10.4.2012, 11 Uhr

Akademie der Künste trauert um Ivan Nagel

Ivan Nagel. Foto Inge Zimmermann

Ivan Nagel ist gestern in Berlin verstorben. An ihm war schätzenswert, dass er, wie es bei Robert Walser heißt, „Menschen und Gegenstände nicht rasch herunter behandelt, nur damit sie gleich wieder das Neue, das ebenfalls Aufmerksamkeit zu fordern scheint, erledigen können“.
Der 1931 in Ungarn geborene Journalist, Dramaturg, Theaterleiter und Ästhetikprofessor war für alle, die ihn in einer dieser Funktionen näher kennengelernt haben, ein süchtig nach Kunst das Drama des Lebens erforschender und genießender Theaterdenker, der auch noch im Alter Lernen als „unvergleichliches Glück“ empfunden hat. Nach dem Studium der Philosophie in Paris, Heidelberg und bei Adorno in Frankfurt profilierte sich Nagel 1959-1962 als Theater- und Musikkritiker für die „Deutsche Zeitung“. Besonders Fritz Kortners Inszenierung der Shakespeare-Tragödie „Timon von Athen“ bestimmte ihn 1962 als Dramaturg an die Münchner Kammerspiele zu gehen, um bei Kortner, einem Genauigkeitsfanatiker der Bühne, das Entscheidende, die Rebellion „gegen das privilegiert Konventionelle“ zu lernen.

Den Aufbruch einer neuen Generation von Theatermachern nach 1968 begleitete er dann lieber als Kritiker für die „Süddeutsche Zeitung“, wechselte aber 1972 wiederum die Seiten und wurde Intendant des Hamburger Schauspielhauses, um hier so verschiedene Regisseure wie Noelte, Lindtberg, Peymann, Giesing, Schroeter und Karge/Langhoff, vor allem aber Zadek und Bondy nebeneinander arbeiten zu lassen. Das Gelungene honorierte das Publikum viel zu wenig. Nachruhm aber bescherte ihm sein Abschiedsgeschenk an die Hansestadt, das gloriose, damals wirklich alternative und ungewöhnliche Spielformen präsentierende Festival „Theater der Welt“. Vom aufreibenden Theaterbetrieb erholte sich Nagel als Kulturkorrespondent für die FAZ in New York und schrieb dann das wunderbare Buch „Autonomie und Gnade“, ein glänzender Essay zu Mozarts Opern, der Abbreviaturen, Lesestücke und analytische Interpretationen zu einem schlüssigen gesellschaftlichen Bild des ausgehenden 18. Jahrhunderts fügt und die Utopie der Emanzipation des Bürgers zum Menschen entwirft.

Nach einem letzten Zwischenspiel in der Praxis als Intendant des Stuttgarter Schauspiels wurde Ivan Nagel dann Professor für „Ästhetik und Geschichte der Darstellenden Künste“ an der Berliner Hochschule der Künste. Diese Professur war für ihn kein Anlass, sich vom aktuellen Theatergeschehen zurückzuziehen. Bis zuletzt hielt er es für geboten, die besten Impulse und Aufbruchsenergien der Kultur- und Theatererneuerung der Jahre von 1970 bis 1989 in Erinnerung zu rufen und dem Provinziellen, allem moralischen und ästhetischen Kleinmut, zu widersprechen. In den Jahren nach dem Mauerfall sparte Nagel nicht mit Aufrufen und Einsprüchen, weil er die immensen Chancen, die der Prozess der unerwarteten Einigung bot, optimal genutzt sehen wollte. Auch die Akademie der Künste, deren Mitglied er seit 1992 war, profitierte von seiner Streitlust und seiner Weigerung, Einschaltquoten hinterher zu rennen und bei undemokratischem Rentabilitätsdenken mitzutun.

Nagels Tod ist ein großer Verlust. Für sein Wirken, sein Eingreifen und die Gegenreden, sind wir ihm alle, die Theater machen, es lieben und an seine Zukunft glauben, zu großem Dank verpflichtet.

Von Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste; Klaus Völker, Mitglied der Akademie der Künste