerung an das Erlebte wach. Es sind Zeichen existentieller Krisen, der Resignation, aber auch Sinnbilder eines ungebrochenen Schaffens- und Überlebensdrangs. Sie haben Fluchtwege begleitet und kommentiert, sie wurden zu Stellvertretern des zurückgelassenen Ortes und stellten Verbindungen her zu den Vertrauten in der Ferne.
„Ich erwarte Eure Briefe wie früher den Besuch der besten Freunde.“
Anna Seghers an F.C. Weiskopf, Bellevue, Frankreich, [Anfang Februar 1940], Original französisch
Wer sich auf die Gegenstände einlässt, die Handschriften entziffert und die Aufmerksamkeit auf scheinbar Nebensächliches richtet, für den werden sie lebendig. Was sie mitteilen, liegt oft in Gebrauchsspuren und Randnotizen. Sie haben keine eindeutigen Antworten parat, sie bergen Unaussprechliches und geben Rätsel auf. Hat sich Kurt Tucholsky einen Revolver angeschafft, um sich den radikalsten Ausweg – den Freitod – offenzuhalten? Der letzte Eintrag in sein Sudelbuch von 1935 legt das nahe. Er hat die Wörter „Sprechen“, „Schreiben“, „Schweigen“ als Stufenabfolge angelegt, die seine tiefe Resignation zum Ausdruck bringt. Zensur, Schreibverbot und schließlich das Verbrennen seiner Bücher bestätigten ihm die Vergeblichkeit seiner Mahnungen. In welchem Moment wurde Heinrich Mann sein Abschied vom alten Europa bewusst? Ein banaler Gebrauchsgegenstand, sein Taschenkalender von 1933, aufgeschlagen auf der Seite der letzten Februarwoche, lässt die Tragweite der Situation erahnen. Der lakonische Eintrag „abgereist“ am 21. Februar korrespondiert mit den Kalendernotizen, Tagebucheinträgen und Briefen zahlreicher anderer Künstlerinnen und Künstler, die nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten den Repressalien zum Opfer fielen und fliehen mussten.
„Ich will nicht abreisen.“
Arnold Zweig, Kalendereintrag, 1. März 1933, vor der Flucht aus Berlin nach Palästina
Was erhoffte sich Walter Benjamin von seinem Freund Theodor W. Adorno, als er ihm in einem Brief von 1940 seine Sorge um den Verbleib seines literarischen Werkes mitteilte? Wer hatte die Idee, den kostbaren handschriftlichen Brief von Heinrich Heine, der Anna Seghers im Exil als Notgroschen dienen sollte, in der Puppe eines Kindes zu verstecken, um ihn sicher über die Grenze zu bringen? Wie gelang es der Malerin und Grafikerin Lea Grundig, inneren Abstand zu den traumatischen Erfahrungen auf einem maroden und völlig überfüllten Flüchtlingsschiff zu gewinnen, auf dem sie 1940 monatelang unterwegs war? Was wird benötigt, um sich, schließlich im Exil angekommen, eine neue Existenz aufzubauen? Wie blickt die Mehrheitsgesellschaft auf die ins Land kommenden Flüchtlinge? Wie lässt es sich leben „möglichst nahe den Grenzen“?
„Packen und Placken unser Leben.“
Bruno Taut, Tagebucheintrag, 13. September 1933, vor dem Aufbruch nach Tokio
Dass die erzwungene Situation nicht nur mit Verlust und Not einherging, sondern auch neue Kulturräume erschloss, zeigen in Japan entstandene Schriften und Zeichnungen von Bruno Taut oder die Entdeckung neuer Techniken, die der Maler und Lithograf David Ludwig Bloch in seinen Tuschezeichnungen alltäglicher Straßenszenen Shanghais in Skizzenbüchern einsetzte, die er mit typischer chinesischer Fadenbindung anfertigte.
Die Auswirkungen von Flucht und Exil auf Leben und Werk der in der Ausstellung vertretenen migrierten Künstlerinnen und Künstler sind sehr unterschiedlich. Die Notwendigkeit, den Ort des eigenen künstlerischen Schaffens und Lebens unablässig neu zu bestimmen, endet nicht in der vermeintlichen Sicherheit des Exils. Ist das Leben im Exilland auf Dauer angelegt? Ist die Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland überhaupt eine Option? Was bedeutet Zurückkommen?