2009

Ulrike Grossarth

Ulrike Grossarth, Foto: Inge Zimmermann

Seit dem Tanzstudium in Essen, Dresden und Köln setzt sich Ulrike Grossarth mit künstlerischen Themen auseinander, die auf ihrem Interesse an unterschiedlichen Kulturtechniken basieren. Als Professorin für Übergreifendes künstlerisches Arbeiten und Mixed Media an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden entwickelt sie eine Methode, in der „die Frage der Bewegung als Prinzip der sich ständig wandelnden Form“ im Zentrum steht. Grossarth bringt das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte, von materiellem Umfeld und handelndem Menschen in ihren Performances, Installationen, Zeichnungen, Grafiken und Videofilmen in eine künstlerische Form.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„[A]ls habe Ulrike Grossarth die Dinge mit ihrem Aufscheinen in eine Unentschiedenheit geführt und mit der Frage versehen, welcher Zeit, welchem Raum sie eigentlich angehören diese geschichteten Nachbilder?“ (Auszug Laudatio)

Ulrike Grossarth oder von der Entfernung der Dinge

Ulrike Grossarth erhält den Käthe-Kollwitz-Preis 2009. Ihre Kunst kommt aus der Bewegung, aus Nähe und Ferne der Dinge, und sie setzt die Räume und Zwischenräume, in denen wir die unterschiedlichen Gewichtungen von Entfernungen gewahren. Sie hat ihre eigene Bewegung als Tänzerin auf die Objekte übertragen, schafft und setzt sie zu Choreografien im Raum und verleiht den Gegenständen und Projektionen eine je eigene, im Aufscheinen der unterschiedlichen Konstellationen im Raum verwandelte Zeitlichkeit. Ulrike Grossarth gehört nur ihrer eigenen Bewegung an, konsequent hat sie in den letzten dreißig Jahren einen Parcours entwickelt, der uns ungesehene Zugänge zu Dauer, Geschichtlichkeit und Vermächtnis der Dinge öffnet. Von der Arbeit mit dem Großbelastungskörper, einem für das Germania entworfenen Berliner Relikt der Nationalsozialisten, über ihre große Installation Bau 1 für die documenta X, den Kasseler Raum und die Begegnung mit der Leibniz'schen Monadologie bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat Ulrike Grossarth durchgängig, und immer wieder verzogen zu anderem, das Verhältnis von Körper und Alterität bedacht. Manchmal erscheinen die Dinge in unerreichbarer Ferne, ein anderes Mal, um mit Cesare Pavese zu sprechen, „ist der Horizont wie ein Pfad“.

Mit Ulrike Grossarth wird eine Künstlerin und Pädagogin gewürdigt, deren Werk die elementaren Bezüge von Subjekt und Objekt in die zeitliche Dehnung des Verlaufs, des gespannten Zwischenraums, stellt. Ihre Arbeiten führen uns Schritt für Schritt die gesellschaftspolitischen Bedingungen der verpassten, aber nicht verlorenen Verständigung mit den Dingen als dem Grund unserer Anschauung und des Entwurfs einer Zukunft vor Augen.

Hubertus von Amelunxen

Der Jury gehörten an: Hubertus von Amelunxen, Thomas Florschuetz und Hanns Schimansky

Laudatio, vorgetragen von Hubertus von Amelunxen anlässlich der Preisverlehung am 6. September 2009:

Zeit einräumen – Ulrike Grossarth

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Nele Hertling, liebe Ulrike Grossarth,
 
eine Wand teilt den Raum und der Raum teilt die Wand. Derart handelt unsere Sprache mit und von Raum und Zeit, dass beiden stets ein Anderes hinzugefügt wird. Raum und Wand sind geteilt, und sie teilen die Gemeinsamkeit in der Trennung. Räume handeln passiv, sie statuieren die Möglichkeit zur Handlung, heben, drängen oder drücken uns in der Bewegung, bedingen Ruhe, Auslassung, Geständnis und Entsetzen – Ulrike Grossarth teilt einen Raum mit einer Wand und projiziert Bilder auf Bilder, Bilder, die einander ablösen, überdecken, Zeichnungen, Collagen, Gegenstände, die kurzweilig sich gegen uns stellen und mit jeder Ablösung wieder fortgehen, aber anders, als sie gekommen sind, ganz als habe Ulrike Grossarth die Dinge mit ihrem Aufscheinen in eine Unentschiedenheit geführt und mit der Frage versehen, welcher Zeit, welchem Raum sie eigentlich angehören diese geschichteten Nachbilder? Die Beine eines Menschen, die geteilte Allegorie der Erkenntnis, der Iconologia des Cesare Ripa entnommen, Ende des 16. Jahrhunderts, gehen fort, an der Wand ist der Körper in ein menschenloses Mantelwerk gehüllt, aus der Encyclopédie von Diderot und D'Alembert von 1751 geschnitten.

Nicht erst in dieser Ausstellung „Szeroka 28 – Ein europäischer Erinnerungsraum“ –, aber hier ganz dicht und in für mich geradezu magischer Art und Weise, vermag es Ulrike Grossarth, Zeit einzuräumen. Sie werden sagen, was heißt das, Zeit einzuräumen? Vor welcher in der uns gegebenen Zeit nicht zu bewältigenden Entscheidung stehen wir denn, dass uns Zeit eingeräumt werden muss? So wie in der Puppenstube spielerisch mit jedem Möbelstück und Accessoire Leben eingestellt wird, so wollte Ulrike Grossarth die Jeschiwa, die Talmud-Schule des Sehers von Lublin nachbauen, die sich einst in Lublin, in der Szeroka 28 befand, 1938 von dem polnischen Fotografen Stefan Kiełsznia fotografiert, 1942 von der SS zerstört, ortlos, aber nicht verschwunden ist und hier nach einer anderen Schule zueinander gefügt, geteilt, gestückelt, gesetzt wurde. Ulrike Grossarth ist auf der Recherche du temps perdu und deshalb räumt sie den Dingen Zeit ein wie andere eine Handlung, eine Tat einräumen.

Zeit einräumen bedeutet gewissermaßen auch, eine Suspension von Zeit, ein Moratorium, so wie in den drei Fotografien von Stefan Kiełsznia allem Werden ein Ende gesetzt wurde, dieses Ende zugleich aber im Werden verbleibt. Jede dieser Fotografien 1938 in den Straßen von Lublin, im Auftrag der Stadt Lublin zu konservatorischen Zwecken gemacht, mit den Menschen, den Läden und den Insignien der Werbung für Tuch und anderes, jede bleibt bis heute im werdenden Ende begriffen.

In der Ausstellung kommt zu beiden Seiten der Wand Geschichte zueinander, über Ausschnitte aus dem umfangreichen Tafelwerk der Encyclopédie über die der Iconologia von Cesare Ripa entnommene Allegorie der Erkenntnis, zu drei Fotografien von Stefan Kiełsznia, und den ganz und gar verstörenden, in den 1960er Jahren aus der bezeugenden Erinnerung von einem Eisenbahnarbeiter gemalten, nicht naiv zu nennenden Bildern vom Vernichtungslager Bełżec – und den allegorischen Einschüben, Ballungen, Häufungen, Zuführungen und Abweichungen von Ulrike Grossarth. Ich möchte Ihnen nicht im Einzelnen die Bilder vorstellen, das soll Ihnen selbst überantwortet sein und Sie können sich in den sehr guten Katalogbeiträgen von Dorothée Bauerle-Willert und Holger Birkholz weiter dokumentieren. Ich will aber kurz über das Vorgehen, die Bewegung von Ulrike Grossarth sprechen, ohne nun unbedingt zu wiederholen, was spätestens seit ihrer Ausstellung im Frankfurter Portikus 1996 und dann der documenta 1997, seit ihren Bauten, dann dem Kasseler Raum 1998 und der großen Ausstellung 2005 hier im Hamburger Bahnhof bereits geschrieben wurde.

Zeit einzuräumen heißt, den Raum für seine Überlieferung auszustatten, wissend, dass jedes Ding, dem wir meist unachtsam gegenüberstehen, einem Faden, Garn, einem Mantel oder einer Farbe, einem Zug, einer Geste sich anders überliefert, uns in der Zeit anders gegenübertritt, damit wir für einen Augenblick eine innige, freudige oder schmerzhafte Verwandtschaft mit ihnen eingingen. Deshalb führt Ulrike Grossarth behutsam eine Bewegung, die vielleicht eine ethische Grundhaltung ist, um Vorsorge für das Geschick der Dinge zu treffen, – dass ihnen ein Vermächtnis zuerkannt werden möge.

In der Encyclopédie wird der Mensch wesenhaft auf eines reduziert: auf seine Hände, seinen Zugriff auf die Welt. Die Zivilisation der Aufklärung bedeutet, die Welt handhabbar zu machen, sie zu handhaben, und – selbst schon gefingert allegorisch geworden – finden wir bei Ulrike Grossarth vielerorts die entleibten Hände, gezeichnet oder wie im rationalen Gewand Versuche anordnend, auf Abläufe verweisend, Zustände indizierend. Die enzyklopädische Bemächtigung und Bebilderung der Welt ist auch ihre Fragmentierung, die Enzyklopädisten teilten die Welt in finite Einheiten, die, frei vom historischen, also zeitlichen Eindruck, in jeder Einzelheit zu benennen wäre. Nun wissen wir, dass nicht einmal die Mathematik diese Eindeutigkeit, die in einer geschichtslosen Benennung läge, kennt, keine Trennung, keine Silbe, keine Aussparung, keine Wand gibt es, die nicht selbst auch Teil und Hinreichung der Bedeutung wäre – die Denotation, wie Roland Barthes sagen würde, ist nur die letzte der Konnotationen. Eben das ist die Kunst von Ulrike Grossarth, ihre Auslassungen, die Heraushebungen, Durchsetzungen, Löcherungen und Stanzen verbinden leibliche und sprachliche, grammatologische Bewegungen, die mit jedem Schritt, jeder Geste die Bedeutungen der Dinge im Raum versetzen, ganz als könnten sie, einmal von ihrer Darstellung und Schwere entbunden, von uns geatmet werden.

In Warschau hat Ulrike Grossarth Abgüsse eines Zwergs gemacht, der seinerzeit die Straßen zu beiden Seiten für die Einfahrt der Kutschen begrenzte, die Geschichte sozusagen ewig still mit dem Räderwerk im Blick duldete. Sie stehen oder sitzen nun hier als stumme Zeugen, als Allegoriker, um mit Walter Benjamin zu sprechen, die, ebenso wie die Fotografien, das Leben vom Tode her abgerollt sahen. Auch dies ist eine Form, Zeit einzuräumen.

Und dann gibt es das Bild mit den von Ulrike Grossarth so benannten friendly thinking babes. Es nimmt den Totentanz auf, der für mich die Bilder sind, mit Mustern, die den Fotografien an den Häuserwänden in Lublin entnommen wurden, unterbrochen von den auf farbige Gewänder gesetzten, strahlenlosen und zur ewigen Freude und Hoffnung grimassierten Sonnengesichtern. Das Bild aber mit den vier unterschiedlich ausgerichteten friendly thinking babes ist auf dem Hintergrund von Stoffmuster gemalt und zu den Füssen der babes liegen Reste, und die Reste sind wiederum der Encyclopédie entnommene Zitate, Dinge, die als auf dem Boden liegengeblieben gezeichnet sind, Reste der Fragmente also, abgeräumt, ausgeräumt, die auf ihre Zeit warten.

Und zum Abschluss möchte ich ihnen sagen, dass ich keine Kunst kenne, die seit Jahrzehnten so behutsam, so besorgt und so konsequent, in der Furcht und in dem Begehren, und immer auf dem Weg, nach einer Begründung unerlöster Geschichte in den Dingen suchte, wie die Zeiteinräumungen von Ulrike Grossarth. Und der Gedanke von Emmanuel Lévinas, mit dem ich verbunden zu einem großen Dank an Ulrike Grossarth schließe, bedenkt eben diese Einräumung der Zeit: „Die direkte Optik“, sagt Lévinas, „ohne Vermittlung irgendeiner Idee – kann sich nur als Ethik vollenden.“

Tonmitschnitte der Preisverleihung

Laudatio (Hubertus von Amelunxen)

Danksagung (Ulrike Grossarth)