5.2.2022, 11 Uhr

Der junge Mohwinkel und die Hustenmary – zum 100. Geburtstag des Berliner Schriftstellers Rudolf Lorenzen

Rudolf Lorenzen, 1999

Brief von Rudolf Lorenzen an einen Freund, 21. März 1956

Brief von Rudolf Lorenzen an einen Freund, 21. März 1956

Brief von Rudolf Lorenzen an einen Freund, 21. März 1956

Brief von Rudolf Lorenzen an einen Freund, 21. März 1956

Der Schriftsteller und Journalist Rudolf Lorenzen (1922–2013), dessen Geburtstag sich am 5. Februar 2022 zum 100. Mal jährt, ist heute der größeren Öffentlichkeit kein Begriff mehr. Jahrzehntelang gehörte er aber zu den wichtigen Vertretern der schreibenden Zunft Berlins, seit er sich 1955 in der Stadt niedergelassen hatte.

Rudolf Lorenzen und Berlin – das ist eine lange Geschichte. Anfangs wollte ihn die Stadt gar nicht haben, weil damals im West- wie im Ostteil Zuzugssperre herrschte. Aus Bremen stammend, langweilte sich der gelernte Gebrauchsgrafiker bei einer Werbeagentur in der bayerischen Provinz. Nur weil er die Berliner Schriftstellerin Annemarie Weber kennenlernte und sogleich heiratete, öffneten sich ihm die Tore der Stadt. Ein Berliner Kollege, den er um Hilfe bei der Arbeitssuche bat, meinte: „… es wird nicht einfach sein in Berlin“. Doch Lorenzen ließ sich nicht bange machen. Er fand eine Anstellung, warf sie gleich wieder hin und wagte den Sprung in die Freiberuflichkeit.

„Rudolf Lorenzen – Werbeberater“, steht auf dem Briefkopf eines frohgemuten Schreibens vom 21. März 1956, in dem er einem Freund berichtet, dass er nicht nur die Werbung, sondern den gesamten Vertriebsapparat für ausschließlich einen Kunden übernommen habe: „Es ist meine Frau.“ In drei Monaten habe er den Umsatz verdreifacht. Lorenzens gar nicht so neue Idee bestand darin, die bereits veröffentlichten Manuskripte seiner Frau deutschlandweit zum Nachdruck anzubieten. Um den Überblick zu behalten, legte er für jeden Artikel eine Karteikarte, später eine Deutschlandskizze an, mit Vermerken, in welchem Ort bei welchem Blatt er bereits erschienen war. Das Echo war enorm und führte zu vielen neuen Aufträgen, bei deren Bewältigung er helfen musste. „Nebenbei bin ich jetzt Teilhaber meiner Frau geworden, schreibe verschiedenes wie Gerichtsberichte, Couture-Schauen, Kunstkritiken etc. mit ihr zusammen.“

Das war der Beginn von Lorenzens eigener Laufbahn als Publizist, Erzähler, Drehbuch- und Dokumentarfilmautor. Mit Witz und Verve erfüllte er Aufträge und entwickelte eigene Ideen. Immer wieder waren Berlin, seine Kultur und seine Menschen Thema. Wie lebt es sich im Schatten der Mauer? Doch Lorenzen setzte sich auch mit den Nachwirkungen des Krieges und der Wiederbewaffnung Deutschlands auseinander. So gewann er 1957 ein Preisausschreiben der Süddeutschen Zeitung für die Erzählung „Der junge Mohwinkel“, die zum Kernstück seines ersten Romans Alles andere als ein Held (1959) wurde. In die Figur des Angestellten Mohwinkel flossen die Erfahrungen und Erlebnisse des Autors ein, der selbst eine Lehre bei einem Bremer Schiffsmakler absolviert hatte, gegen seine Natur zum Arbeits- und Kriegsdienst in einer Nachrichteneinheit gepresst wurde und nach Krieg und russischer Gefangenschaft wieder in Bremen als Kaufmann arbeitete. Der „einzige große Angestelltenroman der noch jungen Bundesrepublik“, nennt Lothar Müller das Werk in der Neuausgabe von 2014 und spricht vom „Mohwinkel-Stil“: schmucklos, „gleichbleibend kühl“, chronologisch erzählt, dem Erfahrungshorizont des kleinen Mannes verpflichtet. Vier weitere Romane folgten.

Den Hauptteil des Werkes bilden Feuilletons, Reportagen, Erzählungen und Geschichten für die Presse, immer witzig, pointiert und zeitkritisch. Sie waren in den Zeitungsspalten vergraben, bis sie jüngst der Verbrecher Verlag in verdienstvollen Sammelbänden und einer Werkausgabe ans Tageslicht gefördert hat. Im Band Paradies zwischen den Fronten (2009) beispielsweise sind Reportagen und Glossen über das alte West-Berlin gesammelt – eine nach dem Mauerfall ebenso wie die DDR untergegangene Welt. Berliner Geschichten und Porträts enthält der Band Die Hustenmary (2012), mit dem titelgebenden Glanzstück zum 70. Geburtstag einer Hure, die in schnoddrigem Berliner Jargon von ihrem Leben in den einschlägigen Etablissements halb Europas erzählt.

Im Rudolf-Lorenzen-Archiv an der Akademie der Künste wartet noch vieles andere auf seine Entdeckung, darunter Lorenzens umfangreiche Korrespondenz mit den Redaktionen landauf, landab, die ein wichtiges Zeugnis für das Publizieren im analogen Zeitalter darstellt.

Ansprechpartner: Carsten Wurm