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MEDIENPOLITIK

Das Fernsehen und die Kultur

11. Akademie-Gespräch in der Akademie der Künste,
Berlin, 25. April 2007

Einführung von Klaus Staeck

Als wir uns vor acht Wochen hier eingefunden haben, um über das Radio und die Kultur zu diskutieren, habe ich mir erlaubt, ein paar Jahre, auch ein paar Jahrzehnte zurückzublicken. Mit dem schlichten Ziel, frühere Emphase und frühe Ernüchterung einfach zusammenzuspannen: Beides gehört nämlich unbedingt zur langen Geschichte der ewig alten und ewig jungen Frage, wie denn die Medien und die Kultur zusammengehen.
Eine Frage übrigens, die oft mit einer Klage beantwortet wurde, bei jeder weitreichenden technischen Neuerung oder gar Umwälzung: der Klage nämlich, dass die neuen Medien – Schrift, Buch, Zeitung, Film, Radio, Telefon, Fernsehen, Computer – eher der Beginn einer verlustvollen Reise seien: weg von der Kultur, hin zur folgelosen Zerstreuung oder zur folgereichen Verdummung.
Auch diesmal, wo es um das Bruderthema Fernsehen und Kultur geht, will ich Ihre Erinnerung beanspruchen.
Wolfgang Kraus, lange Zeit beim österreichischen Rundfunk ein phantasievoller Medien-Arbeiter und Gründer der österreichischen Gesellschaft für Literatur, hat 1989 – also vor bald 20 Jahren – bei Fischer ein Buch vorgelegt. Sein Titel: „Neuer Kontinent Fernsehen“. Der Untertitel: „Kultur oder Chaos“. Die Fragestellungen werden Ihnen vertraut vorkommen. Hat die Kultur im Fernsehen eine Chance?
Ist das Fernsehen überhaupt ein Teil der Kultur oder das Medium ihrer Zerstörung?
Seine Buch-Antworten wiederum mag man als das gewöhnliche Sowohl/Als qualifizieren, doch lassen sie sich auch anders lesen: als Versuch einer kontinentalen und damit fundamentalen Eroberung.
Denn Kulturpessimismus, das ist seine Generalthese, können und dürfen wir uns nicht leisten. Im Fernsehen, so sein Befund, steckten große Potentiale, die zu nutzen seien. Das Fernsehen sei ein Kontinent an Wirklichkeit und Wirklichkeiten, der sich noch nicht im vollen Ausmaß erhoben habe.
Für manche Beobachter immer noch provozierend an Kraus’ Beschreibung: Es hänge nicht allein von den Machern, sondern zum großen Teil auch vom Publikum ab, wie der Fernseh-Kontinent aussehe.
Wie es um das Verhältnis Publikum/Macher steht, das war schon vor acht Wochen hier ein umstrittener Punkt. Denn natürlich wirkt kraftvoller und entschiedener, wenn die Verantwortung eindeutig zugesprochen wird. Aber ob in einer Gesellschaft der Verflechtungen überhaupt Eindeutigkeiten zu haben sind, das ist mehr als zweifelhaft.  Doch dies wird sicher auch heute ein Diskussionspunkt sein.
Wie auch immer: Geradezu niedlich liest sich heute, wenn Wolfgang Kraus 1989 über die Technik spricht -- für ein damaliges Fernsehen der Zukunft. Satelliten-TV, vier Programme auf einem Kanal, die Norm D2Mac, das Sich-Einfädeln des Glasfaserkabels, dort dann 60 Fernsehprogramme auf einmal. Er deutete es damals als ein „Hauptgeschehen unserer Jahrzehnte“.
Heute wissen wir: Ja, das stimmt, aber die Dimensionen sind noch viel ungeheurer als  damals angenommen, die prognostizierte Rasanz und die Phantastik der technischen Entwicklung bargen und bergen in sich ein unglaubliche Steigerungsrate.
Heute hat der technische Beschleunigungsprozess einen klaren Ursprungsnamen: Digitalisierung. In der Folge verändert sich die Medienlandschaft tiefgreifend und in hohem Tempo. Ich nenne noch einmal die wichtigsten Kennzeichen dieser Änderung: eine hohe Individualisierung, gekennzeichnet von durchgängiger Verfügbarkeit. Mithin: Inhalte jeglicher Art, um ein neutrales Wort zu gebrauchen, können jederzeit an jedem Ort auf immer universelleren Geräten empfangen werden.
Digitalisierung, das bedeutet vornehmlich: Die Transportwege und  Verbreitungsformen spielen eine immer geringere Rolle. Statt dessen wird Verschmelzung ein Hauptmerkmal sein. Ebenso wie die zielgenaue Adressierung – und die ebenso zielgenaue Abrechnung.
Immer mehr, immer schneller, immer billiger, überall – was Produktionen und Verbreitung betrifft: Das wäre die Grundformel. Was bedeutet: Die Medien verlieren mehr und mehr ihre alten Trennlinien. Hybridformen – Töne, Bilder, Texte – sind in der neuen Technik angelegt.
Meine – und sicher auch unsere – Frage: Bedeutet diese potentiell hochgradige Individualisierung schon bald eine Abkehr von allen linearen Formen herkömmlicher Programme? Ist die Abrufbarkeit von beliebigen medialen Formen die Hauptlinie und das Hauptmerkmal der Zukunft?
Wird damit aber vielleicht das Ziel schon im Ansatz obsolet, über sinnvoll komponierte Programme im zeitlichen Ablauf und im Raster einen gemeinsamen Gesprächs- und damit Verständnisraum für möglichst viele Bürger eines sich selbst definierenden Gemeinwesens zu schaffen?
Löst sich Kultur als Deutungsnetz der Welt auf, weil die Vermittlung selbst als zwar unendlich fein gesponnenes Netz gesehen wird, aber mit dem Nebeneffekt, dass es im subjektiven Erleben zerfasert?
Auf den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik, einem Forum des ZDF zur Selbst- und Fremdvergewisserung, hat der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren einem Rundfunk, der sich als Gesellschaftsforum versteht – und damit als Institution der Öffentlichkeit  – durchaus eine Chance gegeben. Die etablierten Massenmedien, so seine Prognose, würden zwar aufgrund der veränderten Technik ihre Position als Flaschenhals, durch den alles gehe, einbüßen. Dafür sorgten die neuen Akteure und Anbieter auf den neuen digitalen Plattformen, die keine Publizisten und Journalisten im herkömmlichen Sinne mehr seien. Doch könne der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Position als „Institution Publizistik“ sehr wohl behalten, denn erst eine gesellschaftsweit anerkannte Auswahl weise Ereignissen Relevanz zu. Es gehe um das Ziel einer verlässlichen Orientierung durch publizistische Ordnung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse sich dabei auf einen sozialen Wandel einstellen, der mit Flexibilität, mit mehr Individualisierung, mit Wertepluralität und Mobilität verbunden sei. Was bedeute, dass sich die Art verändere, wie sich Ordnung in der Gesellschaft bilde.
Sprich: Der Rundfunk könne sich nicht mehr auf nationalstaatliche Politik und auf das Verfassungsrecht verlassen, sondern er müsse sich gegenüber der Gesellschaft selbst begründen und legitimieren, müsse selbst Netzwerkfähigkeiten entwickeln.
Überhaupt, Jarren verwendete den Begriff des Netzes phantasievoll. Er skizzierte nämlich prinzipiell für sein Öffentlichkeitsmodell „netzwerkähnliche Strukturen“, die sich zusammensetzten aus einer „Vielzahl von unterschiedlichen Kommunikationsarenen“. Die wiederum auf drei Ebenen zu finden seien: einer massenmedial bestimmten Ebene, einer darunter liegenden Ebene der Themenöffentlichkeit, und auf einer Ebene der unvermittelten Alltagskommunikation.
Auch der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger sieht einen solchen Funktions- und Statuswandel als notwendig an. Auch er sieht das „Nadelöhr öffentlicher Kommunikation“ nicht mehr auf der Anbieterseite, sondern auf der Seite der Nutzer – die tatsächlich im Internetzeitalter quantitativ und qualitativ überfordert seien.
Worauf es nun ankomme: die an vielen Stellen isoliert stattfindenden Diskussionen zu einem Thema zu vernetzen. Das bedeute: Abschied vom Massenpublikum, Abschied also auch von der großen Reichweite. Hier müsse der öffentlich-rechtliche Rundfunk neu ansetzen, hier finde er seine Aufgabe und Funktion der Integration.
Hier wäre also auch anzusetzen, um den vom ZDF-Intendanten beschworenen public value, den öffentlichen Wert -- besser vielleicht: den Mehrwert der Öffentlichkeit – zu umreissen, um den es beim Rundfunk als Medium der Kultur gehen sollte, gehen müsste.
 Um diese neue Perspektive muss jede Diskussion erweitert sein, welche sich der Frage widmet, welche Zukunft die Kultur im Fernsehen hat, welche Zukunft das Fernsehen als Kultur hat – als wahrscheinlich immer noch wichtigstes Medium der Alltagskultur.
Dass es, öffentlich-rechtlich verfasst, seine idealiter immer gesellschaftsdienende Rolle oftmals nur unzureichend oder an manchen Stellen gar nicht ausfüllt, das wiederum ist eine oft gehörte Kritik und Klage.
Populismus, Formatierung, Verdrängung wichtiger Programme in Randzonen, Hineingleiten in eine Verflachungsspirale: lauter Hauptvorwürfe, die sich an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk richten. Gesehen – und kritisiert – werden Marktanpassung, Angleichung, inhaltlich-formale Konvergenz zu den Angeboten der privaten Sender. Ideale der Konzentration, der Vielfalt, des formalen Reichtums, der hohen handwerklichen Standards, des größtmöglichen künstlerischen Spektrums würden hingegen verraten an Marketing-Muster und die Schein-Diktate des Massenerfolgs. Statt auf die individuelle produktive Auseinandersetzung mit vielfältigen, sorgfältig ausgearbeiteten Inhalten zu setzen, gelte in vielen Programmfeldern als höchstes Kriterium der Marktanteil oder auch die absolute Zuschauerzahl. Sprich: Quantität sei wichtiger als Qualität.
Wir haben schon bei unserer Radiodiskussion festgestellt: in einfache Schwarz-Weiß-Schemata lassen sich weder die Fragen noch die Antworten einpassen zum Verhältnis Qualität und Quote, zum Verhältnis der individuellen Produktivität und der Interessen mehr oder weniger bedeutsamer Mehrheiten.  Doch genau darin liegen die großen Chancen –  indem wir die vorhandenen Spannungen produktiv machen, und fragen: Wie steht es um das Verhältnis von Kultur und Fernsehen, wie sieht sie aus, die Fernsehkultur, wie sollte sie aussehen?
Denn sicher ist, und hier kann ich ohne Gefahr noch einmal Wolfgang Kraus zitieren: „Der Kontinent des Fernsehens ist geschichtlich gesehen außerordentlich jung, zwar geboren und in atemberaubenden Wachstum, aber längst noch nicht fertig“.
Bitte schön, bauen wir heute weiter an einer lebenswerten Form.