Musik – Mitglieder

Sir Michael Tippett

Komponist, Dirigent

Am 2. Januar 1905 in London geboren,
gestorben am 8. Januar 1998.
Von 1976 bis 1979 Außerordentliches Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (West), Sektion Musik.
Von 1979 bis 1993 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (West), Sektion Musik.
Von 1993 bis 1998 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Musik.

Nachruf

In seiner 3. Sinfonie, komponiert 1973, zitiert Michael Tippett das berühmte Schlußthema aus Beethovens 9. Sinfonie Alle Menschen werden Brüder, das Credo seines Lebens. Michael Tippett war ein Künstler mit einer Vision. Sicherlich war ihm klar, daß seine Vision nicht erfüllt werden konnte, doch schon der Versuch, sie zu verwirklichen, gab ihm den Impetus, sich in seiner Musik auszudrücken, wie er es getan hat.
Michael Tippett war Kommunist. Während der zwanziger Jahre hat er Chöre und Orchester arbeitsloser Musiker dirigiert. Gleichzeitig war er Pazifist. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, lehnte er jegliche Teilnahme am Kriegsgeschehen ab. Vor die Wahl der Militärbehörden gestellt, entweder Zivildienst zu leisten oder ins Gefängnis zu gehen, blieb er seiner Überzeugung treu.
Auch im Gefängnis kann das Leben voller Ironie sein. Benjamin Britten und Peter Piers, auch sie Pazifisten, denen aber - ihrer allgemeinen Anerkennung wegen - die Demütigungen eines Michael Tippett erspart blieben, gaben oft in Gefängnissen Konzerte. In so einem Konzert bekam Tippett die Gelegenheit, für seinen Bekannten Benjamin Britten umzublättern. Seine Mutter, eine aktive Frauenrechtlerin, wurde einmal in einem Interview gefragt, ob sie stolz auf ihren Sohn sei. Sie antwortete: "Ich war nicht besonders stolz, bis er ins Gefängnis ging." Tippett war Kommunist, Pazifist und bekennender Homosexueller, und das zu einer Zeit, als Homosexualität in Großbritannien strafbar war. All dies hat ihn in den Augen der Öffentlichkeit ziemlich suspekt gemacht. Aber die Bedeutung seiner Kompositionen konnte nicht übersehen werden. Nach dem großen Erfolg seines Concerto for Double String Orchestra (1939) mußte er ernst genommen werden - trotz seines gesellschaftlichen Auftretens. Man schmunzelte gern über ihn und seinen eigentlichen Rivalen Britten. Und es gab sogar äußerst bissige Kommentare: Britten sei ein Idiot, Tippett ein Vollidiot.
Während des Krieges komponierte Tippett sein wahrscheinlich berühmtestes Werk, das Oratorium A child of our time. Es ist ein bekennendes Werk seiner Philosophie. Die Komposition machte einen großen Eindruck auf die englische Musikwelt zu einer Zeit, als es noch nicht sicher war, ob der Naziterror auf dem Kontinent besiegt werden würde. Als ich in London studierte, besuchte ich die Uraufführung seiner ersten Oper, King Priam, die 1955 in Covent Garden stattfand. Da Opernaufführungen gewöhnlich mit Skepsis begegnet wird, kann ich mich erinnern, daß das Publikum nur auf eine Gelegenheit wartete, sich über das Werk lustig zu machen. Die Gelegenheit kam, als ein Tänzer auf der Bühne das Becken zu schlagen hatte, koordiniert mit Beckenschlägen aus dem Orchestergraben. Dies mißlang, und das Unvermeidliche geschah - das Publikum brach in schallendes Gelächter aus.
King Priam wurde ein Mißerfolg. Die deutsche Erstaufführung dieses Werkes jedoch an der Bayerischen Staatsoper München, Anfang 1998, brachte dem Werk einen großen Erfolg ein. Leider konnte Tippett an diesem Triumph nicht mehr teilnehmen, denn er starb zwei Wochen vor der Premiere.
Englische Musik hat es in Deutschland schwer. Die zeitgenössische deutsche Musik hat es allerdings in Großbritannien ebenso schwer. Manchmal habe ich den Eindruck, daß eine Art Eiserner Vorhang die Musik in Europa trennt. Auf einer Seite Großbritannien, Holland und die Skandinavischen Länder - dazu als Verlängerung die USA -, auf der anderen Seite Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien. Ein Austausch findet kaum statt. Tippetts Musik ist in Mitteleuropa wenig bekannt. Ihre Ästhetik ist weit entfernt von dem, was hierzulande unter neuer Musik verstanden wird. Doch seine Bedeutung als einer der wichtigsten Komponisten dieses Jahrhunderts steht außer Frage. Tippett war ein Mann mit einer Vision, die er sein Leben lang konsequent verfolgt hat. In seiner Musik ist dies zu hören. Während der letzten Jahre seines Lebens fand Tippetts Musik ein breites Publikum in den angelsächsischen Ländern. Ihm ist zu wünschen, daß sein Werk nach und nach diese Anerkennung auch auf dem Kontinent erfahren wird.

Gerald Humel