1.12.2023, 10 Uhr

Ein rebellischer Allroundkabarettist wird 100 – Wolfgang Neuss und sein Archiv

Wolf Biermann und Wolfgang Neuss, 1965.

Die Verbindung von Wolfgang Neuss und der Akademie der Künste, in diesem Fall der DDR, begann schon im November 1965 mit einem Telegramm, welches der Kabarettist Neuss an den Präsidenten Konrad Wolf schrieb: „Ich würde sehr gern zu Biermanns Geburtstag nach Ostberlin kommen, kannst du das mal machen?“ (Akademie der Künste, Konrad-Wolf-Archiv, Nr. 1072). Konrad Wolf versucht Wolfgang Neuss dabei zu unterstützen, den Liedermacher Wolf Biermann im Westen bekannt zu machen. Eine erste gemeinsame Schallplatte „Zu Gast bei Wolfgang Neuss“ erscheint im April 1965 und Neuss erhält Einreiseverbot in die DDR und Wolf Biermann Auftrittsverbot.

Wolfgang Neuss wurde am 3. Dezember 1923 in Breslau geboren und schon im Internierungslager, in dem er die ersten Monate nach Kriegsende verbrachte, wurde auch der Grundstein seines kabarettistischen Schaffens gelegt, er organisierte bunte Abende und trat als Komiker und Imitator auf.

1949 traf er seinen Geistesverwandten Wolfgang Müller, beide wurden als „Wunderkinder des deutschen Films“ (Filmjournal ohne Angabe, Akademie der Künste, Wolfgang-Neuss-Archiv, Nr. 324) bezeichnet und spielten in zahlreichen Kabarettprogrammen, Musicals, Theaterstücken und Filmen zusammen. Sie waren das Duo. Der plötzliche Tod von Wolfgang Müller 1960 bedeutete auch einen Bruch im Leben des anderen Wolfgang.
Der aber machte alleine weiter. Er tourte mit Soloprogrammen durch West-Berlin, drehte Filme, am Ende seiner Karriere sollten es um die fünfzig sein. Künstler wie Eckart Hachfeld und Hans Magnus Enzensberger texteten für ihn.

Wolfgang Neuss machte Schlagzeilen. 1962 zog er den Zorn des Fernsehpublikums auf sich, indem er zwei Tage vor der Ausstrahlung der letzten Folge des Durbrigde-Mehrteilers Das Halstuch in einer Zeitungsannonce, die Werbung für seinen Kinofilm Genosse Münchhausen machen sollte, den Namen des Mörders verriet. Die Anzeigenabteilung der Zeitung musste einen telefonischen Sonderdienst einrichten.

Aus seiner politischen Haltung machte Wolfgang Neuss nie einen Hehl, er nahm 1966 an Demonstrationen gegen die Vietnampolitik der Bundesregierung teil und warb polemisierend für die Beendigung dieses Krieges. Morddrohungen waren die Reaktion, und Neuss musste Polizeischutz beantragen. Er prangerte eine Aktion der Zeitungsverleger an, die zu Spenden für Nachbildungen der Schöneberger Freiheitsglocke aufriefen, um sie den Witwen der gefallenen US-Soldaten zu schicken. Daraufhin boykottierten West-Berliner Zeitungsverleger seine Programmanzeigen, ein gerichtliches Vorgehen seitens des Kabarettisten war nicht erfolgreich. Als Neuss schließlich im Bundestagswahlkampf dazu aufrief, die Zweitstimme der Deutschen Friedensunion zu geben, schloss ihn der Landesverband der Berliner SPD aus ihren Reihen aus.

Wolfgang Neuss ging 1966 in den Berlin-Streik, er wollte nicht mehr auftreten und nicht „Zeugnis für eine nicht mehr vorhandene Meinungsfreiheit“ sein. Er reiste für wenige Wochen nach Schweden, tourte nach seiner Rückkehr durch die Bundesrepublik, gelegentlich auch noch mit seiner Pauke, eine Nummer, die schon in den Fünfzigerjahren großen Erfolg hatte und mit der er große Bekanntheit erlangte. Anfang der Siebzigerjahre zog sich Wolfgang Neuss zurück, er konsumierte vermehrt Haschisch, kam allerdings Anfang der Achtzigerjahre mit Programmen auf Tonkassetten und Soloauftritten zurück. Wolfgang Neuss starb 1989.

Das Wolfgang-Neuss-Archiv in der Akademie der Künste besteht eigentlich aus sechs Archiven mit unterschiedlicher Provenienz. Von 1994 bis 2005 übergaben Lebens- und Weggefährt*innen die Materialien an die Akademie der Künste. Neuss‘ Schwester Henrietta de Boyse alias Eva Neuss, Thomas „Tommy“ Hammer, enger Freund und Wegbegleiter in den späteren Jahren, Jette Neuss-Wixell, Tochter von Wolfgang Neuss aus seiner Ehe mit der Schwedin Margarete Henriksson, die wunderbare Fotografin Ellen Machus und nicht zuletzt Freund und Werkkenner Volker Kühn. Sie alle bewahrten Typo- und Manuskripte von Neuss-Texten, Korrespondenzen und die ausdrucksstarken Porträts und Fotos mit Weggefährten wie dem Liedermacher Wolf Biermann, dem chilenischen Schriftsteller und Neuss-Biografen Gaston Salvatore, Rudi Dutschke und Volker Kühn auf, die heute im Archiv zu finden sind.
Pressekritiken, Zeitungsartikel sowie Audio- oder Videomitschnitte seiner Programme und Sendungen ergänzen das Puzzle, aus welchem niemals ein ganzer Neuss entstehen kann, aber ein anderer Neuss zu erleben ist.

Ansprechpartnerin: Andrea Clos

Vom 1. bis 5. Dezember 2023 findet in der ufa-Fabrik in Kooperation mit der Akademie der Künste ein Festival mit Zeitzeugen, Ausstellung, Theater, Film, Vortrag, Livemusik statt. Dort, wo Wolfgang Neuss zu Lebzeiten seinen 65. Geburtstag gefeiert hat, treffen sich Weggefährten und Freunde, die den großen Schauspieler, Komiker und Mann mit der Pauke noch selbst erlebt haben. Ausschnitte aus selten gezeigten Filmen, Fotos und Dokumenten gehen der Frage nach, was Wolfgang Neuss uns heute noch zu sagen hätte.

Wolfgang Neuss in seiner Wohnung, um 1985.