2010

Mona Hatoum

Mona Hatoum ist mit palästinensischen Wurzeln und britischem Pass in Beirut aufgewachsen. Als 1975 der Libanesische Bürgerkrieg beginnt, kann die Künstlerin nicht in ihre Heimat zurückreisen und bleibt in London. Seitdem sind Hatoums Arbeiten von politischen Inhalten und persönlichen Erfahrungswerten geprägt. Sie formuliert in ihren frühen Performances eine bis in die Gegenwart konsequent verfolgte Formensprache, die sich aus Minimal Art und Konzeptkunst entwickelt hat. Von Performances und Videoarbeiten ausgehend wendet sie sich seit den 1990er Jahren raumgreifenden Installationen und skulpturalen Arbeiten zu, die den Betrachter aktiv einbeziehen.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Seit drei Jahrzehnten arbeitet die Künstlerin an einer Bildsprache, die inmitten einer routiniert, selbstgefällig und sentimental gewordenen Zivilisation die ursprüngliche Erfahrung der Fremdheit des Menschen in der Welt erneuert.“ (Auszug Begründung)

Die Jury der Sektion Bildende Kunst hat den Käthe-Kollwitz-Preis 2010 Mona Hatoum für ein Werk von außergewöhnlicher Spannweite und innerer Kohärenz zuerkannt. Seit drei Jahrzehnten arbeitet die Künstlerin an einer Bildsprache, die inmitten einer routiniert, selbstgefällig und sentimental gewordenen Zivilisation die ursprüngliche Erfahrung der Fremdheit des Menschen in der Welt erneuert. Im Jahre 1975 durch den Ausbruch des Bürgerkrieges im Libanon an der Rückkehr in ihr Geburtsland gehindert, hat sie die Heimatlosigkeit angenommen und mit großer künstlerischer Kraft und Ingeniosität in den Ausdruck einer menschlichen Grundsituation zu verwandeln verstanden. Ob Performance, Video oder Installation, Mona Hatoum untergräbt mit den Mitteln der Materialverfremdung, der Orts- und Maßstabsveränderung unser Vertrauen in die Sicherheiten des Alltags. Dienliches wie Haushaltsgerät oder Einrichtungsgegenstände nimmt monströse Züge an, Licht wirkt bedrohlich, Landkarten denunzieren die von ihnen prätendierte Ortskundigkeit usf. Nicht die Entfremdung vom Eigentlichen, geschweige denn der Verlust von Heimat ist Mona Hatoums Thema, sondern die ebenso verstörende wie die Sinne schärfende Empfindung, dass hinter der Fassade der eingerichteten Welt nach wie vor – und vielleicht mehr denn je – die rohe Unwirtlichkeit lauert. Die körperliche Unmittelbarkeit, mit der sich diese Wahrnehmung dem Betrachter aufdrängt, gewinnt ihre Authentizität nicht zuletzt dadurch, dass sie, wie das Fremdsein selbst, das komische Element keineswegs ausschließt.

Der Jury gehörten an: Lothar Böhme, Dieter Goltzsche und Robert Kudielka

Laudatio, vorgetragen von Friedrich Meschede anlässlich der Preisverleihung:

Herr Präsident,
dear Mona Hatoum, dear Gerry Collins,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Gäste,

als ich von Mona Hatoum erfuhr, dass ihr in diesem Jahr der Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste zuerkannt werde, war meine spontane Reaktion: Genau, diese Entscheidung hat eine innere Logik.

Ganz unmittelbar, so erinnere ich, kam mir der Begriff Verlust in den Sinn als ein Moment dessen, was die Namenspatronin des Preises mit der heute Ausgezeichneten verbindet. Der Verlust des Sohnes Peter bei Käthe Kollwitz, der 1914 in Flandern gefallen war einerseits, der Verlust der Heimat Libanon, den Mona Hatoum 1975 zu verlassen hatte und, bedingt durch den Ausbruch des Bürgerkrieges dort, lange Jahre nicht wieder besuchen konnte, andererseits.

Mona Hatoum lebt bekanntlich heute in London – und seit 2003 auch hier in Berlin, seitdem sie das weltweit einmalige Berliner Künstlerprogramm des DAAD hierher verpflanzt hat. Mona Hatoum hat in Berlin Wurzeln geschlagen und im Verbund mit vielen anderen Künstlern hier eine Art von Heimat in der internationalen artist community dieser Stadt für sich gefunden. Liest man jedoch einige Titel ihrer wichtigsten Ausstellungen, dann klingt Verlust immer wieder an: „The entire World as a Foreign Land“, Tate Gallery London 2000, oder „Domestic Disturbance“, Mass MoCA 2001, „Unhomely“, Galerie Max Hetzler in Berlin 2008.

Dem Motiv der Trauer stellte sich mir dann aber auch ein Bild des Aufstandes gegen sie entgegen, ein Impuls, der Käthe Kollwitz mit Mona Hatoum ebenso verbindet. Um 1988, zu einem Höhepunkt der internationalen Friedensbewegung, waren viele Aktivisten auf das Thema der atomaren Bedrohung konzentriert. Herkömmliche und existierende Kriegsschauplätze standen nicht so sehr im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit, obwohl sich gerade ein beispielloses Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila im Nahen Osten ereignet hatte. Auf diesen Widerspruch wollte Mona Hatoum reagieren mit einem Plakat, dass sie für eine Aktion im öffentlichen Raum in und um Newcastle, im Norden Englands, entworfen hat. Es zeigt das Schwarz–Weiß-Porträt der Künstlerin im Profil. Auf ihrer Nasenspitze tanzt ihr eine Soldatenspielzeugfigur herum. Im linken Teil der Bildfläche steht plakativ der Satz „Over my dead body“, was übersetzt so viel heißt wie die deutsche Redensweise „Nur über meine Leiche“. Mona Hatoum wollte sich nicht vereinnahmen lassen von den großen hehren Zielen, ohne die ihr nahen Gräueltaten zu vergessen.

Spielzeugfiguren von Soldaten tauchen später wieder in Arbeiten von Mona Hatoum auf wie bei Infinity (1991–2001) oder Horizon aus dem Jahre 1998. Die Proportionsverschiebung zwischen der kleinen männlichen Ganzfigur als Spielzeug auf die Nase des monumental erscheinenden Porträts der Künstlerin gestellt, spricht für sich. Energisch schauen sich Künstlerin und Soldat gegenseitig in die Augen. Der Soldat steht heldenhaft wie eine Sockelfigur auf dem Gesicht, dennoch zeigt die Entschlossenheit des weiblichen Blicks den Aufstand gegen das kriegerische Spiel der Mächtigen.

Ich zitiere dieses Plakat, weil ich es in diesem Kontext heute ganz unmittelbar neben dem berühmten Plakat von Käthe Kollwitz mit dem Schriftzug „Nie wieder Krieg“ sehe. Die „Nie wieder Krieg“- Kampagne war 1919 u.a. von Bertha von Suttner und der Deutschen Friedensgesellschaft initiiert worden, am 1. August 1920 fand deren erste Kundgebung im Lustgarten in Berlin statt in Erinnerung an den Tag des Ausbruchs des 1. Weltkriegs. Im Jahr 1924 entwirft Kollwitz das Plakat, das wir heute alle kennen, für die Kundgebung des Weltfriedenstags in Leipzig.

„Over my dead body“ kündet von derselben Botschaft. Beide Plakate gehen auf politische Friedensbewegungen zurück. Deshalb ist Mona Hatoum in diesem Jahr eine so ideale Künstlerin dieses Käthe-Kollwitz-Preises der Akademie der Künste.

Mona Hatoum ist in den vergangenen Jahren mit großformatigen Skulpturen bekannt geworden, mit Rauminszenierungen, in denen Küchenobjekte zu Möbeln mutieren. Ihren Skulpturen liegen oftmals unmittelbar wiedererkennbare Gegenstände des häuslichen Alltags zugrunde. Am bekanntesten sind die monumentalen, aus Stahl gefertigten Küchenreiben, die zu einem Paravent aufgestellt sind oder wie eine Couch lagern, auf der man aber kaum liegen möchte. Sie, verehrtes Publikum, werden dies gleich in der Ausstellung hier im Hause sehen können. Nackte Bettgestellformen und vor allem Käfige prägen zudem den Motivkanon der Werke Hatoums, die immer wie Vergrößerungen dieser sehr privaten Welt erscheinen, so als könne sie durch das Vergrößern der kleinen Welten, wie z. B. das eines Hausvogelkäfigs, die Vorstellung bändigen, dem eigenen, imaginären Käfig der Angst zu entkommen.

Die Räume, die Mona Hatoum schafft, sind Gefahrenzonen. Als sie auf Einladung von Okwui Enwezor im Fridericianum in Kassel 2002 für die documenta 11 einen großen Raum zugesprochen bekam, griff sie auf eine Arbeit zurück, die sie 2000 erstmals geschaffen hatte und die den Titel Homebound trägt. Alles mutet wie ein harmloses häusliches Interieur an, alltägliche Einrichtungsgegenstände mit Tisch, Stühlen, Tüchern und anderen Haushaltsgegenständen sind stilllebenartig arrangiert. Nur das dieses vertraute Ambiente von Kupferdrähten umgeben ist, die unter Strom gesetzt waren. Das Heimelige war quasi in einem Todesstreifen aufgebaut und wurde plötzlich zum Gegenteil dessen, was Heim bedeutet: es mutierte zum Ausdruck von Heimatlosigkeit. Und hier bekommt der Titel Homebound im englischen eine zweifache Bedeutungsebene: als Substantiv gedeutet, meint Homebound so viel wie Betreten der Wohnung verboten, was die Absperrung uns visuell suggeriert und bestätigt. Adjektivisch verstanden meint bound so viel wie unterwegs sein, also die Mobilität des Hab & Guts. Auch in dieser Ausstellung gibt es eine Hausratsecke, die unter Strom steht und wie eine Erinnerung an diese große Installation von damals ist.

Mona Hatoum, die (1952) in Beirut geboren wurde, wuchs dort als Tochter in einer palästinensischen Familie auf, mit dem Privileg eines britischen Passes, den alle Familienmitglieder besaßen. Das ist wichtig für das Verständnis, warum es 1975 so relativ einfach war, als während eines als Besuch geplanten Aufenthalts in London der libanesische Bürgerkrieg ausbrach und Mona Hatoum aufgrund dieser politischen Umstände in London bleiben konnte. Diese Einreiseerleichterung soll aber keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass ein unvorhergesehenes Bleiben in der Fremde den Verlust von Familie und dem Ort, an dem man aufgewachsen ist, ausgleicht. Im Gegenteil. Und 1975 leben wir noch nicht in einem Kommunikationszeitalter wie heute, um über jede Distanz hinweg unmittelbar wieder in einen Kontakt treten zu können. Mona Hatoum bleibt also in London und setzt ihr Studium bis 1979 an der Byam Shaw School of Art, dann von 1979 bis 1981 an der berühmten Slade School of Art fort.

Es herrscht damals die hohe Zeit der Konzept-Kunst vor, mit der sie in London konfrontiert wird. Performance und die Verwendung von Videokameras ist das Ausdrucksmittel der Künstler, wie Dan Graham und Vito Acconci es eingeführt haben. Aber auch die Künstlerin Lynda Benglis, die 1973 erstmals mit der Kamera ihr häusliches Ambiente dokumentierte und ihr Privates öffentlich macht, ist hier zu nennen wie auch Valie Export im deutschsprachigen Raum. Es ist die Epoche, als Feminismus und die Rolle weiblicher Künstlerinnen in der männlich dominierten Kunstwelt eine neue gesellschaftliche Diskussion über Kunst bestimmt. Video und Fotografie und Performance werden das Medium, um als ephemere Auftritte, die außerhalb der etablierten Institutionen stattfinden, ja direkt auf der Straße praktiziert werden, neue Ausdrucksformen zu etablieren. Einzelne Fotos dieser Jahre werden quasi zu Ikonen jener Epoche. Eine der frühen Arbeiten Mona Hatoums ist eine solche, nicht angekündigte Intervention in den Straßen von London. Mona Hatoum macht drei Street-Performances, eine davon trägt den Titel Roadworks und ist ebenfalls hier in der Ausstellung zu sehen. Am 21. Mai 1985 marschiert sie ca. eine Stunde barfüßig über den Gehsteig im Stadtteil Brixton und zieht ein Paar Doc-Martens-Stiefel hinter sich her, die mit deren Schnürsenkeln an ihre Knöchel gefesselt sind. Diese Schuhmarke gilt als das Kennzeichen der damaligen Punk-Bewegung Londons. Mona schleift die Stiefel als Hüllen über den Asphalt, aber Sie marschiert voran.

Von einer noch früheren Performance aus dem Jahre 1980 gibt es dank einer Künstler-Kollegin, die auch als Kritikerin tätig war und im Publikum saß, eine detaillierte Beschreibung. Ich möchte ein paar Sätze daraus in zusammenfassender Übertragung zitieren:
„Im Raum sind Stühle zu einem Halbrund angeordnet, so ausgerichtet, dass man einer Lichtquelle gegenübersitzt. Ein großer Monitor befindet sich hoch auf einem Sockel mit einer Kamera davor. Viele bekannte Gesichter befinden sich im Raum, in dem eine hohe Erwartungshaltung spürbar wird.
Mona erscheint gekleidet in eine Latzhose und mit Sandalen an den Füßen, eigentlich so, wie ich sie kenne, in ihrer Alltagskleidung. Sie geht in den Lichtkegel, nimmt die Kamera, die mit einer derartigen Linse ausgestattet ist, dass eine extreme Nahsicht erzeugt wird, so als wolle sie ihr Publikum überwachen. Langsam geht sie auf ihr erstes Motiv zu und tastet es mit der Kamera ab. Auf dem Monitor erscheint für alle sichtbar eine Hand, dann der Ärmel eines Hemdes, weiter geht es zum Rand eines Gesichtes, dann ein Auge, das sich im Monitor selbst erkennt. Weiter fährt die Kamera über die Augenbraunen, den Hals über zur nächsten Person. Monas Sonde enthüllt langsam jede Falte und jede Runzel, jedes fragmentierte Detail der physischen Anwesenheit ihres Publikums wird sichtbar. Wie alarmiert bemerke ich plötzlich, das ich mich ganz unmittelbar in der gefährdeten Linie befinde. Meine Gedanken kreisen um die tief verwurzelte, unterdrückte Angst, dass diese Situation mich bald fordern wird. Bald werde auch ich im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen und mich in der Situation befinden, von einem anderen Individuum kontrolliert zu werden. Es erfasst mich eine panische Angst, die ich kaum zu beschreiben vermag. Erinnerungen an Demütigungen in der Schule steigen mir in den Kopf, musternde Blicke der Eltern und die moralischen Beurteilungen und Anweisungen einer katholischen Erziehung verschmelzen sich mit der Vorstellung, so von einem männlichen Blick als weiblicher Körper abgetastet zu werden.
Kontrolliert zu werden, so aktiv gezeigt zu werden, dem Besucher vorgeführt zu werden, dass ich eigentlich fliehen möchte, alle diese Möglichkeiten zogen mich nieder. Ich fühlte mich gefangen.

Wenn ich jetzt aufstehe und gehe, mache ich noch mehr auf mich aufmerksam. Wenn ich bleibe wo ich bin, werde ich diesem elektronischen Voyeurismus ausgesetzt. Der Konflikt und diese Widersprüche, eine Frau zu sein und diesem öffentlichen Spektakel ausgesetzt zu werden, ließen mich meine Hand so vor das Gesicht halten, als ob ich hohe Konzentration mime. Monas elektronisches Auge begann die Frau neben mir zu überwachen. Sie scheint mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Ihr T-Shirt glitzert und springt auf dem Monitor, sie lacht, etwas Vertrautes findet statt. Die Kamera ist ein Werkzeug von Monas Wahrnehmung geworden, sie liebkost quasi ihr Gegenüber und erfreut sich an der Reaktion.
Nun kommt mein Ellbogen in den Blickwinkel. Ich fühle, wie ich rot werde und Hitze in mein Gesicht steigt. Gottlob die Übertragung ist noch nicht in Farbe, sage ich mir, obwohl diese Überlegung wenig dazu beiträgt und ich konzentriere mich, um mit aller telepathischen Macht Mona nicht mein Gesicht zeigen zu lassen. Diese Botschaft scheint angekommen zu sein, Mona zeigt nur kurz meinen Arm und geht zur nächsten Person über. Ich lehne mich zurück, genieße die Erleichterung und überlasse mich dem Rest dieser Performance.
Nachdem Mona so die erste Reihe der Besucher mit der Kamera abgetastet hat, legt sie sie nieder, begibt sich vor den Monitor und zieht mit Kreide einen Kreis um sich herum. So isoliert und in ihrem Bereich bestimmt, macht sie sich nun selbst zum Objekt der Kamera. Sie hält sie gegen ihren Kopf mit einer Geste des Selbstmords, die ich assoziiere.“

Hier möchte ich die intensive Beschreibung des Augenzeugenberichts von Catherine Elwes abbrechen. Diese Performance fand am 11. Juli 1980 statt, heute vor 30 Jahren, und sie enthält bereits Elemente, die bis in das heutige Werk von Mona Hatoum einwirken. Da ist einmal dieser Blick der Kamera, die sie später in den eigenen Körper führt, um uns mit endoskopischem Blick ihre Körperöffnungen zu zeigen, Deep Throat aus dem Jahre 1996, ein Video unter einer Tischplatte montiert, durch einen Teller zu betrachten, das den Körper vom Innersten zeigt, den Weg alles Essbaren vom Mund bis zum After nachzeichnet. Diese Arbeit ist auch hier in der Ausstellung zu sehen.

Der Bericht macht aber vor allem auch die Performance als eine Kunstform nachvollziehbar, deren beklemmende Momente heute bei jeder Dokumentation fehlen. So beschreibt Catherine Elwes eben auch die physischen wie psychischen Momente, die sowohl Performer als auch das Publikum damals motiviert und bestimmt haben, Performance erleiden und erleben mussten.

Am 13. Februar 1981 findet an der Reading University eine weitere signifikante Performance statt. Mona Hatoum hält sich in einem gänzlich schwarzen Raum auf. Sie wirft sich zu Boden und zeichnet mit Kreide die Konturen ihres Körpers nach, wie man das von Tatort-Sicherungen kennt. Sie tut dies während der ca. 45 Minuten so oft, das auf dem Boden ein dichtes Geflecht von Kreidezeichnungen ihrer Körperkontur entsteht. Zunächst hört man nur die Künstlerin im abgedunkelten Raum. Jedes Mal, wenn sie sich auf den Boden wirft, entzündet sie eine Kerze. Langsam wird so ein grafisches Geflecht geschaffen, mit Lichtern darin, ein Werk von damals, das seinen heutigen Ausdruck in der hier gezeigten monumentalen Bodenarbeit Undercurrent (Red) aus dem Jahre 2008 findet.

Ich hielt es für notwendig, einige lang zurückliegende Performances von Mona Hatoum in Erinnerung zu rufen, weil sie nach wie vor die Grundlage heutiger Skulpturen darstellen. Alles kommt aus dem Kreidekreis, den sie einst um sich herum gezogen hat, um einen, ihren ureigensten Ort für sich in der Fremde zu markieren.

1975 war Mona Hatoum plötzlich nach London verschlagen worden, gestrandet in dieser Metropole. Der Ausbruch des Bürgerkriegs in ihrer Heimat war auch Auslöser eines Werkes der Literatur, das ich hier anführen möchte, weil es Jahre später zu einer Verbindung zu Mona Hatoum kommt. Der 1935 geborene amerikanische Schriftsteller palästinensischer Herkunft Edward W. Said beginnt 1975 unter dem Eindruck des gleichen Libanon-Kriegs ein Buch zu schreiben, das 1978 unter dem Titel Orientalism veröffentlicht und berühmt wird.
Es erscheint 1981 auch auf Deutsch. Said beschreibt darin den westlichen Blick auf die Gebiete, die wir allgemein verklärt als Orient bezeichnen, er klagt an und kritisiert eine immer klischeehafte Wahrnehmung, die sich bis heute gehalten hat und Said bezeichnet diese Beurteilung von außen als eine „intellektuelle Kolonialisierung“.
Im Jahre 2000, drei Jahre vor seinem frühen Krebstod, schreibt Edward W. Said einen Text über die Arbeiten von Mona Hatoum unter dem Titel The Art of Displacement: Mona Hatoum's Logic of Irreconcilables, also die Kunst der Verschiebung und Mona Hatoums Vernunft des Unvereinbaren. Der Aufsatz erscheint zuerst für die Ausstellung „The Entire World as a Foreign Land“ in der Tate Gallery in London 2000, was ebenso, nun kann ich es hier sagen, ein Zitat von Said ist. Die Ausstellung brachte den internationalen Durchbruch für Mona Hatoum. Der Text ist wiederabgedruckt im Katalog der Khalid Shoman Foundation in Amman in Jordanien 2008 als Edward Said bereits fünf Jahre verstorben war. Schon der Katalog der Hamburger Kunsthalle und des Kunstmuseum Bonn im Jahre 2004, ihrer ersten großen Einzelausstellung in Deutschland, war dem Andenken Edward W. Saids gewidmet.

Hier berühren sich zwei andere Lebenswege und es deuten sich aufgrund dieser gemeinsamen Erfahrungen Wechselbeziehungen an, die für das Verständnis des einen biografischen Moments wichtig sind, nämlich der Prägung durch das Erlebnis des Verlustes von Heimat und Kultur und ständiger Missverständnisse über die Empfindung dessen.
Neben den Körperbildern nehmen Themen der arabischen Welt und ihrer Gewaltmotive früh einen Platz im Werk Hatoums ein.

In der Video-Arbeit Measure of Distance aus dem Jahre 1988 – man bedenke erneut diesen Titel – lässt Mona Hatoum arabische Schriftzeichen wie einen Vorhang über die Mattscheibe laufen, hinter dem sie uns das Bild der sich duschenden Mutter zeigt. Die Kalligrafie wirkt wie ein zweiter Vorhang, um die Nacktheit des Körpers zu schützen, zugleich verstärkt dieser Durchblick den Voyeurismus.
20 Jahre später entwirft Mona Hatoum einen überlebensgroßen Kubus, der aus Stacheldrahtbändern konstruiert wurde und der hier in der Ausstellung zu sehen ist. Aus der Ferne betrachtet erscheint die Anordnung der Stachel rein ornamental wie eine Form der Kalligrafie. Erst aus der Nähe erkennt man, was Said als die „Kunst der Verschiebung“ bezeichnete, die nun als Skulptur Verlust und Distanz zum Ausdruck bringt.
Der Kubus nimmt einen Ort ein, er besetzt ein Stelle, versperrt uns den Weg, lässt aber dennoch eine Offenheit zu, hindurchzuschauen, aber immer mit den Koordinaten aus Stacheldraht im Blick, der zum unausweichlichen Topos von Trennung wird. Für den Ausstellungskatalog Interior Landscape der Stiftung Querini Stampalia in Venedig 2009 bestimmte Mona Hatoum eben diesen Blick durch die Stacheldrahtkonstruktion als Motiv für den Umschlag.

Diese Skulptur hier, an diesem Ort, mit der Assoziation von Stacheldraht, ruft in Berlin auch immer wieder Erinnerungen an den heute überwundenen Verlust hervor.

Es ist heute in diesem Kontext und aus diesem Anlass schließlich dieser Aufruf der beiden Künstlerinnen Käthe Kollwitz und Mona Hatoum, der sie verbindet und uns einbindet: „Over my dead body“, „Nie wieder Krieg“.
Ich danke der Jury für diese Entscheidung und ich gratuliere Mona Hatoum zu diesem Preis, ich hoffe, ich spreche im Namen aller Anwesenden und ich wünsche mir, Mona, das Berlin für Dich ein Stück neu gewonnene Heimat bleiben mag.

Dear Mona,
now to summarize this speech – for you – in the shortest way possible – a precise translation will follow later – : After so many years of being „Unhomely“ – the title of your show at Galerie Max Hetzler in 2008 – I hope you will stay in Berlin with all your friends for a long time, home-like.