Das Georg-Kreisler-Archiv - "voller Traum und ohne Kommentar"

In einem seiner letzten Gedichte hat Georg Kreisler die eigene Abkunft und Hinkunft bestimmt: "Ich bin der Sprößling einer Sphinx / und muß jetzt wen / besuchen gehn / und schließ die Augen rechts und links."
Georg Kreisler ist am 22. November 2011 im Alter von 89 Jahren in Salzburg gestorben. Wenn der sogenannte Vorlaß, den die Akademie der Künste bis dahin bewahrte, nunmehr als Nachlaß zu bezeichnen ist, so erhält lediglich ein archivarischer Status seinen amtlichen Namen. Die Farblosigkeit desselben steht in schönstem Widerspruch zu den sich dahinter auftuenden poetischen Welten. Man ahnt sofort und tröstet sich mit dem Sprößling der Sphinx: "Die Behörden können mir nichts mehr tun, / denn ich bin reif / und wanke steif / ins Irgendwo, mich auszuruhn."

Drei Phänomene aus den letzten beiden Lebensjahren Georg Kreislers führen die Dimensionen dieses singulären Künstlers vor Augen, die forthin im Archiv auszuloten sein werden. 2010 nahm Georg Kreisler für sein Lebenswerk den Friedrich Hölderlin-Preis der Stadt Homburg entgegen. Im gleichen Jahr begann seine Lesereise "Anfänge. Eine literarische Vermutung und Zufällig in San Francisco. Unbeabsichtigte Gedichte" gemeinsam mit Barbara Peters. Bei dieser szenischen Lesung anläßlich der gleichnamigen Buchpublikationen war – u. a. in Berlin just vis-à-vis des Kanzler-Amts – auch das fast fünfzig Jahre alte Lied "Als der Zirkus in Flammen stand" zu vernehmen, in all seiner verstörenden Zeitlosigkeit. Schließlich im Oktober 2011, nur wenige Wochen vor dem Tod, die im Berliner Konzerthaus geplante Uraufführung der Werke für Klavier, geschrieben in den 1950er Jahren im amerikanischen Exil – die allseits erhoffte Anwesenheit des Komponisten ließ dessen Gesundheitszustand nicht mehr z

Porträt Georg Kreisler

Wie ist ausgerechnet für den unnachahmlichen Freigeist Georg Kreisler ein Archiv denkbar? Hat er nicht längst befunden: "man suchte mich im Dunkeln und im Licht, / man suchte mich mit Strenge / tief im Wald und in der Menge, / doch gefunden hat man mich nicht"? Um so wunderbarer, daß bereits im November 2005 Georg Kreisler und die Akademie der Künste übereinkamen, die Kreislerschen Welten in all ihrer Vieldeutigkeit archivarisch zu sichern und ihnen dauerhaften Zugang zu eröffnen! Eine alte Kreislersche Einladung findet somit für jeden Interessierten lebendige Erfüllung: "Komm mit mir auf eine wahre Reise / voller Traum und ohne Kommentar!"

Welch Glück für ein Archiv – überdies, da es sich stets auf neuestem Stand versorgt sah und gewiss auch künftig sehen darf. So konnten beispielsweise im Mai 2007, unmittelbar nach Abschluß der Arbeit, Partitur und Libretto der tragikomischen Oper "Das Aquarium oder Die Stimme der Vernunft" in Empfang genommen und katalogisiert werden (UA November 2009, Volkstheater Rostock). Zu den jüngsten Bereicherung des Georg-Kreisler-Archivs zählt ein im August 2010 eingegangenes Konvolut von Briefen. Hier begegnen dem Leser aktuelle Ereignisse wie globale Finanz- und Wirtschaftskrise, bündigst kommentiert von dem bekennenden Träumer und Anarchisten!

Obgleich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch längst nicht vollständig, dokumentiert Kreislers Archiv bereits jetzt eindrucksvoll sein umfängliches, vielgestaltiges Oeuvre. Überliefert sind: eine Vielzahl von Manuskripten/Typoskripten, Notenhandschriften und Drucken von Bühnenwerken (Opern, Operetten, Musicals, Theaterstücke, Bearbeitungen, Übersetzungen, kompositorische Mitarbeit), von Liedern,
Sketchen, Kabarettprogrammen, Rundfunk- und Fernsehsendungen, von diversen Prosaarbeiten (Romane, Erzählungen, Satiren, Autobiographie, Essays, Kolumnen, Glossen) sowie von Orchesterwerken, Kammermusik und Werken für Soloinstrument. Ergänzt wird der werkbezogene Teil des Archivs durch einzelne Arbeitsunterlagen, Korrespondenz mit Personen und Institutionen, durch biographische Dokumente, Fotos, eine Dokumentation zu Person und Werk (Zeitungsausschnittsammlung, wissenschaftliche und publizistische Arbeiten zu Georg Kreisler, Programmhefte zu Inszenierungen von Bühnenwerken, Kabarett- und Chansonabenden) sowie Übersetzungen/Bearbeitungen von Werken Kreislers nebst weiteren Manuskripten und Kompositionen anderer Autoren. Hinzu kommen eine Sammlung von Schallplatten und CDs, einzelne Tonband- und Videoaufnahmen sowie Erstausgaben von Büchern, die Kreisler ebenfalls dem Archiv übereignet hat und deren früheste Publikation inzwischen rund ein halbes Jahrhundert alt ist: "Zwei alte Tanten tanzen Tango ... und andere Lieder", erschienen 1961 im Züricher Sanssouci Verlag. Diese Erstausgaben sind in der Bibliothek der Akademie der Künste verzeichnet und über ihren Online-Katalog (http://opac.adk.de) zugänglich.

Überlieferung des künstlerischen Werks

Zu den ältesten Schätzen des Archivs gehören Notenhandschriften und Textfassungen der 1947 in den USA bei RCA Victor aufgenommenen Lieder "It's great to lead an antiseptic life", "My psychoanalyst is an idiot", "Please, shoot your husband", "I hate you", "Frikashtazni" ("Frikashtasni"), "What are little girls made of?". Diese frühen Lieder zeugen exemplarisch vom Repertoire und Können des jungen Künstlers, der über Jahre als Pianist und Sänger in New Yorker Bars und bei Gastauftritten in diversen Städten und Provinzorten der USA bis hin nach Kanada seine Existenz bestreitet. Zugleich künden andere, im selben Zeitraum entstandene und ebenfalls im Archiv zu findende Werke von der erstaunlichen Ambition und mehrfachen Begabung. Genannt seien hier Kompositionen wie "Five Bagatelles for Piano", "Sonata for Piano", "Klavier Konzert", ferner die Adaption und Übertragung von Lortzings "Zar und Zimmermann" ins Englische oder das über 250 Seiten umfassende Typoskript von "This Delightful Day. A Novel With Observations and Reservations" (geschrieben um 1946/47). Aufgrund zeithistorischer Bedingungen scheinen leider vor 1945 zu datierende Arbeiten Kreislers nicht mehr existent, beispielsweise Revuen aus der Zeit seiner Zugehörigkeit zur US-Army.
Mit der Kategorie "Bühnenwerke" ist im Kreisler-Archiv bewußt eine Vielfalt zu berücksichtigender Werke klassifikatorisch zusammengefaßt. Fließende Genre- und Gattungsgrenzen sind zu erahnen, vergegenwärtigt man sich nur einige der für Kreisler charakteristischen Titelergänzungen wie "Eine tragikomische Oper", "Musical in zwei Akten für einen Schauspieler", "Musical ohne Lieder", "Komödie mit Musik", "Ein Gesellschaftsspiel mit Musik", "Eine musikalische Tragikomödie in siebzehn Bildern", "Ein Handlungsfaden mit Liedern", "Eine musikalische Satire in zwei Akten", "Eine Geschichte in Chansons", "Ein Stück mit einem Vorspiel und etwas Musik". Dokumentiert wird hier Kreislers Schaffen jenseits allgewohnter Kategorien- und Genrefestlegungen sowie seine ungemein facettenreiche Bühnenpräsenz – oft gar in Simultanität als Komponist, Librettist, Stückeschreiber, Bearbeiter, Übersetzer, Darsteller, als Regisseur und Dirigent. Der nunmehr auch archivarische Nachweis dieser Präsenz ist um so bedeutsamer, da Kreisler nach wie vor weit mehr, bisweilen gar ausschließlich, als Kompositeur und Interpret von Liedern im öffentlichen Bewußtsein erscheint; ganz zu schweigen von leidlichen Etiketten à la "Kabarettist" oder "schwarzer Humor(ist)".


Unabhängig von Liedern, die im Kontext einzelner Bühnenwerke überliefert sind (siehe z. B. insbesondere "Heute abend: Lola Blau"), gingen ins Archiv bisher rund 240 Lieder ein. Ähnlich wie bei anderen Arbeiten Kreislers findet sich in der Regel die als gültig erachtete Fassung eines Liedes aufbewahrt. Obgleich der Ausdruck "gültig" von relativer Natur wirkt, bedenkt man die für Kreisler so signifikante fortwährende Bearbeitung seiner Lieder, welche mitunter allein schon im Interesse politischer Aktualisierung ganze Bundeskanzlerschaften kritisch durchwandeln können.


Die über Jahrzehnte reichenden Auftritte Kreislers mit originären Programmen für Bühne, Rundfunk und Fernsehen sind dank einer Vielzahl von Sende- und Bühnenmanuskripten sowie einzelnen Kreislerschen Typoskripten eindrücklich belegt. Genannt seien hier "Allein wie eine Mutterseele", "Alte Lieder rosten nicht", die Sendereihe des österreichischen Fernsehens "Die heiße Viertelstunde", "Everblacks", "Fürchten wir das Beste", "Hurra wir sterben!", "Im Theater ist was los", "Lieder für Fortgeschrittene und Nichtarische Arien", "Rette sich wer kann", "Ungesungene Lieder" und schließlich Kreislers Auftritt in den Münchner Kammerspielen mit dem Programm "Zwei alte Tanten tanzen Tango", der den Künstler 1960/61 einem größeren Publikum auf der Bühne bekannt machte.


Neben Kreislers "Traum von einem eigenen Theater", "immer wieder geträumt, oft sehr intensiv und konkret", ist im Archiv auch die Passion des Prosa-Autors (wieder) zu entdecken. Liegen die Anfänge mit "This Delightful Day" noch unveröffentlicht, so erschienen 1990 "Ein Prophet ohne Zukunft", 1996 "Der Schattenspringer" und 2004 "Alles hat kein Ende". Zu erwähnen sind auch die Satiren "Der Unvollendete", "Mutter kocht Vater, zum Beispiel" sowie "Heute leider Konzert"; alle drei unter letztgenanntem Titel 2001 publiziert. Hinzu kommt die erstaunliche Zahl von bis dato rund 80 Essays, Offenen Briefen, Kolumnen, Glossen und Rezensionen – geschrieben in mehreren Jahrzehnten und überwiegend in Tages- bzw. Wochenzeitungen gedruckt.

Biographische Zeugnisse und Korrespondenz

Schon die von Kreisler selbst noch für sein Archiv in der Akademie der Künste ausgewählten persönlichen Unterlagen umreißen besondere Wegmarken seiner eindrücklichen Biographie. Empfehlungsschreiben vom Juni 1938 bezeugen die außerordentliche musikalische Begabung des jungen Kreislers, wünschen würdige Förderung; kontrapunktisch daneben der wenige Tage später erfolgende Amtsvermerk zum letzten Wohnort in Wien, erinnernd an die traumatischen Erfahrungen des gerade 16jährigen, mit seinen Eltern und zehntausenden anderen Juden auf der Flucht aus dem faschistischen Österreich; Bescheinigungen wie "Honorable Discharge Army of the United States" vom Oktober 1945 oder US-amerikanische Reisepässe verweisen auf das Land, das für rund 17 Jahre Exil bot, mit dessen Armee der 21jährige gegen das faschistische Deutschland in den Krieg zog, und benennen die Staatsbürgerschaft, der Kreisler bis zum Lebensende angehört.

Neben geschäftlichen Unterlagen wie Verträgen mit Theater-, Buch-, Musik- und Schallplatten-Verlagen sowie Aufführungs- bzw. Kooperationsverträgen mit Bühnen und Fernsehsendern liegt eine umfangreiche Korrespondenz mit diversen Institutionen vor, angefangen von Verlagen, Theatern, Opernhäusern, Rundfunk- und Fernsehanstalten, Zeitungs-/Zeitschriftenredaktionen, kommunalen und staatlichen Einrichtungen bis hin zum Bundeskanzler der Republik Österreich. Manch Auseinandersetzung, die dem Ausnahmetalent Kreisler fast notorisch durch diverse staatliche und kulturbetriebliche Instanzen auferlegt wird, könnte als Tragikomödie erscheinen, sähe man sich nicht unwillkürlich und pointiert dem irrlichternden Widersinn unserer Zeit- und Weltverhältnisse gegenüber. Auch wenn Kreislers bisher ins Archiv eingegangene Korrespondenz mit Privatpersonen im wesentlichen aus den 1990er Jahren bis zur Gegenwart datiert, so trifft der Leser auch hier auf den begnadeten Briefschreiber. Fernab aller sekundärliterarischen Bemühungen sind da prägnante Selbsterklärungen seiner berückenden Kunst zu entdecken: "ich bin halt ein Mensch, der immer nur seine zweiten oder noch späteren Gedanken aufschreibt, nie die ersten. Und die meisten Menschen wollen über die ersten Gedanken nicht hinausdenken, folglich halten sie die späteren Gedanken für mystisch oder für Unsinn." (Georg Kreisler an Evy Dietrich, 21. April 1998).

Dokumentation zu Leben und Werk Georg Kreislers

Die umfänglichen primären Materialien des Archivs finden ihre dokumentarische Ergänzung in einer Sammlung von Fotos, Druckschriften und audiovisuellen Materialien. Zu den Druckschriften gehören einzelne Aufsätze und Forschungsarbeiten zu Georg Kreisler, vor allem aber zahlreiche Programmhefte und Einladungen zu Inszenierungen, Kabarettvorstellungen, Chansonabenden, Lesungen und Gesprächen sowie eine nur in Tausenden zu zählende Sammlung von Zeitungsausschnitten von 1947 bis zur Gegenwart. Die Resonanz aus den Anfangsjahren in den USA, wo bereits von "the unique George Kreisler" die Rede ist, erfährt über die folgenden vielen Jahrzehnte bis heute ihre Fortsetzung in der deutschen, österreichischen und schweizerischen Presse. Angesichts der diesem Medium marktgängig eigenen Etikettierungen und Verzerrungen ist nicht hoch genug zu schätzen, daß Kreisler für sein Publikum, seine Hörer und Leser auf direktem, primärem Wege erreichbar bleibt, dauerhaft, jenseits von Zensoren und vorgeblichen Anwälten seiner Kunst. Sei es dank seiner Publikationen – von denen zuletzt allein fünf zu begrüßen waren – oder dank der im Archiv mannigfach bewahrten Quellen. Hier gilt ganz Kreisler gemäß: "Das Ewige tanzt." Bewahrt das Archiv seinem Selbstverständnis nach für die Ewigkeit, so garantiert es im selben Atemzug den transparenten Zugang zu den von Kreisler geschaffenen Welten in all ihrer träumerischen Vieldeutigkeit. Denn: "Um tanzen zu können, muß man lesen, / lesen, was im Wind geschrieben steht, / die Sprünge und die vielen Hypothesen. / Jeder ist sein eigener Interpret."

Aktuelle Publikationen:

Georg Kreisler: Letzte Lieder. Autobiografie. 1. Aufl. Zürich, Hamburg: Arche Literatur Verlag 2009.

Georg Kreisler: Georg Kreisler für Boshafte. 1. Aufl. Berlin: Insel Verlag 2010.

Georg Kreisler: Zufällig in San Francisco. Unbeabsichtigte Gedichte. 1. Aufl. Berlin: Verbrecher Verlag 2010.

Georg Kreisler: Anfänge. Eine literarische Vermutung. 1. Aufl. Zürich, Hamburg: Atrium Verlag 2010.

Georg Kreisler: Wien. Die einzige Stadt der Welt, in der ich geboren bin. Satiren. Erweiterte Neuausgabe. 1. Aufl. Zürich, Hamburg: Atrium Verlag 2011

Michael Custodis, Albrecht Riethmüller (Hrsg.): Georg Kreisler – Grenzgänger. Sieben Beiträge mit einem Nachwort von Georg Kreisler. Freiburg i. Br., Berlin, Wien: Rombach Verlag 2009.

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(Stand 02.01.12)


Schallplattencover zu Georg Kreisler: Everblacks. Intercord 1972


Georg Kreisler anläßlich seiner Lesung "Letzte Lieder. Autobiografie", Akademie der Künste, Berlin, 31. Oktober 2009; Foto: Kerstin Brümmer


Buchcover zu Georg Kreisler: Zwei alte Tanten tanzen Tango ... und andere Lieder. Zürich: Sanssouci Verlag 1961


Passport United States of America, 3. Januar 1978. Georg-Kreisler-Archiv


Georg Kreisler im Spiegel der US-amerikanischen Presse, 1947.
Georg-Kreisler-Archiv