1993

Martin Assig

Martin Assig ist Maler und Zeichner. Für seine Gemälde verwendet er – in Anlehnung an die altägyptische Technik der Enkaustik – in Wachs gebundene Farbpigmente. Seine Zeichnungen entstehen auf unterschiedlichen Blattformaten, in asketischem Schwarzweiß, Grafitgrau oder in einer intensiven Farbigkeit. Die Werke sind abstrakt oder gegenständlich mit Wachskreide, Pastell, Blei- und Farbstift, Tusche, Aquarell, Tempera oder Wachs gefertigt. Die reine Handzeichnung ist heute zu einem politischen Statement geworden gegen Effizienz, hohe Alltagsgeschwindigkeit, Realitäts- und Emotionsverlust. Impulsgeber findet Martin Assig unter anderem im selbstreflexiven Zeichenprozess, in seiner Erinnerung, in Zitaten aus Kunst und Literatur, in Kultobjekten und Votivbildern.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Martin Assig ist mit seiner Kunst jenseits aller Tagesmoden einen eigenen Weg gegangen.“ (Auszug Jurybegründung)

Martin Assig ist mit seiner Kunst jenseits aller Tagesmoden einen eigenen Weg gegangen. Für seine Gemälde hat er eine spezielle Mischtechnik entwickelt, der die Enkaustik, d.h. die Wachsmalerei, in durchdringender Verbindung mit Baumwolle und Holz zugrunde liegt. Die Zeichnungen sind mit Bleistift, Kohle und Farbstift bzw. Kreide hergestellt. Die Grundtöne von Assigs Palette sind Schwarz, Grafitgrau, Ockergelb und ein erdiges Rotbraun sowie hautartig opake Weißtöne (dafür das Wachs). Wie allein aus dieser Aufzählung hervorgeht, spielt eine bestimmte Substantialität für die Wirkung eine erhebliche Rolle. Assigs Art und Weise, Strukturen aus seiner Hand hervorgehen zu lassen, die sich in seinen Bildern zu dinghafter Erscheinung in einem geistigen Raum manifestieren, wirkt sperrig, widerspenstig, widerborstig, kratzig, zuweilen fast unbeholfen, als müsse ständig ein großer Widerstand überwunden werden, sie gewinnt aber gerade daraus wieder ihre höchste Leichtigkeit in der Transsubstantiation der Ding-Erscheinung. So sieht es aus, als kämen uns die weggeworfenen, im irdischen Gebrauch hinfällig gewordenen Dinge kraft ihres Eigensinns aus ihrem eigenen Jenseits fordernd entgegen. Die Insistenz der geistigen Energie, die Assig in die substantielle Verdichtung und auch wieder substantielle Verklärung der Stoffe und Motive in seinen Bildern investiert, überträgt sich unmittelbar auf den Betrachter, der sich von den Kräften, die von den Bildern ausgehen, innerlich angefasst fühlt. Die Assoziationen, die sich einstellen, beziehen sich gleicherweise auf so heterogene Erinnerungsquellen wie die Uniformen und Livreen auf dem Göpelwerk der Litaneien in Marcel Duchamps Großem Glas, auf Rindenmalereien der Aborigines wie auf die Verbrennungsrückstände alchimistischer Transmutationsvorgänge. Auch an die emblematische Plastizität von Fetischen und Votivgaben christlicher Heiliger ebenso wie für animistische Götter und Dämonen ist zu denken. Unerschaffenes wird sichtbar; Geschaffenes bleibt als obsolete Hülle eines vollzogenen Durchgangs durch den Tod zurück. Geistige Reflexion und Magie amalgamieren miteinander zu einem Geheimnis, das mit Worten nicht weiter zu erklären ist, sondern allein über das Auge mittels eines kontemplativen Nachsinnens begriffen werden kann.

Eberhard Roters

Der Juy gehörten an: Dieter Goltzsche, Klaus Staeck, Rolf Szymanski

Laudatio von Werner Schade, veröffentlicht anlässlich der Preisverleihung 1993 im zugehörigen Ausstellungskatalog:

Arsenale

Im Falle Martin Assigs zählen: das Geburtsjahr 1959 und von den Orten seines Lebens: Barsinghausen, Assisi, Bergen-Belsen. Es zählen die trotzigen Versuche des Jugendlichen, Kriegskrüppel zu bilden, es zählt die Ausbildung in Berlin bei Hans-Jürgen Diehl, die Arbeit in Berlin-Kreuzberg, wo man sich an manchen Tagen den Weg zwischen demolierten Autos zur Werkstatt bahnen muss und in Brädikow. Dort wartet der Tanzsaal eines Gasthauses auf ihn und die Stille des Schlachtfelds von Fehrbellin. Räume stehen offen, die mit Bildern erfüllt werden können, wenn möglich mit dauerhaften, unverrückbaren. Diesem Vorsatz zuliebe wurden künstlerische Fertigkeiten beiseite geschoben, die schwer zu erringen sind. Sie wurden abgelegt wie ein Prunkmantel, von dem man sich trennt, wenn man in die Tiefe des Waldes eindringen will. Bilder stehen für Bilder. Kunst ist gesättigt von Kunstbetrachtung. Die Kunst bezieht ihr Selbstverständnis aus der Rücksprache mit dem Geflecht der vorgefundenen Kunst. Die Künstler leben mit dieser starken Herausforderung. Der Gedanke an bloße Nachfolge oder an einfache Reaktion erfasst den Vorgang in seiner Tiefe nicht. Bilder kommen und gehen, erwirken immer wieder Gegenbilder. Bilder sind nicht abzuweisen, sie würden wiederkommen, auch wenn man versuchen würde, sie abzuschaffen. Die Unruhe der üblichen visuellen Attraktionen ersetzt Bilder nicht. Bilder brauchen Ruhe, sollen eingesaugt, von Blicken umsponnen werden. 

Die Herrschaft des stillgelegten Blickes seit der Malerei der Brüder van Eyck hat kostbare Bilderschätze anhäufen helfen. Ist daran anzuknüpfen? Bildmontagen sind in vielen Fällen an die Stelle von Bildern getreten: Zitate, auch Gegenstände des Alltags, sind in Bilder eingebaut worden. Eine Flut von getragenen Kleidern, benutzten Gefäßen, Werkzeugen, Wanderstäben und Idolen hat in die Kunstpraxis Eingang gefunden. Gewiss besteht ein Unterschied, ob die Hochzeit von Kanaan als ablaufende Geschichte dargestellt wird, oder ob die wunderbare Verwandlung von Wasser in Wein durch die Gefäße selbst zur Erinnerung gebracht wird. 

Aus Kirchengrundrissen entwickelte Martin Assig Gewänder und aus Kleidern Kirchenbauten. Das Bild von Landkarten, die uns alle Weitläufigkeit zu Füßen legen, alte Idealpläne, verschränkte er mit den unseligen Höllenanlagen unserer Tage, den Lagern Auschwitz und Birkenau. Indem die hellen und die dunklen Male der Geschichte von unendlichen Bändern und Kreisläufen übersponnen werden, sind Anfang und Ende verknüpft. Die Geschichte wird vor dem Vergessen bewahrt. 

Eines der frühen Hauptwerke von Martin Assig, noch des Bildschnitzers, 1985 entstanden, trug nacheinander die Titel: Opfer, Nest, Lamm. Ein Mann schreitet mit entblößtem Oberkörper (selbstbildnishaft) durch niedriges Wasser. Ein Zwischenwesen aus einem Christophorus und einem Christus der Kreuztragung. Arme sind nicht zu sehen, aber auf den Schultern liegen Äste, und ein Nest wie eine Dornenkrone wächst über dem Kopf hervor. Die Gestalt ist aus drei alten Tischplatten herausgehauen, ein Bild, das den Künstler überwältigt zu haben scheint. Der Holzton glänzt golden neben Schichten von dunkelfarbenem Wachs. Gesicht und Schultern sind von weißem Wachs bedeckt, schimmern sanft auf. Der Ausdruck ist halbverhüllt. Im Vorangehen zerteilt die Gestalt entschlossen die Fläche. Das Relief war entwickelt aus einer Reihe von Zeichnungen, die kniende oder stehende Heiligengestalten zeigen. Es sind kräftig gebildete Figuren, die über Wasserstellen beten und predigen und aus deren Augenhöhlen Ströme fließen. Später erscheinen die Glieder der Figuren verdichtet, die Köpfe abgedreht, wie auf Explosionszeichnungen, auf denen etwa Mechaniker ihre Erfindungen festhalten. Vom letzten Aufschrei gekrümmte Körper, sie erinnern an mittelalterliche Kruzifixe, zeigen sich. Die körperliche Kraft, das Volumen und das Aufleuchten der frühen Heiligenfiguren ist unvergesslich. Danach ist alle Energie nach innen gekehrt. Die Körper verlöschen. Anstelle von Armen ertasten wir nur noch Pfotenbildungen und Stümpfe. An den Stümpfen hängen Gewichte. Die Gesten werden zurückgenommen, die Handlungen gedämpft, Formen der Verneigung deuten die Einordnung in neue Kreisläufe an. Die Bewegung ist wie beim Schlaf zurückgenommen, ausgelöscht. Pfahlartige Gestalten, in Verhüllungen gefangen, bilden Gruppen in Kreisen. Der Sinn für Netze, Gerüste, Kreisläufe ist erwacht und wird verstärkt. Verhangene Gestik und Verzicht auf Beweglichkeit begleiten seitdem die Figuren des Künstlers. 

Von den mumienhaften Gestalten bleiben die Hüllen. Die Bilder werden von neuen Bildern durchkreuzt, ein Vorgang, der sich im Werk Martin Assigs wiederholt. Leere Gewänder zeigen die Ausbeulungen kräftiger Körper. Organisches, Gehirn, Gedärm, das Herz, die Adern, Gebärmutter und Hoden sind angegeben. Andere Behältnisse zeigen sich. Die Hosen sind der Form von Altartischen angenähert, die Frauenkleider Doppelturmfassaden. Daneben Hülsen, Schoten, Körbe, Reusen, Käfige, Netze, Verbände, Umwicklungen wie für Mumien. Das Arsenal eines Krankenhauses ist auszumachen. Manche Gefäße sind im Verbund, Transfusionen finden statt. 

Dieser nur gerafft angedeutete Wandel bezeichnet die Vorgeschichte der Arbeiten in dieser Ausstellung. Das Verlöschen der Figuren hängt mit dem Misstrauen gegenüber Pathosformen zusammen. Gesicherte Elemente der künstlerischen Praxis wurden dieser Ablehnung geopfert. Das Figurenzeichnen klassischer Art verlor an Gewicht. Immer wieder wird das eigene Werk in Frage gestellt. Widerstrebende Materialien lassen den Zufall ins Werk einfließen. Die Körperbewegungen gerinnen. Die Formen werden gedämpft, gebündelt, von nachdrängenden Vorstellungen überwölbt. Die Gesichter scheinen verstellt. 

Das Material der Bilder in den letzten Jahren ist Wachs gewesen. Weiß, gelblich oder leicht gefärbt, manchmal zu Kaskaden gehäuft, eine geronnene Flüssigkeit oder eine durchscheinende Haut über wechselnden Gründen. Das Arbeiten mit Wachs hat die Farben verdrängt. Das Fließen des Materials mit den Grenzen seiner Farbdurchdringung, sein Duft, sein Stocken beim Erkalten, die Möglichkeit, es abzuschaben, Zufügungen anzuschmelzen, üben einen großen Reiz bei der Arbeit aus. Wachs ist geduldig und schließt Stoffe anderer Art ohne Schwierigkeit ein. Wachs stillt die Formen. Es trübt die Gläser, die es überfängt, es hindert Farben am Aufleuchten, lässt Formen glimmen. 

Auch bei Papieren ist das Beschichten mit Formen zu beobachten. Der Strich der Zeichnungen hat Gewicht. In diesem Zusammenhang nicht übliches Vorgehen: Mit Bleistift und Kugelschreiber werden Flächen auf Pinselzeichnungen überarbeitet. Es werden Schichten aufgebracht. Es geht um stoffliche Unterscheidungen. Nicht Gebilde aus Licht und Schatten sind im Spiel, sondern Substanzen. Die Arbeit besteht aus Anhäufungen und Anfügungen, freilich von subtiler Art. 

Trotz der plastischen Arbeitsweise ist die Bildfläche sorgfältig respektiert. Die Form wird aus der Papierfläche gewonnen, ist mit malerischen Mitteln kontrolliert. Nie ist das Bild infrage gestellt, nirgendwo findet sich das Unbekümmerte eines Studienblattes. Das Verknäulen der Motive und das Schichten des Materials schaffen vielfach Aneinanderkettungen. Nicht eine vorgefasste Idee bricht sich Bahn, sondern Bildvorstellungen werden auf ihre Haltbarkeit geprüft. Es geht um Ergebnisse, die standhalten können. Ein Feld wird bebaut durch Bilder oder plastische Behältnisse. 

Es gibt neben bewegten sehr ruhige Bilder. Tafeln, in denen die Bewegung ausgelöscht und ein Endzustand angestrebt ist. Auf einer finden sich angehäuft rote Gefäße in Beutelform, steile Urnen. Sie stehen in Spalten und Zeilen gereiht. Flächen in der Gegenfarbe Blau hinterfangen und durchdringen die Behälter. 

Es begegnen sich helmförmige Gefäße, zweigeteilt in Ober- und Unterteile, männliches und weibliches Prinzip vereinigend, es gibt von den Darstellungen der Behälter mehrere Großformate, wo auch Strömungen aus den Behältnissen zu finden sind. Es sind Bilder in dunklen, schwarzen oder roten Massen mit dazwischengespannten Grundflächen. So könnte ein Archäologe die verwitterten Stücke eines Fundes in ihrer Lage festgehalten haben, starr und schweigend. 

Ein heller dreigegliederter Frauenkörper, mit Schnürenstreifen waagerecht belegt, Frau mit Ableitungen, ist in der Unbeweglichkeit der Gefäße dargestellt. Schläuche mit Verschlüssen versetzen den großen Leib in die traumhafte Gefangenschaft einer Operation. 

Daneben gibt es bei Martin Assig aufgeladene Bilder, dramatische gegenüber den statischen, stillebenhaften der Gefäßbilder. Eine dunkle Figur erscheint vor hellem Grund in tiefer Verneigung, Frau mit Neigung. Von dem verschatteten Kopf gehen Leitungen aus, verwinkelt wie Baumzweige und mit dunklen Körpern besetzt. Der dunkle Leib geht in eine steile gefaltete Glockenform über, ein Rock wie der Schweif eines Pfauenvogels. Das Geländer und Gitterwerk hinter ihr nehmen die Verästelungen der Figur auf. 

Erdball erscheint als ein Ballon mit einer Ausstülpung nach oben und mit einem Schweif nach unten aus Halmen und Früchten. Die Erscheinung wirkt wie eine Art von Füllhorn. Über die Kugel gelegt findet sich zuletzt ein Holzstamm. Indianergrab. Vier liegende tote Körper in einem Baum, dieser aber ist umgeformt zu einem Doppelgefäß. Ein gelber Fleck. Darunter eine weiß übermalte Fläche wie Wasser. Frau mit Gefäß. Ein großer dunkler Mörser. Daneben Leitungen zusammengeflochten zu einem Körper, dessen Kopf einer anderen hellen Sphäre darüber angehört. 

Die Bildgegenstände scheinen geschichtet, behauen, um Kerne und Leitungen gelegt. So nahmen Goldschmiede früher wohl die Hirnschale eines Kirchenschatzes und bekleideten sie mit Goldblech und Edelsteinen, oder sie formten um einen Unterarm aus Speiche und Elle ein Armreliquiar. Hier aber senkt sich das Wunder der Form über Apparate, lässt Leben durchscheinen und bringt Flächen und Tiefen zum Schwingen. Die Gefäße stehen in flutenden, brennenden Kreisläufen. 

Die Gegenwart wird in diesem Werk betrachtet, beschworen wird der Ausblick auf undefinierte Weiten. Die Gedanken umkreisen Personen und Welten. Fragen werden aufgeworfen, für die keine Antworten parat sind. Nicht einmal der Versuch wird unternommen, die Probleme einzuebnen. Weite, vielleicht vergebliche Kreisläufe sind in diesen Werken eingefangen. 

Bei den Entscheidungen des Künstlers geht es um Bildräume, um haltbare Bildlösungen. Das Abschwächen des Figürlichen dient dazu, die Welt der Figuren zu bewahren. Das Bild wird belastet und aufgeladen. Gleichgewichte sind angestrebt. Ausgeschaltet bleibt, was den Spannungen widerstrebt. Bilder werden gewonnen aus dem Wagnis des Aufklaffens. Ungleichgewicht, Unruhe und Unordnung werden im Augenblick der Entscheidung in Kauf genommen. Präzision und Leichtigkeit mancher Lösungen werden dem Zeichnen verdankt. Der Unbegreiflichkeit des Himmels antwortet die begriffliche Unausschöpflichkeit der Bilder. Dem unermesslichen Gewölbe werden Schalen entgegengehalten.