2012

Douglas Gordon

Das kritische Hinterfragen geschlossener Erzählstrukturen im Film ist ein zentrales Thema in der Kunst des Schotten Douglas Gordon. In ortspezifischen Videoinstallationen, Fotografien oder konzeptuellen Textarbeiten untersucht er die technischen und psychologischen Grundbedingungen filmischer Narration und geht der Frage nach, wie die Gegenwart im Film und in den Massenmedien reflektiert wird. Gordon versucht die traditionelle Konstituierung des Betrachters durch die gängigen Erzählstrukturen des Mainstream-Kinos außer Kraft zu setzen. Er sucht nach Wegen, wie und „was Kino, nicht aber Film ersetzen könnte. Also nach der Möglichkeit, erneut berauscht zu sein“ (Douglas Gordon, 1999).

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Es geht um die Frage nach der eigenen Identität und Wahrnehmung beim Betrachten von Filmen – dem Erleben, Sehen, Fühlen, Erinnern und Bewusstwerden.“ (Auszug Jurybegründung)

Die immer stärkere Annäherung von Fotografie, Film und Video an die bildende Kunst – seit den frühen 1990er Jahren unter dem Begriff des iconic turn in den Bildwissenschaften diskutiert und analysiert – führt dazu, dass wir längst bei dem Phänomen des Crossover angekommen sind. Für die bildende Kunst bedeutet das aber nicht nur, dass diese zu Massenmedien erhobenen Disziplinen der Reproduktion und Vervielfältigung auf kulturelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen bis hin zum World Wide Web Einfluss nehmen. Sondern es bedeutet auch, dass sich neue Formen der Rezeption von Fotografie, Film und Video herausgebildet und diese in den bildenden Künsten spätestens seit 1995 auch auf den großen internationalen Biennalen Anerkennung erfahren haben. Douglas Gordon gehört zu den jüngeren Hauptvertretern dieser Entwicklung und hat 1999 mit seiner provokanten Aussage „Das Kino ist tot“ deutlich gemacht, dass Geschichten und Bilder des Kinofilms dank neuer technischer Möglichkeiten vollständig dekonstruiert werden können und als monumentale sowie kritische Kunstwerke eine neue Gültigkeit und Tragfähigkeit erlangen. Schon als Kind waren es die Klassiker der Filmgeschichte, die ihn faszinierten. Der kritische Umgang mit der Differenz zwischen Bild, Abbild und Realität sowie mit den moralischen Werten in Film, Fernsehen und Realität hat der Künstler dabei stets in den Vordergrund gestellt.

Das Gesamtwerk von Douglas Gordon basiert auf der Idee, dass die Mehrdeutigkeit seiner Arbeiten die Rezipienten anspricht und sie dadurch beginnen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Methode der Dekonstruktion und die Konsequenz, diese Methode zu verfolgen, spielen dabei die tragende Rolle, denn der Turner-Preisträger von 1996 nutzt für seine filmischen Werke Ikonen der Film- und Filmmusikgeschichte (Vertigo, Psycho), des Fußballs (Zidane), bezieht sich auf Platons Höhlengleichnis (Platos Cave, 2006), um nur einige Ausgangspunkte zu nennen. Dekonstruktion bedeutet bei Gordon, vorhandenes Filmmaterial so zu modifizieren, dass die Grundzüge des Originalfilms ausgehebelt werden, oder aber es entstehen eigene komplexe Spielfilme, die keinem Spielfilm-Flow entsprechen. Neben diesen raumgreifenden filmischen Großprojektionen konzipiert der bildende Künstler aus Schottland aber auch skulpturale Installationen, konzeptuelle Textarbeiten (z. B. List of Names, seit 1990), bearbeitete Fotografien sowie Videoinstallationen.

24 Hour Psycho, 1993, und Zidane: A 21st Century Portrait, 2006, machten Douglas Gordon über die Grenzen der zeitgenössischen Kunstszene hinaus bekannt, so dass er 2008 in die Jury der 65. Internationalen Filmfestspiele von Venedig berufen wurde. Die monumentale Videoinstallation 24 Hour Psycho überzeugt dadurch, dass Gordon eine tonlose Version von Alfred Hitchcocks Film Psycho (1960) extrem verlangsamt und auf 24 Stunden ausdehnt – ein Schlüsselwerk für den Künstler, in dem Zeitmessung und Tonspur ausgeblendet werden. Der Rezipient verfällt in einen Zustand der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit und ist gefangen in der einzigartigen physischen Präsenz reiner Bilder. Gordon setzt hier die geschlossene Erzählstruktur des Films außer Kraft und widmet sich dessen technischen und psychologischen Grundbedingungen. Sein Interesse gilt der Wirkung des Mediums auf den Betrachter und der Frage, wie unsere Zeit im Film reflektiert wird. Da wir den Erzählstrukturen des Mainstream-Kinos heute kaum noch entfliehen können, sucht er danach, „was Kino, nicht Film, ersetzen könnte. Also nach der Möglichkeit, erneut berauscht zu sein“ (Douglas Gordon, 1999). So kann man in Feature Film (1999), nicht sehen, was man hört. Aber man erkennt die einprägsame Filmmusik von Bernard Herrmann zu Hitchcocks Vertigo von 1958, die Douglas Gordon von James Conlon mit dem Ensemble der Pariser Oper neu einspielen ließ und dabei den Dirigenten aus verschiedenen Perspektiven filmte. Gordons Spielfilm entspricht der originalen Filmlänge von Vertigo: 122 Minuten und 55 Sekunden Bild versus Ton.

Douglas Gordon überzeugte die Jury durch seinen einzigartigen künstlerisch-gestaltenden Umgang mit historischem Filmmaterial und den Versuch, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Weise zu verbinden, die neuartige, dem Konsumkino fremde Erfahrungen und Dimensionen eröffnet: Es geht um die Frage nach der eigenen Identität und Wahrnehmung beim Betrachten von Filmen – dem Erleben, Sehen, Fühlen, Erinnern und Bewusstwerden.

Der Jury gehörten an: Mirosław Bałka, Katharina Grosse und Hermann Pitz

Katalogtext von Keith Hartley, veröffentlicht anlässlich der Preisverleihung am 14. September 2012 im zugehörigen Ausstellungskatalog:

Douglas Gordon: Strukturen und das Begehren

Aller großen Kunst müssen Struktur und intellektuelle Disziplin innewohnen, um Bedeutung zu erzeugen, doch sie sollte auch von Leidenschaft und menschlicher Wärme erfüllt sein, damit die Bedeutung zum Leben erwacht und wir sie als solche empfinden können. In vielen Kunstwerken erfolgt diese Synthese nahtlos und auf scheinbar natürliche Weise, und die Künstler spüren dabei weder einen Widerspruch noch eine innere Anspannung. Nichtsdestoweniger gibt es auch Kunstwerke, vielleicht ist es sogar die Mehrzahl, deren Kern sich gerade aus dem fruchtbaren Gegensatz ihrer rationalen Struktur – ihrem Argument – und ihrer emotionalen Quellen bildet. Bertolt Brecht und Thomas Mann sind klassische Beispiele für Künstler, die sich, im Falle Manns mehr, im Falle Brechts weniger, solcher Mehrdeutigkeiten bewusst bedienen, um den Reichtum des Lebens zu erkunden.

Brecht verfügte über eine ausgefeilte, auf der marxistischen Ideologie beruhende Theorie, um das Wirtschaftssystem zu erklären und zu kritisieren, das einige seiner Figuren zu ihrem Handeln veranlasst. Insoweit sind seine Stücke weniger Spiegel der Wirklichkeit als vielmehr Lehrstücke, mit denen die Wirklichkeit analysiert und zugleich gezeigt werden soll, wie man sie zum Besseren verändert. Freilich verliebte sich Brecht häufig in seine Figuren, während er sie schuf, und konnte daher nicht umhin, sie als komplexe Einzelwesen darzustellen, in die sich das Publikum einzufühlen vermochte. Mutter Courage ist hierfür ein Musterbeispiel. Indem sie den Soldaten das Leben erleichtern, tragen sie und ihre Mitstreiter, die wie sie von Heerlager zu Heerlager ziehen, zur Verlängerung der gewaltsamen Auseinandersetzungen bei. In dieser Hinsicht ist sie als negativer Charakter zu verstehen. Doch Brecht faszinierte ihr unbeugsamer Wille. Von den Ereignissen überrollt, rappelt sie sich auf und überlegt, wie sie wieder ins Geschäft kommen kann. Am Ende sympathisieren wir mit ihr und bewundern sie als Symbol menschlicher Widerstandsfähigkeit – genau das Gegenteil von dem, was Brecht ursprünglich beabsichtigt hatte.

Wahrscheinlich ist Thomas Mann vor allem für seine Ironie, seinen trockenen Humor und seine Weigerung bekannt, sich die tragische Form zu eigen zu machen. Bei ihm wird alles vernunftgemäß begründet und aus einer mehr oder weniger sarkastischen auktorialen Sicht betrachtet. Doch Mann war sich völlig im Klaren über diese ironische Haltung: Sie war von entscheidender Bedeutung dafür, dass nicht sein ihm angeborenes romantisches Wesen die Kontrolle übernahm. Wie Brecht neigte auch Mann dazu, sich in seine Figuren zu verlieben, doch im Gegensatz zu Brecht verfasste Mann seine Werke nicht von einem nicht-mimetischen didaktischen Standpunkt aus, sondern es waren realistische Romane, Novellen und allerlei Erzählungen im traditionellen Stil fiktiver Texte des 19. Jahrhunderts. Er musste eine andere Strategie finden, um zu einem Gleichgewicht zwischen intellektueller Kontrolle und empathischer Identität zu gelangen und fand sie in der Ironie.

Ironie ist eine Strategie, derer sich viele Konzeptkünstler seit den 1960er Jahren bedienten, um damit die Funktionsmechanismen, die Struktur der Kunst bloßzulegen. Vor allem ist Ironie eine Form gesteigerten Selbstbewusstseins, ein geheimes Einverständnis zwischen Künstler, Autor, Schöpfer und Publikum, Leser oder Nutzer, die wechselseitige Anerkennung, dass ein Kunstwerk nichts anderes als ein Vorwand dafür ist, interessante Themen zu untersuchen, um auf Donald Judds Begrifflichkeit zurückzugreifen. Douglas Gordon hat gesagt: „Kunst ist lediglich ein Vorwand, um zu kommunizieren. [...] Entscheidend ist der Fluss der, politischen oder psychologischen, Ideen, die das Kunstwerk umkreisen.“1 In dieser Hinsicht ist Douglas Gordon ein wahrer Erbe der früheren Konzeptkünstler und damit wiederum Marcel Duchamps. Doch ist ihm auch durchaus klar, dass seine Kunst sich in einer wichtigen Hinsicht von der ihren unterscheidet. Im Gespräch mit Ruth Rosengarten spricht Gordon 1999 über Ironie in der Konzeptkunst, fügt allerdings hinzu: „Solche Werke [wie sein What you want me to say, 1998] haben etwas Ironisches, aber sie führen auch ein intuitives Eigenleben. Vielleicht ist das etwas, womit meine Generation von Konzeptkünstlern eher umgehen kann, während die erste Generation sich schwer damit tat, nämlich gleichzeitig konzeptionell und intuitiv zu sein.“2

Hier, und andernorts, versucht Gordon zu analysieren, was seine Kunst und die seiner Generation auszeichnet und von anderer Kunst unterscheidet. Er spricht davon, wie wichtig ihm seine Kunst sei, um kognitive Bewusstseinsprozesse, insbesondere die Rolle des Gedächtnisses für unsere Wahrnehmung der Vergangenheit und der Gegenwart, besser zu verstehen. Allerdings tut er das nicht, indem er nur das Gehirn anspricht. Er nutzt vielmehr die sinnlichen Eigenschaften der Kunst, damit wir fühlen, was er auszudrücken versucht.

Um Gordons Intention zu verstehen, betrachtet man am besten, auf welche Weise er im Laufe der Jahre Film und Video eingesetzt hat, von 24 Hour Psycho, 1993, bis zu einem seiner neuesten Werke k.364, 2011. Dadurch wird nicht nur deutlich, wie Gordon diese Medien verwendet, sondern es veranschaulicht auch seine Entwicklung, in deren Verlauf er sich mehr und mehr vom Gebrauch von Film/Video als (veränderte) Readymades abwandte und dazu überging, bei neuen Werken mit Originalkamera und Tonbildmaterial Regie zu führen. (Gordon hat immer wieder gesagt, es sei stets sein Ehrgeiz gewesen, einen Film auf mehr oder weniger traditionelle Weise zu machen, doch es habe sich ihm keine Gelegenheit dazu geboten.) Hand in Hand mit dieser Entwicklung ging ein zunehmendes Interesse an der Erkundung der menschlichen Gestalt, vor allem des Gesichts, der Hände und des Körpers im Allgemeinen. Außerdem hat sich die Bedeutung der formalen Seite der Produktion sowie der bloßen audiovisuellen Verführungskraft verstärkt, auch wenn das möglicherweise mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zusammenhängt. Gegenüber diesem letzten Aspekt hat Gordon in seinem Werk, ja in der Kunst allgemein, eine gewisse Ambivalenz an den Tag gelegt. 1996 sagte er über Schönheit: „Es ist mir nicht möglich zu sagen, dass ich etwas Schönes machen wollte. Ich weiß nicht warum, aber ich gebe zu, dass ich mit der Idee der reinen Schönheit Schwierigkeiten habe. [...] Zum Film habe ich eine unschuldige Beziehung des Begehrens, und diese dient als eine Grundlage für die Untersuchung. Wenn man Begehren und Untersuchen miteinander vermischt, entsteht aus meiner Sicht ein ziemlich gutes Gleichgewicht. Reines Begehren, reine Schönheit interessieren mich nicht. Ehrlich gesagt gefällt es mir nicht, mir Kunst anzusehen, bei der es allein um die Konstruktion von Schönheit geht, aber genauso wenig gefällt mir Kunst, die reine Untersuchung ist, ohne wie auch immer geartete Verführung. [...] Ich möchte Kunst machen, die verführerisch ist, und dann entdeckt man etwas darin, das einen dazu bringt, zweimal nachzudenken, und dann kann man einen Schritt zurücktreten, es sich abermals anschauen und sich erneut verführen lassen usw. Das Ästhetische ist also entscheidend, aber nicht überwältigend.“3

Eine von Gordons frühesten Film-/Videoarbeiten ist wahrscheinlich seine berühmteste: 24 Hour Psycho, 1993. Die Prämisse des Werks ist von einer gewagten Schlichtheit, hat aber weitreichende Konsequenzen: Man nehme Alfred Hitchcocks Film-Ikone Psycho und verlangsame sie so, dass eine Vorführung vierundzwanzig Stunden dauert. Der Film ist ein spannungsgeladener Thriller, der das Publikum an die Kinosessel fesselt, während es gebannt darauf wartet zu sehen, was seiner Vermutung oder seiner Gewissheit nach als Nächstes geschehen wird. Doch durch die dramatische Verlangsamung des Films wird die gesamte Spannung so sehr verzögert, dass dies frustrierend wirken muss. Mit der Bemerkung, normalerweise werde die Gegenwart von einer sich unkontrolliert ausbreitenden Zukunft und unserer Erinnerung an die Vergangenheit eingezwängt, nimmt Gordon auf Heidegger Bezug. Bei 24 Hour Psycho ist das Gegenteil der Fall. Aufgrund der eigenen, oder mutmaßlichen, Erinnerung an die Handlung des Films wird die Zukunft ein Teil der Vergangenheit, während die Vergangenheit über einer scheinbar ewigen Gegenwart größtenteils in Vergessenheit gerät. Gordon genießt es, die Komplexität des menschlichen Wahrnehmungsapparats zu erkunden, und besonders interessiert ihn dabei die Rolle, die das Gedächtnis in der Alltagswahrnehmung und im alltäglichen Bewusstsein spielen. Noch komplizierter wird es für die Betrachter von 24 Hour Psycho dadurch, dass sie sich in dem abgedunkelten Raum mit der von der Decke herabhängenden Leinwand, auf welcher der Film zu sehen ist, ihrer selbst bewusst sind. Sie und ihre Körper befinden sich dort in Echtzeit gemeinsam mit anderen Leuten. Daraus ergibt sich eine gewisse Verwirrung und Desorientierung. In den Worten, mit denen Gordon 24 Hour Psycho kommentierte: „Bei [Filmen wie] 24 Hour Psycho ging es mir darum, dass sich das Mikronarrativ [die Art wie der Film zusammengefügt ist] von der Originalversion lösen und in Echtzeit existieren konnte, neben unseren Erinnerungen und Erwartungen an das, was wir unserer Meinung nach gleich als nächstes sehen werden. Unser kognitives System empfindet es als äußerst schwierig, mit all dem zu Rande zu kommen. [...] Der Film wird so langsam projiziert, dass er unsere Erwartung leugnet und unsere Erinnerung an die Ereignisse untergräbt. Gleichzeitig sind wir uns der Tatsache bewusst, dass hier ein neues Narrativ konstruiert wird, das sich derselben Informationen bedient. Und diese ganzen Widersprüche und diese ›Un-Sinns‹-Produktion erfolgt in dem durchaus logischen Prozess des Analysierens eines Films und des Daraus-schlau-Werdens. Das war das Interessante für mich: die Verwendung eines logischen Systems, das in der Praxis völlig implodierte.“4

Insofern arbeitet Gordon sehr stark mit den Traditionen der Filmtheorie und der Filmkritik sowie, wichtiger noch, mit verschiedenen konzeptionellen Kunstpraktiken wie etwa denen Dan Grahams.5 Gleichwohl, und das ist entscheidend, führte Gordons Verwendung eines bereits existierenden Films, und noch dazu eines extrem bekannten und populären, ein – wie er selbst sagt – verführerisches Element in die Gleichung ein. Filme können analysiert und dekonstruiert werden, doch ebenso gut können sie geliebt und begehrt werden. Und wie Gordon hervorgehoben hat, wird die Zeitlupentaste eines DVD-Players eher zum Zweck der Selbststimulation verwendet als in analytischer Absicht. Was die Präsentation des Werks betrifft, insistiert Gordon darauf, dass 24 Hour Psycho auf eine Leinwand projiziert wird, die in der Mitte eines abgedunkelten Raums von der Decke hängt. Das bedeutet, dass die Betrachter völlig in das Geschehen auf der Leinwand eintauchen. Man macht die physische Erfahrung, um beide Seiten eines Bildes herumlaufen und das Spiegelbild der jeweils anderen Seite betrachten zu können. Dies ist eine ebenso intuitive wie zerebrale oder kontemplative Erfahrung. Auch die Entscheidung für Hitchcocks Psycho ist von erheblicher Bedeutung. Die Hauptfigur des Films ist schizophren: zugleich pflichtbewusster Sohn und rachsüchtige Mutter, zugleich ein liebenswürdiger Mensch und ein kaltblütiger Mörder. Gordon faszinieren mutmaßliche Gegensätze: Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Positiv und Negativ. Hier verwendet er zum ersten Mal dieses intuitivste aller Motive in seinem Werk.

Auch danach schuf Gordon mehrere Werke, die auf bereits vorhandenen Filmen beruhten, darunter 5 Year Drive-By, 1995, Confessions of a Justified Sinner, 1995, Between Darkness and Light (After William Blake), 1997, Left is Right and Right is Wrong and Left is Wrong and Right is Right, 1999, sowie Déjà vu, 2000. Sie alle manipulieren Filme auf die eine oder andere Weise, indem sie sie verlangsamen (besonders radikal in 5 Year Drive-By), positive und negative Clips aus demselben Film nebeneinander präsentieren (Confessions of a Justified Sinner), zwei Filme übereinanderlegen, die beide mit Besessenheit, guter und böser, zu tun haben (Between Darkness and Light (After William Blake)), zwei Projektionen desselben Films miteinander konfrontieren, die jeweils unterschiedliche Einzelbilder zeigen, oder zwei Projektionen desselben Filmes dreimal nebeneinander vorführen, jeweils mit einer anderen Geschwindigkeit (Déjà vu). In jedem Fall stehen die von Gordon getroffene Wahl des Films (oder der Filme) und die Art und Weise, wie er sie manipuliert, in einem Zusammenhang miteinander, sodass man zu einer neuen Einsicht, zu einer neuen Betrachtungsweise der Filme gelangt. Sie alle konzentrieren sich auf die Faszination des Künstlers von Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod sowie ihrer wechselseitigen Verbundenheit, ja der Tatsache, dass sie zwei Seiten derselben Medaille sind. Gordon geht es nicht darum, die von ihm verwendeten Filme an sich zu analysieren, sondern eher darum, ihre halluzinatorische, verführerische Macht zu nutzen, um universelle Wahrheiten über die condition humaine zum Ausdruck zu bringen.

Nichtsdestotrotz wollte Gordon immer selbst Filme machen. Das erste Mal tat er dies 1999 mit Feature Film.6 Die Art und Weise, wie er den Film drehte, die Konzentration auf die menschliche Gestalt, vor allem das Gesicht und die Hände, sowie der Einsatz der Musik, der wie ein Mutterleib alles umfasst, sollten sich als bahnbrechend für seine zukünftige künstlerische Entwicklung erweisen. In einer Hinsicht wahrt Feature Film eine entscheidende Verbindung zu Gordons Readymade-Filmen, insofern die Musik von Bernard Herrmanns Partitur für Alfred Hitchcocks Film Vertigo stammt. Tatsächlich steht diese spätromantische Musik im Mittelpunkt von Gordons Werk. Allerdings verwendete er nicht die Musik aus dem ursprünglichen Soundtrack, sondern gab eine Neueinspielung unter dem Dirigat von James Conlon, dem chef d'orchestre der Pariser Oper, in Auftrag. Während die Musik aufgenommen wurde, filmte Gordon den Dirigenten und konzentrierte sich dabei ganz auf dessen Gesicht, Arme und Hände. Mit Hilfe dieser Körperteile bringt Conlon seine Gefühle für die Musik zum Ausdruck und erteilt dem Orchester seine Anweisungen. In einer dramatischen Nahaufnahme fängt Gordon Conlons fließende Bewegungen und den intensiven Gesichtsausdruck ein, die sich von dem dunklen Hintergrund abheben. Zu keinem Zeitpunkt sehen wir Conlons ganzen Körper, ganz zu schweigen von dem Orchester oder dem Raum. Von Gordons Werk gibt es zwei Versionen. Die erste besteht aus einer Projektion des Films, bei der James Conlon die gesamte Partitur dirigiert, ohne Unterbrechungen, die die Handlung von Vertigo berücksichtigen. Diese Fassung ist für ein Kino-Publikum bestimmt. Die andere, die eigens für eine Galerie entstand, enthält solche handlungsbedingten Unterbrechungen: Die Leinwand wird dunkel, doch an einer anderen Stelle im Raum kann das Publikum Hitchcocks Film Vertigo sehen, wenn es dies möchte, und die Lücken füllen. Die erste Fassung lässt sich, falls gewünscht, ohne Bezug auf Hitchcocks Film anschauen und genießen, auch wenn Teile des Publikums Vertigo sicherlich kennen und in der Lage sind, bestimmte Leitmotive der Musik auf bestimmte Figuren und Entwicklungen im Originalfilm zu beziehen. Die zweite Version rückt diese Verbindungen wesentlich stärker in den Vordergrund und macht sie sichtbar. Tatsächlich handelt es sich bei Feature Film um ein hybrides Werk. Man kann sich entweder fast ausschließlich auf das zutiefst humanistische Porträt des Dirigenten und seine intime Beziehung zur Musik konzentrieren, und wenn man Hitchcocks Vertigo nicht kennt, bleibt einem auch gar keine andere Wahl. Die Musik ist extrem romantisch und suggeriert sehnsüchtige Erwartung, Liebe, Besessenheit und Enttäuschung, Gefahr und großes Drama. Man könnte in seinen Fantasien schwelgen und seinen eigenen inneren Film erschaffen. Oder aber man könnte versuchen, die Musik auf die eigene Erinnerung an Hitchcocks Film zu beziehen. Gordon selbst ist voller Bewunderung für Vertigo, die Weigerung des Films, zu einem definitiven Abschluss zu kommen und eine klare Auflösung zu bieten. Er schuf 1998 sogar ein Lichtkunstwerk für eine Gasse in einem alten Stadtteil von Glasgow, ein grünes illuminiertes Zeichen an einem Gebäude, das den Schriftzug EMPIRE in Spiegelschrift zeigt.

Was Déjà vu, 2000, im Hinblick auf zukünftige Werke so prophetisch machen sollte, waren die Nahaufnahmen einer einzelnen Figur, und die Art und Weise, wie deren Bewegungen und Gesten mit der Musik in Beziehung standen. Erstmals und auf höchst zielstrebige Weise wurde dies in Zidane: A 21st Century Portrait realisiert, einem Film, den Gordon 2005/06 zusammen mit Philippe Parreno drehte. Für diesen neuartigen Porträttyp stellten Gordon und Parreno im Santiago-Bernabéu-Stadion von Real Madrid siebzehn miteinander synchronisierte Kameras auf. Während eines Spiels zwischen Real Madrid und Villarreal richteten sie alle Kameras auf Zinédine Zidane, den umjubelten früheren Kapitän der französischen Nationalmannschaft, der damals bei Real Madrid spielte. Sie filmten ihn während der gesamten Spieldauer, fingen jede einzelne seiner Bewegungen und Gesten, seinen Umgang mit dem Ball, seine Zusammenstöße mit anderen Spielern und seine intensive Konzentration und Aufmerksamkeit ein. Wie bei Feature Film vermieden die Kameras Aufnahmen, die versuchten, ihn im Kontext seiner Umgebung zu lokalisieren. Man erfährt nichts über den Verlauf des Spiels oder darüber, wer gewinnt oder verliert. Unser Blick ist einzig und allein auf Zidane gerichtet. Bei traditionellen Filmen, vor allem solchen mit Stars, berühmten Schauspielern und Schauspielerinnen, sind Nahaufnahmen ein wichtiger Teil des Ganzen. Zur Anziehungskraft von Filmen gehört auch, einen Lieblingsstar aus nächster Nähe zu beobachten, eine Position, in die Fans nur selten oder nie kommen. Doch Filme müssen eine Geschichte erzählen, und dem Handlungsverlauf kann man nur folgen, wenn alle Figuren miteinander interagieren und man den Set sehen kann. Gordon und Parreno hingegen folgten der Logik von Andy Warhols Besessenheit von Prominenten, seiner Verwendung von Close-up-Werbeaufnahmen für seine Gemälde und Druckgrafiken und vor allem seinen Probeaufnahmen – Filmen, die er von seinen Factory-Superstars und -Freunden machte. Einerseits ist die Produktion eines solchen konzentrierten Filmporträts eines einzelnen Menschen ein zutiefst humanistisches Unterfangen. Doch andererseits kann man das auch genau umgekehrt sehen, nämlich als die Reduktion eines Individuums auf eine Abstraktion, auf ein durchs Mikroskop betrachtetes Musterexemplar. Eine der Stärken des Films ist es, dass er ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden miteinander konkurrierenden Ansprüchen wahrt.

Eine von Gordons jüngsten Film-Arbeiten, k.364, 2011, gab der Idee des Porträts eine überraschende Wendung. Wie bei Feature Film und Zidane hat Gordon handelnde Menschen aus der Nähe gefilmt und sich dabei auf ihre Bewegungen und Mimik konzentriert. Doch in diesem Fall sind es zwei Menschen, zwei Solisten: Der eine spielt eine Viola, der andere eine Violine. Obwohl sie auf vielen der Aufnahmen einzeln zu sehen sind, häufig auf verschiedene Leinwände projiziert, zeigen wohl die meisten Einstellungen sie beim Zusammenspiel, wenn sie aufeinander hören und harmonisch aufeinander reagieren. Auch die Dirigentin des Orchesters ist zu sehen, gelegentlich milde lächelnd und nicht als vorsitzende Schiedsrichterin, sondern als jemand, der einfühlsam für allgemeine Harmonie sorgt. Sie wirkt fast so, als befürchte sie, das intensive künstlerische und emotionale Band zwischen den beiden Streichern zu verletzen, das in seiner Intensität an einen platonischen Liebesakt erinnert.

Der Anlass für dieses musikalische Duett war ein Konzert des Amadeus Kammerorchesters des Polnischen Rundfunks in Warschau, dirigiert von Agnieszka Duczmal mit zwei israelischen Solisten, Avri Levitan und Roi Shiloah, die gemeinsam Mozarts Sinfonia concertante in Es-Dur, KV 3647, spielten. Diese Aufführung, der eine Probe vorausging, ist der Höhepunkt von Gordons Film k.364. Davor filmte Gordon die beiden miteinander befreundeten Musiker auf ihrer Zugfahrt von Berlin in die polnische Hauptstadt. Im Gegensatz zu Feature Film und Zidane gibt es eine lange, den Kontext vermittelnde Einleitung. Die Kamera zeigt die vom Zugende aus gesehenen Schienen, die sich in der Ferne verlieren, man hört das Geräusch der Räder auf den Schienen und sieht Aufnahmen der Wälder rechts und links der Strecke. Die beiden israelischen Musiker verstummen. Es ist unmöglich, mit dem Zug aus Deutschland kommend, durch Polen zu reisen, ohne sich der erdrückenden Last der Geschichte, des Holocausts bewusst zu werden, vor allem wenn die eigenen Eltern aus Polen stammen. Die Musiker sprechen mit Gordon darüber ebenso wie über das Musizieren. In Poznań wird die Reise unterbrochen. Gordon besucht ein örtliches Schwimmbad und stellt dabei fest, dass es eine Synagoge gewesen war, bevor man es 1939 in ein städtisches Schwimmbad umfunktionierte. Er filmt dort ein Team von Synchronschwimmerinnen im Wasser. Man sieht die Finger ihres Trainers den Takt zu ihren Übungen schlagen. Es entstehen Parallelen zwischen dem Synchronschwimmen und der Musik. Wir sehen die Arme, Beine und Körper der Schwimmerinnen im Wasser, nicht aber ihre Köpfe. Hier gibt es – anders als bei den Musikern – keinerlei Mimik zu beobachten.

Gordon hat in k.364 ein erhebliches Maß an allgemeiner wie persönlicher Geschichte einfließen lassen: die Tragödie des jüdischen Volkes, vor allem in Polen, wo sich während des Krieges die meisten Vernichtungslager befanden, und die Familienerinnerungen der beiden jüdischen Musiker, die in Israel aufwuchsen, deren Eltern aber aus Polen stammten. Doch die Macht von Mozarts erhabener Musik, die am Ende des Films mit Intensität und in vollendeter Harmonie erklingt, ist so groß, dass die schreckliche Kontingenz der Geschichte, ohne ausgesprochen zu werden, auf einer höheren Ebene aufgelöst wird.

k.364 zeigt deutlich den langen Weg, den Gordon seit 24 Hour Psycho zurückgelegt hat. Nicht nur besteht der Film ausschließlich aus selbstgefilmtem Material, sondern auch das Storyboard stammt von ihm. Die Parameter werden nicht von einem bereits existierenden Film vorgegeben wie bei Feature Film oder von einem Fußballspiel wie bei Zidane, auch wenn Mozarts Sinfonia concertante das Format für den Höhepunkt des Films bestimmt. k.364 hat ein klares Narrativ und ist in einen ganz spezifischen historischen Kontext eingebettet. Insofern hat Douglas Gordon sich auf das Gebiet der traditionellen Filmproduktion begeben. Doch die zugrundeliegenden Themen bleiben dabei erhalten, insbesondere die Koexistenz von Gut und Böse, Hass und Liebe, Hässlichkeit und Schönheit.

Anmerkungen
(1) Douglas Gordon, Interview mit Simon Sheikh, 1997. In: Øjeblikket. Nr. 31, Kopenhagen, Frühjahr 1997

(2) Douglas Gordon, Interview mit Ruth Rosengarten, 1999. In: City. Lissabon 1999

(3) Douglas Gordon, Interview mit Stéphanie Moisdon-Trembley, 1996. In: Blocnotes. Nr. II, Paris, Januar/Februar 1996

(4) Douglas Gordon, Interview mit Marie de Brugerolle, 1995. In: Documents sur l'art. Nr. 8, Dijon, Frühjahr 1995

(5) Besonders einschlägig ist hier Dan Grahams Verwendung von Video (Glas und Spiegel), um Themen wie Wahrnehmung und Selbstbewusstsein hervorzuheben.

(6) Die Tatsache, dass Gordon seine Arbeit Feature Film, nennt, ist bedeutsam. Das Wort feature ist doppeldeutig: Es kann sich auf die Gesichtzüge der Hauptfigur des Films beziehen, doch ebenso gut kann es den in voller Länge gezeigten Hauptfilm einer Präsentation in einem Kino meinen. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Sinn verweist es auf Gordons zukünftige Entwicklung.

(7) Im Englischen abgekürzt K. 364

Eindrücke von der Preisverleihung

Käthe-Kollwitz-Preis 2012 an Douglas Gordon: Blick ins Publikum

Käthe-Kollwitz-Preis 2012 an Douglas Gordon: Preisträger Douglas Gordon und Laudator Mirosław Bałka

Käthe-Kollwitz-Preis 2012 an Douglas Gordon: Akademie-Präsident Klaus Staeck übergibt die Urkunde an Douglas Gordon

Käthe-Kollwitz-Preis 2012 an Douglas Gordon: Preisträger Douglas Gordon während seiner Danksagung

Käthe-Kollwitz-Preis 2012 an Douglas Gordon: Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung

Tonmitschnitte der Preisverleihung

Laudatio (Mirosław Bałka, in englischer Sprache)