2.4.2023, 14 Uhr

György Konrád zur Erinnerung an seinem 90. Geburtstag

Die Präsidentschaft von György Konrád gehört in der langen und bewegten Geschichte der 1696 gegründeten Akademie der Künste in Berlin zu den Glücksfällen, und so ist es auch ein Glücksfall, dass er noch kurz vor seinem Tod seinen schriftstellerischen Vorlass dem Archiv der Akademie überließ.

Im Literaturarchiv der Akademie werden heute außerdem die Nachlässe von Imre Kertész und Péter Esterházy und der Vorlass von Péter Nádas bewahrt. Doch ein Sonderfall unter den Beständen ungarischer Schriftsteller ist György Konrád, denn er war nicht nur Mitglied der Akademie seit 1991, sondern von 1997 bis 2003 auch ihr Präsident, und zwar der erste nicht deutsche. Er wurde gewählt, als die aufgrund der politischen Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Ost- und eine West-Akademie geteilte Institution erst wenige Jahre zuvor wieder vereinigt worden war.

Als György Konrád 1997 als Nachfolger von Walter Jens das Amt in der Akademie antrat, hatte er als Präsident des internationalen P.E.N. von 1990 bis 1993 bereits Erfahrungen mit der Leitung einer Schriftsteller-Vereinigung gemacht. Auch Berlin war ihm vertraut, denn 1977 hatte er als Gast des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ein Jahr in der Stadt verbracht und 1982 ein weiteres Jahr als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sein dort verfasster Essay Antipolitik, in dem er die Vereinbarung von Jalta, also der Grundlage des europäischen Blocksystems, als unumstößlich in Frage stellte und die Loslösung Mitteleuropas aus dem sowjetischen Block forderte, wurde damals in seiner Brisanz als revolutionär empfunden. Er verlangte ein Verschwinden des Eisernen Vorhangs, als dies für die meisten noch ein Sakrileg bedeutete.

Nach der Wende, 1991, sollte er für seine beindruckend unabhängige Haltung den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten und zehn Jahre später folgte mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen noch einmal die Ehrung von Konráds herausgehobener Rolle bei der Überwindung der Blockkonfrontation. Die Inschrift auf der Karlspreis-Medaille lautet: „György Konrád – Brückenbauer für Gerechtigkeit und Versöhnung in Europa“.

Mitglied der Akademie und ihrer Abteilung Literatur war György Konrád bereits seit 1991. Doch kannte er die Institution wesentlich länger und damit auch die ideologischen Gegensätze insbesondere unter den Schriftstellern. Schon im Frühjahr 1983 hatte er in der Akademie der Künste am Hanseatenweg auf Einladung ihres damaligen Präsidenten Günter Grass an der Zweiten Berliner Begegnung zur Friedensförderung teilgenommen. Sie folgte auf die Erste Begegnung in der Hauptstadt der DDR, zu der Stephan Hermlin eingeladen hatte. Hintergrund war die bundesrepublikanische Friedensbewegung. Sie hoffte, mit Großdemonstrationen hunderttausender Teilnehmer die damalige atomare Hochrüstung verhindern zu können. György Konrád, der die Ost-West-Auseinandersetzungen der deutschen Schriftsteller mit dem Abstand des Ausländers beobachtete, der in Ungarn sein politisches Leben im Widerstand gegen das kommunistische Regime gelebt hatte und der als Überlebender des Holocaust die tiefsten Abgründe menschlichen Daseins erfahren hatte, ging auf die Diskutanten mit einer gewissen Gelassenheit ein. Gleichzeitig verfolgte er aber sein großes Lebensthema eines die Blockkonfrontation überwindenden, in Frieden vereinten Europas. Schon in den beiden zwischen 1977 und 1982 entstandenen Essaybänden Die Versuchung zur Autonomie und dem erwähnten Antipolitik hatte er ja die Vereinbarungen von Jalta in Frage gestellt. Er sieht in ihnen sogar die mögliche Ursache für den Ausbruch eines eventuellen dritten Weltkriegs. Kein Deutscher wäre damals auf die radikale Idee gekommen, die Jalta-Verträge selbst in Frage zu stellen, war doch von ihrem Land der zerstörerische Weltkrieg entfesselt worden, der im Februar 1945 die Konferenz auf der Krim zur Folge hatte und zur Bildung zweier Blöcke führte, die sich allerdings schon bald nach Kriegsende feindlich gegenüberstanden.

Alle Teilnehmer der Berliner Begegnung waren um kurze Statements gebeten worden. Beeindruckend sind die klaren Aussagen Konráds, die in seinem im Akademie-Archiv überlieferten handschriftlichen Manuskript nachzulesen sind. Das darin verlangte Recht auf freie Meinungsäußerung und parlamentarische Demokratie mit Mehrparteiensystem für die Länder des Ostblocks waren damals für viele irritierende Forderungen, da sie eigene ideologische Ziele störten.

Als Konrád 1997 sein Amt in der Akademie antrat, bereitete sich das Land Berlin darauf vor, Sitz der Bundesregierung zu werden und war noch immer tief in die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit verstrickt. Zwei wichtige Fragen standen zu Klärung an: die erste betraf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das von einer Bürgerinitiative noch in West-Berlin gefordert worden war und das lange umstritten blieb. Die zweite Frage betraf das Jüdische Museum, das als jüdische Abteilung des Berlin Museums einen nur lokalen Bezug gehabt hatte, und nach langwierigen öffentlichen Debatten schließlich zu einem eigenständigen Museum wurde. Dankbar war man auf Seiten der Berliner Politik, in Konrád einen überaus erfahrenen, klugen Ratgeber zu haben, der bereit war, sich völlig frei von eigenem Interesse in die Debatten einzubringen – mit großer internationaler Reputation und als Jude auch in der jüdischen Gemeinde in besonderer Weise respektiert. Immer war die Vergangenheit präsent in Konráds Schreiben und Handeln, sei es bei Ansprachen in der Akademie selbst oder, im Oktober 1997, in der Festrede zur Eröffnung des neugebauten Stadtquartiers Potsdamer Platz, in dem er die Vision einer offenen, multikulturellen Gesellschaft zeichnete, die ihre Lehren aus den Zerstörungen des Krieges gezogen hatte. Eindrucksvoll war im November 1998, auf Einladung von Karl Schlögel, seine Rede mit dem Titel Ethnische Säuberung in der Viadrina in Frankfurt/Oder. Vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit aber auch der damals aktuellen Geschehnisse im zerfallenden Jugoslawien bezeichnete Konrád nicht nur die Deportation der Juden und ihre systematische Ermordung, sondern auch die Vertreibungen als Menschheitsverbrechen. Konrád hat mit dieser Rede ein nicht allein bundesrepublikanisches Tabuthema irritiert, und war vermutlich nur aufgrund seiner eigenen Biografie als Holocaust-Überlebender vor empörtem Widerspruch geschützt. Weniger brisant, doch vehemente Gegendarstellungen provozierend, war seine Haltung beim Einsatz der Nato sowohl im Kosovo-Krieg, den er ablehnte, als auch beim Irak-Krieg, wo er die Liquidierung Saddam Husseins aufgrund von dessen Menschenrechtsverletzungen rechtfertigte.

Natürlich war Konráds wichtigster Wirkungsort in der Akademie selbst. Die sechs künstlerischen Abteilungen und das große Archiv, die unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte und Interessen von Mitgliedern und Mitarbeitern und eine interessierte Öffentlichkeit sind schon alleine ein kaum zu überschauendes Aufgabengebiet. Hinzu kam in diesen Jahren, dass endlich mit dem Bau eines neuen Akademie-Gebäudes am historischen Standort am Pariser Platz begonnen werden sollte. Der wegen seiner Glasfassade umstrittene Entwurf stammte von dem Stuttgarter Architekten Günter Behnisch und Konrád, der den Entwurf durchaus kritisch sah, musste sich nun auf der politischen Ebene bemühen, seine Realisierung voranzubringen. Eröffnet wurde das Akademie-Gebäude erst im Frühjahr 2005. Überzeugt war Konrád, dass der Akademie ein Freundes- und Förderkreis gut tun würde, sowohl zur finanziellen Unterstützung von Akademievorhaben als auch zur Vernetzung der Institution mit Vertretern der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens. Im Sommer 1999 wurde die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste gegründet.

Doch mehr als alle anderen Aufgaben war Konrád davon erfüllt, die Akademie zu einer Plattform für Schriftsteller und Intellektuelle aus Mittel- und Osteuropa, aber auch für Gäste aus anderen Teilen der Welt zu machen. Die Veranstaltungen zur Mitgliederversammlung, zweimal im Jahr, wurden zu einem hochbeliebten Treffpunkt, bei dem sich die Kulturszene mit den Akademiemitgliedern aber auch den Kulturpolitikern traf. Kein Aufenthalt war ohne öffentliche Reden, Grußworte oder die Formulierung von Vorworten und Einführungstexten zu denken, die er oft in der Nacht in seiner Atelierwohnung im Akademie-Gebäude schrieb. Sein ruhiges und freundliches Auftreten im Haus lässt leicht vergessen, wie ungeheuer arbeitsintensiv die Jahre für ihn waren, und was György Konrád für die Akademie geleistet hat.

In den Jahren seiner Amtszeit als Präsident der Akademie der Künste öffnete sich die Institution nach Ost und West wie nie zuvor. Konrád machte es sich zur Aufgabe, daran mitzuwirken, die trotz der politischen Öffnung immer noch vorhandene gesellschaftliche und intellektuelle Spaltung Europas durch Ost-West-Begegnungen, durch Gespräche und Diskussionen auch inhaltlich zu überwinden. Die Akademie, die sich lange vorwiegend mit der eigenen Geschichte und der komplizierten deutschen Ost-West-Diskussion befasst hatte, wurde nun zu einer internationalen Bühne. Künstler, Intellektuelle, einstige Dissidenten, Politiker kamen ins Haus: Andrei Pleşu, Árpád Göncz, Eduard Goldstücker, Władysław Bartoszewski, Kenzaburô Ôe, Dubravka Ugrešic, Arthur Miller, Richard Sennett, Paul Auster, László Krasznahorkai, István Eörsi, Aleksandar Tišma, Salman Rushdi. Auch viele selten im Haus gesehene Mitglieder fanden wieder den Weg in die Akademie: so Claudio Magris, Jorge Semprún, Daniil Granin, Imre Kertész, Hans Werner Henze. Sie alle kamen, bekannte und unbekannte, und wurden als Freunde empfangen, auch wenn es vielleicht Meinungsunterschiede gab. Immer ging es um Inhalte, nie um angebliche Prominenz. Jeden zog György Konrád auf seine uneitle, immer am Menschen interessierte Art in seinen Bann. Überhaupt ließen ihn Hierarchien völlig unbeeindruckt.

Wie sehr Konrád sein eigenes Land liebte, wurde im Sommer 1999 bei einer großen Ausstellung „Ungarische Kunst der Gegenwart“ und dem damit verbundenen Rahmenprogramm deutlich, die auch der damalige ungarische Staatspräsident Árpád Göncz, sein alter Schriftstellerkollege, begleitet von Bundespräsident Johannes Rau besuchte. Eine besondere Bedeutung hatte auch im Herbst 2000 die von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen erarbeitete Ausstellung „Samizdat – Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre“, in der die im Westen weitgehend unbekannten osteuropäischen Kulturen des dissidentischen Untergrunds vor 1989 behandelt wurden: selbstverlegte Schriften, hektographierte Manuskripte, die an der Zensur vorbei in intellektuellen Kreisen zirkulierten und somit zu einem den politischen Umsturz vorbereitenden Klima beitrugen.

Als György Konrád am 2. April 2003 seinen 70. Geburtstag feierte, richtete ihm die Akademie der Künste zu seiner eigenen Überraschung ein großes Fest aus. Es war eine eindrucksvolle Versammlung von Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur; ganz Berlin und internationale Gäste im Defilee. Wenige Monate später endete Konráds Amtszeit und Adolf Muschg wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Dieser würdigte im Juni 2003 bei seiner ersten „Treppenrede“ am Hanseatenweg den Vorgänger mit Worten des Dankes: „Was Du mir vorgemacht hast, kann ich Dir nicht nachmachen. Und das soll ich ja wahrscheinlich auch nicht. […] Was ich am meisten von Dir lernen möchte, ist Gelassenheit“. Und Ehrenpräsident Walter Jens dankte György Konrád für die Meisterschaft, mit der er das Amt „improvisierend, leicht und wunderbar“ ausgeführt habe, „er kam und gewann binnen kurzem unsere Herzen“. Konrád habe die Mitglieder für keinen Augenblick im Unklaren gelassen, dass für ihn nur der Weg der Vernunft zählt, „wir verabschieden als Präsidenten einen vernünftigen Weltbürger“.

Hans Gerhard Hannesen
Der Verfasser war von 1993 bis 2017 Präsidialsekretär der Akademie der Künste.