30.10.2014, 13 Uhr

Archiveröffnung Aras Ören

Ankündigung einer Lesung von Aras Ören in der Heinrich-Heine-Buchhandlung, Berlin, 1973

Das Archiv des Schriftstellers Aras Ören, der am 1. November seinen 75. Geburtstag feiert, wird zur öffentlichen Nutzung freigegeben. Der Schriftsteller türkischer Sprache, der auch als Schauspieler und Journalist in Erscheinung trat, ist seit 2012 Mitglied der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Bereits 2010 übergab er der Akademie seinen Vorlass.
Das Archiv enthält Manuskripte von Örens Werken in türkischer Sprache und deutschen Übersetzungen, Druckbelege und eine umfangreiche Sammlung von Rezensionen; Unterlagen zur Theaterarbeit und zu Örens Tätigkeit für das türkische Radioprogramm des Senders Freies Berlin, Tondokumente, Materialsammlungen aus seiner kulturpolitischen Arbeit in den 1970er und 1980er Jahren, darunter Unterlagen der Gruppe „Rote Nelke“ und zum Militärputsch in der Türkei 1980. Briefwechsel mit befreundeten Künstlern, u. a. Vasıf Öngören, Johannes Schenk und Natascha Ungeheuer, sowie mit Verlagen und Institutionen sind im Archiv ebenso zugänglich wie die bibliophilen Handpressendrucke von Aras Örens Werken.

Aras Ören hatte sich Anfang der 1960er Jahre schon in der Bundesrepublik aufgehalten, zog dann zunächst wieder in die Türkei, bevor er 1969 ganz nach Berlin übersiedelte. 1973 erschien sein Poem „Was will Niyazi in der Naunynstraße“, das den ersten Teil der „Berlin-Trilogie“ bildet. Es ist einer der ersten literarisch anspruchsvollen (und erfolgreichen) Texte, die die Situation türkischer Arbeitsmigranten thematisieren. „Was will Niyazi in der Naunynstraße“ diente als Vorlage für Filme und wurde noch 1987 von Tayfun Erdem vertont. Ören stellt die Lebenssituationen von Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik und in Berlin in all ihrer Widersprüchlichkeit dar. „Aras Ören ist es gelungen, die Spannungen zwischen der trüben Umwelt der Naunynstraße und der Erinnerung an die Türkei, die sich mit den Jahren zur Illusion verdichtet, sowie die Illusion vom Leben in Deutschland und die soziale Realität in der Türkei in kräftigen Bildern und Handlungsabläufen wiederzugeben – ein Zeugnis der türkischen Odyssee und mehr, Zeugnis einer Erfahrung, die nicht nur auf die Türkei zurückwirken wird“ – so Ingeborg Drewitz in ihrer Rezension des Textes am 16.12.1973 im Berliner „Tagesspiegel“. Örens Texte gehen jedoch von Anfang an über das hinaus, was zunächst als „Gastarbeiterliteratur“ gesehen wurde – sie sind von großer formaler Raffinesse und bleiben inhaltlich nicht auf die Darstellung der Lebensprobleme türkischer Arbeitnehmer in Deutschland beschränkt. Im Jahr 1985 erhielt Aras Ören als erster Preisträger den von Harald Weinrich initiierten Adelbert-von-Chamisso-Preis für deutschsprachige Literatur von Autoren nichtdeutscher Sprachherkunft.
Im Lauf der Jahre verlässt Ören mehr und mehr den thematischen Rahmen der Lebens- und Arbeitssituation türkischer Einwanderer. Immer jedoch schreibt er aus der Perspektive des Grenzgängers, der die eine Gesellschaft verlassen hat und in der anderen nicht heimisch ist – Karl Krolow bezeichnete diese Haltung 1979 in einer Rezension zu Örens Gedichtband „Deutschland, ein türkisches Märchen“ als „aufmerksame Ortlosigkeit“. Örens Werk macht anschaulich, wie Multikulturalität wechselseitig bereichern kann – gesellschaftlich und künstlerisch.
Aras Ören verfasst seine Texte auch heute noch in türkischer Sprache, sie werden dann – unter seiner Mitarbeit – ins Deutsche übersetzt. Bald nach seiner Ankunft gehörte Ören einer nicht auf die türkische Gemeinschaft beschränkten künstlerischen und kulturpolitischen Szene (West-)Berlins an: Arbeit und Freundschaft verbanden und verbinden ihn mit dem Autor und Maler Johannes Schenk und mit der Malerin Natascha Ungeheuer, mit dem Fotografen und Filmemacher Friedrich W. Zimmermann, mit K. P. Herbach, Begründer der Berliner Buchhändlerkellers, mit den Schriftstellern F. C. Delius, Peter Schneider, Hans Christoph Buch, um nur einige zu nennen.
Örens spätere Gedichte, Romane und Erzählungen verbinden avantgardistische westeuropäische Schreibweisen mit orientalischen Erzählmustern, hier sollen nur zwei Beispiele genannt werden: In der 1981 erschienenen Kriminalerzählung „Bitte nix Polizei“ bleibt bis zum Ende unklar, ob überhaupt ein Mord im Sinne des Strafrechts stattgefunden hat. Die deutschen und türkischen Protagonisten der Erzählung, deren Lebensgeschichten ineinander geschachtelt erzählt werden, weisen allerdings allesamt innere oder äußere Verletzungen auf, die von Gewaltstrukturen im privaten und gesellschaftlichen Leben herrühren.
Im Roman „Berlin Savignyplatz“ (verfasst 1990/91, türkische Ausgabe 1993, in deutscher Sprache erschienen 1995) stehen im Mittelpunkt die Westberliner Bohémians, die die Kneipen rund um den Savignyplatz bevölkern. Biographien werden erzählt, ein multiperspektivisches Mosaik, den zeitlichen Endpunkt bildet der Abend des Mauerfalls 1989. Kennzeichnend ist auch hier wieder das Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven, losen Handlungssträngen, die Offenheit des Erzählens, die den Leser zwingt (oder: ihm das Vergnügen gönnt), sich die ‚Geschichte‘ selbst zusammenzusetzen. Der Erzähler in Örens Texten wird eine zunehmend unzuverlässige Instanz, ist sich seiner selbst nicht sicher, spielt vielleicht auch ein kokettes Spiel mit dem Leser, um diesen in die Irre zu führen – oder um ihm vorzuführen, dass die Wirklichkeit sich jeder Festschreibung entzieht.
Im November erscheint unter dem Titel „Kopfstand“ ein neuer Band mit Erzählungen von Aras Ören im Verbrecher Verlag, Berlin.

Wenn Sie weitere Auskünfte zum Archiv wünschen, wenden Sie sich bitte an: Helga Neumann, Literaturarchiv, Tel. 030 200 57-32 29, helga.neumann@adk.de

Dokumentation

Aras Ören in der Naunynstraße, Berlin-Kreuzberg, ca. 1973/74


Aras Ören: „Frau Kutzers Nachbarn“, türkische Fassung. Veröffentlicht in: Aras Ören: Was will Niyazi in der Naunynstraße. Ein Poem. Aus dem Türkischen von H. Achmed Schmiede und Johannes Schenk. Berlin 1973. „Ein verrückter Wind eines Tages / wirbelte den Schnurrbart eines Türken, / und der Türke rannte hinter seinem Schnurrbart / her und fand sich in der Naunynstraße [...]“
©  Aras-Ören-Archiv, mit freundlicher Genehmigung des Autors