9.6.2023, 10 Uhr

Nachruf auf Taymur Streng

Historische Synthesizer aus dem Nachlass von Taymur Streng im Studio für Elektroakustische Musik

Im Mai 2022 ist der Berliner Komponist und Elektronikpionier Taymur Streng verstorben. Aus dem umfangreichen Nachlass des Komponisten konnte das Studio für Elektroakustische Musik einige historische Synthesizer und weitere elektronische Instrumente übernehmen, unter anderem den analogen modularen Synthesizer ASL5 von Hartmut Lehmann, dessen in den achtziger Jahren gebautes Schwestermodell AMS3 eines der ersten Geräte war, die das Studio in seiner Gründungszeit anschaffte. Ein Ende der siebziger Jahre selbst gebauter Formant Synthesizer mit geteilter Tastatur sowie zahlreiche Eurorack-Module sind weitere Bestandteile des Nachlasses und werden nun im Studio für Elektroakustische Musik den hier arbeitenden Künstler*innen zur Verfügung gestellt.

Anlässlich der Übernahme erscheint hier noch einmal in leicht gekürzter Fassung ein Text über Taymur Streng von Ronald Galenza, erstmals erschienen 2006 in Spannung. Leistung. Widerstand – Magnetbanduntergrund DDR 1979–1989:

Die Wärme der Maschinen – Taymur Streng

Aufgewachsen im thüringenschen Sonneberg, sang Taymur Streng in seiner Kindheit zehn Jahre lang in einem Kirchen- und dem Schul-Chor. In der Jugend agierte er in einer Singegruppe. 1979, am Ende der zehnten Klasse, fing er an, sich mit Punk, New Wave und deren Vorläufern zu beschäftigen. Nach der Schule, mit Beginn seiner Lehre, zog er 1979 von Thüringen nach Berlin, der Hauptstadt der DDR. Taymur besorgte sich Aufnahmen und entdeckte dabei eine Band wie Throbbing Gristle, die er heute noch schätzt. Ihn interessierten eher die schrägen, experimentellen Klänge von den Residents oder Din-A-Testbild. Die waren sein Kick, selbst in diesen Bereich einzusteigen. Ab 1980/81 begann er sich ernsthaft mit elektronischer und experimenteller Musik zu befassen. Ihn interessierte moderne, junge Kunst, Expressionismus im Film, die Dadaisten und Futuristen. Zu der Zeit lernte der an der Universitätsbuchhandlung Berlin seinen jetzigen Beruf, Bibliotheksassistent.

Musik war für ihn nie Hobby, sondern ernsthafte Berufung. Streng hörte im Lesesaal der Bibliothek viele Platten, manche konnte man sich auch ausleihen. Er begeisterte sich für die Scheibe „Soundexamples“ vom Studio of Prague, eine gesprochene Einführung in die Welt der elektronischen Musikerzeugung. Die Platte beschrieb Frequenzmodulation, rückwärtslaufende Klänge, Hall usw. Bestimmte Sachen hat er auf Tonband aufgenommen und Bandschleifen daraus gemacht. Zu Beginn mußte er mit dem sehr primitiven Mikrophon „Kristall“ werkeln, aber immerhin konnte man damit arbeiten. Streng versuchte mit den wenigen, beschränkten Mitteln auszukommen.

Taymur fing einfach an Sachen zu bauen und zu löten, unter primitiven Bedingungen.

Er operierte ausdauernd und lange mit Bananensteckern, einem einfachen Verbindungstecker, der überall in der DDR in der Rundfunk- und Fernsehtechnik benutzt wurde. Die im Westen üblichen Klinkenstecker waren schlicht unerreichbar oder abartig teuer. Aber unter dem Mangel an technischer Ausstattung und Gerätschaften in der DDR litt Taymur eigentlich nicht. Er meint, dieser Mangel kann zu jeder Zeit, in jeder Epoche vorkommen. Man muß nur die Quellen für technisches Know-how sondieren. So suchte er dafür Bibliotheken auf, um die verfügbare Fachliteratur zu studieren. Dabei wurde er in Zeitschriften wie „Radio Fernsehen Elektronik“ fündig und entdeckte Bauanleitungen für Synthesizer und Module. Im „Der Elektroniker“ vom Militärverlag erfuhr er, wie man sich Elektronen-Orgel(n) bauen kann. Anschließend suchte er in den einschlägigen Bastlerläden nach passenden Bauelementen. Lötkolben und Meßgeräte wohnten bei ihm zu hause. Adaptieren und Kompromisse hießen die Fortschrittsgeister in dieser Zeit. Er lernte, mit den Sachen zu arbeiten, die verfügbar waren.

Der Tüftler baute sich ein eigenes Gerät, die Vorstufe eines Synthesizers. Mit dem machte er seine ersten intensiven elektronischen Experimente. Später schuf er sich über einen Meter lange Tonbandschleifen und experimentierte mit Breakdance-Sounds. Eher durch Zufall lernte er einen Frickler kennen, der ein großes, analoges Modular-System gebaut hatte, es gelang ihm, das Jahre später zu kaufen. Mit diesem Gerät konnte man schon einiges anstellen, denn es verfügte über sechs spannungsgesteuerte Oszillatoren, vier spannungsgesteuerte Filter, mehrere spannungsgesteuerte VCA-Verstärker, Ringmodulatoren, Interface-Technik. Damit konnte er nun richtig loslegen. Anfangs wurden noch Songs gecovert, Devo oder Cabaret Voltaire zum Beispiel, schnell wurde es ihm aber wichtig, nicht zu kopieren, sondern eigene Sachen zu entwickeln. In dem frühen Track „Oszillation“ benutzte er ein Oszilloskop und   einen schlichten Tongenerator. Daraus entstanden später einfachste Instrumente. Aus Tastenpulten von einer Modeleisenbahn entwickelte er Monophone, eine einstimmige Klaviatur. Die war splittbar und konnte zwei verschiedene Generatoren ansteuern. Über einen Kondensator konnte man beide Generatoren verbinden und ganz neuartige Klänge erzeugen. Das warschon elektronische Musik, allerdings ziemlich experimenteller oder primitiver Natur. Streng entwickelte ein Faible für modulares Arbeiten. Zwar gab es immer wieder Rückschläge, aber im Laufe der Jahre lernte er immens viel Neues.

Ab 1984 setzte seine ernsthafte Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik ein, was ihn heute noch umtreibt. Er nahm Klavierunterricht und im Kreiskabinett für Kultur in der Dimitroffstraße lernte er zwei Jahre Musiktheorie und Harmonielehre kennen. Taymur besuchte Gigs anderer Bands wie Klick & Aus, Aufruhr zur Liebe oder Demokratischer Konsum. Manchmal kam er nicht mal rein. 1984 zog Streng an den Stadtrand von Berlin, nach Mahlsdorf. Auf diesem Grundstück neben seinem Haus wurde damals der legendäre Sampler „Live in paradise“ mit Bands wie Happy Straps, Aufruhr zur Liebe, Der Demokratische Konsum und Ornament & Verbrechen produziert. Torsten Phillip nahm dort in einem Bungalow die meisten Stücke der Platte auf. An den Wochenenden rückten diverse Musiker bei Taymur an, Streng operierte zu dieser Zeit mit einfachem Synthesizer und alten Orgeln. Das Mahlsdorfer Wohnstuben-Orchester entstand. Aus diesen Bekanntschaften formierte sich später, 1988, die Band Neun Tage Alt. Die Jungs mochten alle Tuxedomoon und verständigten sich auf eine Mischung aus Darkwave und düsterem Pop. 1983 schenkte ihm seine Großmutter etwas Geld und Streng besorgte sich seinen ersten Synthesizer aus dem Westen, einen analogen Yamaha, mit dem er intuitiv live arbeiten konnte. Streng brachte sich mit experimentellen Sounds in die Gruppe ein. Der Bandname beruhte auf Zeilen von Edgar Allan Poe, auch in ihren Texten benutzen sie gern Lyrics internationaler Dichter. Für ihre Einstufung beschäftigten sie sich intensiv mit Rhythmik, Taktarten und lernten Noten. Sie spielten mit der AG. Geige im „Lindenpark“ in Potsdam, Konzerte folgten in Magdeburg und Karl-Marx-Stadt. Richtig bekannt in der Szene wurden sie mit ihrem kongenialen Auftritt beim Festival „Beat Inn“ 1989 auf der Open Air-Bühne in Berlin-Weißensee. Sie waren irgendwie anders. Wichtig für ihn dabei, die Arbeit in einem Team. Kompromisse zu machen, wurde ihm eine wichtige Erfahrung. Neun Tage existierte noch bis 1993, aber Streng wollte neue musikalische Wege einschlagen.

 

Taymur gründete 1995 das Ensemble Kunstkopf. Er lernte Komponisten kennen wie Georg Katzer oder Lothar Vogtländer, später kam Helmut Zapf dazu, der sein Lehrer und Freund werden sollte. Die Neue elektroakustische Musik wurde sein Spannungsfeld. Vogtländer lud ihn nach Gera zu einem Kurs für junge Komponisten ein. Musikalisch eher noch Laie, besuchte er dort die elektroakustische Klasse. 1989 belegte er ebenda erneut einen weiterführenden Kurs. Ende der Achtziger befaßte er sich mit Mischpulten, Peripheriegeräten und Musik-Computern.

Mitte der neunziger Jahre begann Taymur, an der Musikschule Kreuzberg bei Helmut Zapf, Tonsatz zu studieren. Außerdem studierte er vier Jahre lang privat bei dem amerikanischen Pianisten Daniel Words. Von Streng komponierte Stücke wurden aufgeführt, es entstanden Klang-Installationen. Am Rande Berlins, in Zepernick, findet alljährlich ein Festival für Neue Musik statt, die „Rand-Spiele“. Taymur Streng entwarf dort voller Freude Klanginstallationen.

Sein Projekt Kunstkopf ist eine Mischung aus Experimentalmusik, Crossover, Szenischem und Neuer Musik. Streng spielte aber auch Klangliches und Klassisches auf dem Piano. Daraus entstanden eigene Klavierstück mit Zuspielband. Was ihn trieb, war das Neue, das Unbekannte. In der Überschreitung traditioneller Muster von Erfahrung sucht er eine Form von Subjektivität für sich selbst zu gewinnen. Taymur Streng wurde so ein wichtiger Exponent der Ost-Berliner Elektronikszene. Die Maschinen gaben ihm Wärme und lehrten ihn viel über sich selbst.

 

Von Malte Giesen / Ronald Galenza

Enigma Formant modularer Synthesizer