2023

Sandra Vásquez de la Horra

Sandra Vásquez de la Horra steht auf einer Dachterasse. Sie lehnt mit verschränkten Armen an der Wand und lacht in die Kamera. Im Hintergrund erstreckt sich die Stadt.

Die seit 1995 in Deutschland lebende chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra wird mit dem Käthe-Kollwitz-Preis 2023 ausgezeichnet. Die Jury, bestehend aus den Akademie-Mitgliedern Ulrike Grossarth, Raimund Kummer und Ulrike Rosenbach, ehrt mit Sandra Vásquez de la Horra eine Künstlerin, die mit ihrer Bildsprache Konflikte thematisiert, mit denen sich die gegenwärtige Gesellschaft weltweit auseinandersetzen muss. Ihre Werke vereinen Archetypen unseres kollektiven Bewusstseins, Geschlechterfragen und Sexualität, interkulturelle Reflexionen sowie Fragen der spirituellen Praxis.

Die heute in Berlin lebende Künstlerin wächst in einer Zeit auf, die – nach dem Putsch der Militärjunta 1973 und der Machtübernahme durch Augusto Pinochet – über 17 Jahre lang von Folter, Verschleppungen (Desaparecidos) und zahlreichen Menschenrechtsverletzungen beherrscht war. Erst mit der Rückkehr zur Demokratie 1990 konnte die Bevölkerung sich mit der Geschichte des Landes neu auseinandersetzen. Die Geschichte Chiles hat Sandra Vásquez de la Horras künstlerische Arbeit genauso geprägt wie die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte, mit der Geschichte und den Mythologien der indigenen Bevölkerung sowie der brutalen Kolonialherrschaft der Europäer*innen in Mittel- und Südamerika.

Im Zentrum von Vásquez de la Horras Zeichnungen, Skulpturen und Installationen steht der Mensch in seinem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld. Ihre groß- und kleinformatigen Zeichnungen auf Papier und Karton leben von Genauigkeit, Verdichtung und Farbigkeit. Einen Teil ihrer Zeichnungen taucht sie in ein Wachsbad. Diese Behandlung des Materials führt zu mehr Tiefe und steigert die Stabilität des Papiers, so dass Leporellofaltungen und damit Raumobjekte entstehen.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Die Jury ehrt mit Sandra Vásquez de la Horra eine Künstlerin, die von den politischen Erfahrungen und mythologischen Traditionen ihrer lateinamerikanischen Herkunft geprägt ist. [...] Die Intensität ihrer Arbeiten scheint der Dringlichkeit eines evolutionären Bewusstseins entsprungen, das sich selbst die Bilder und Zeichen schafft, um Prozesse einer Erweiterung dieses Bewusstseins anzuregen.“ (Auszug Begründung)

Die Jury ehrt mit Sandra Vásquez de la Horra eine Künstlerin, die von den politischen Erfahrungen und mythologischen Traditionen ihrer lateinamerikanischen Herkunft geprägt ist. In ihren Zeichnungen, Skulpturen und Environments bringt sie notwendige individuelle Transformationsprozesse im momentan krisenhaften Stadium der Menschheitsgeschichte zur Erscheinung. Sie zeigt, dass aus dem Nichtbeachten kollektiver, kosmologischer Ordnungsprinzipien und Imaginationen Gewalt entsteht. Ihre Werke vereinen Archetypen unseres kollektiven Bewusstseins, Geschlechterfragen und Sexualität, interkulturelle Reflexionen sowie Fragen der spirituellen Praxis.

Nach Fertigstellung ihrer Zeichnungen erfahren ihre Papierarbeiten eine Aufbereitung durch das Eintauchen in flüssiges Wachs. Dadurch wird eine transparente Tiefe erreicht, welche die Farben zum Leuchten, ja fast zum Glühen bringt. Gleichzeitig wird der Bildträger stabilisiert, kann sich räumlich ausdehnen und, als Leporello gefaltet, „selbstständig“ sein oder zu Gehäusen werden.

Die Intensität ihrer Arbeiten scheint der Dringlichkeit eines evolutionären Bewusstseins entsprungen, das sich selbst die Bilder und Zeichen schafft, um Prozesse einer Erweiterung dieses Bewusstseins anzuregen. Insofern sind diese Arbeiten lebendige Botschaften für Menschen. Sie werden zu Handlungsanweisungen, der Misere der todbringenden Strukturen unserer Gesellschaften zu begegnen und es zu ermöglichen, sich selbst in Transformationsprozesse zu begeben. Es geht darum, individuelle Veränderung zuzulassen und in Stadien der vorübergehenden Auflösung von „subjektiven“ Gewissheiten einzuwilligen, um das Animalische, Wässerige oder Pilzhafte zu kultivieren.

Es sind vor allem die Frauen in ihren Zeichnungen, die mit Sinnlichkeit und Hingabe, Verletzlichkeit und Intuition das tiefgründige Begreifen der beunruhigenden Aspekte der uns noch unbekannten existierenden Welten verkörpern. Bei aller Dramatik gibt es immer auch humorvolle Andeutungen sanfter „Göttinnen“, die auf die gelingende Transformation verweisen.

„Wann kommt endlich die Zeit, wo man den Menschen nicht einfach in barbarischer Weise voraussetzt, sondern allen Ernstes nach Mitteln und Wegen sucht, ihn zu exorzisieren, seiner Besessenheit und Unbewußtheit zu entreißen, und dies zur wichtigsten Kulturaufgabe macht?“1

Ulrike Grossarth

 

Der Jury gehörten an: Ulrike Grossarth, Raimund Kummer, Ulrike Rosenbach

 

1 Carl Gustav Jung, Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen, in: Gesammelte Werke. Die Archetypen und das kollektive Unbewußte, Bd. 9/1, Zürich / Düsseldorf 1996–2001, S. 269.

Laudatio anlässlich der Ausstellungseröffnung am 18. Juni 2024
gehalten von Dr. Jenny Graser

 

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Sandra Vásquez de la Horra,

spätestens seit Deinem absolut fulminanten Auftritt auf der Biennale dʼArte di Venezia im Jahr 2022 hast Du Deinen adäquaten Platz, die angemessene Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit auf der Bühne der Kunst gefunden. Nach dem Besuch der Biennale konnte ich Deine Zeichnungen nicht vergessen – und ich habe heute Abend schon mehrere Besucher*innen gehört, denen es ähnlich ergeht. Wenn man einmal Deine Arbeiten gesehen hat, bleiben sie im Gedächtnis und sie lassen uns nicht mehr los. Ich verspürte also das immer drängendere Bedürfnis, Dich zu kontaktieren und so kam es dann auch. Wir trafen uns in Deinem Atelier in Berlin-Kreuzberg, wo ich Dich – auch mit Deinen kleinen Hunden – als einen sehr warmherzigen Menschen kennenlernen durfte und mehr noch, ich bekam einen tieferen Einblick in Deine erstaunliche Arbeit, in die spezifischen Materialien und in die Zeichenpraxis, denn die Zeichnung ist Dein zentrales Medium.

 

Sandra Vásquez de la Horras zeichnende Hand

Auf dem Papier entfaltet Sandra Vásquez de la Horra einen außergewöhnlichen Kosmos, der vor allem auf einem beruht, auf Menschlichkeit. Die Freiheit des Menschen, die physische wie mentale Autonomie der Frau und die Kräfte der Mutter Erde, der Natur, fließen durch jede einzelne Linie, wie auch die vielfältigen Kulturen, mit denen Vásquez de la Horra im Laufe ihres Lebens in Berührung gekommen ist und die ihren Geist und ihre zeichnende Hand bis heute begleiten.

 

Biografie

Als Kind besucht Sandra Vásquez de la Horra in ihrer chilenischen Heimatstadt Viña Del Mar eine katholisch-italienische Schule. So wächst sie zweisprachig auf und lernt in jungen Jahren neben der chilenischen auch die italienische Kunst und Kultur kennen. Ihr Zeichentalent zeigt sich schon in Kindertagen – und auch das verbindet sie mit der Namengeberin des heute verliehenen Preises, Käthe Kollwitz.1 Bereits im Alter von 12 Jahren wird Sandra Vásquez de la Horra in die Akademie der Schönen Künste von Valparaíso aufgenommen, wo nicht allein ihr künstlerisches Talent, sondern auch ihr überbordendes Interesse an Literatur gefördert wird. Geradezu exzessiv vertieft sie sich in die Welt der Bücher und geht ihrer Affinität für Poesie, für Fantastisches und Surreales nach – eine Vorliebe, die bis heute währt.

Unter den besonders einprägsamen literarischen Einflüssen finden sich sowohl Werke surrealistischer und dadaistischer Dichter – etwa von André Breton (1896–1966) und Tristan Tzara (1896–1963) –, als auch ethnologische Betrachtungen von Claude Lévi-Strauss (1908–2009) und die Schriften der Beatgeneration.2 Besonders innig verbunden fühlt sie sich der Dichtkunst des französischen Lyrikers Paul Éluard (1895–1952). Dessen Gedichtband Capitale de la douleur (Hauptstadt der Schmerzen von 1926) gehört zu ihren liebsten Büchern.3 Als Vásquez de la Horra 1986 nach Santiago de Chile umzieht, entdeckt sie im Museum für präkolumbische Kunst die dort verwahrten ethnografischen Sammlungen und die auf präkolumbische Kunst, Archäologie, die Vorgeschichte Amerikas und auf Anthropologie spezialisierte Bibliothek, die ihr einen weiteren unerschöpflichen Fundus des Wissens bietet. 1989 kehrt sie in ihre Heimatstadt Viña Del Mar zurück. Es ist das Jahr der ersten chilenischen Volksabstimmung, nachdem General Augusto Pinochet (1915–2006) 1973 den Präsidenten Salvador Allende (1908–1973) gestürzt und Chile in eine Diktatur überführt hatte. Diese von Unterdrückung und Gewalt geprägten Jahre gehen auch an Vásquez de la Horra nicht spurlos vorüber und sie mögen ihren Blick auf den ambivalenten Charakter des Menschen im Allgemeinen, dessen Streben nach Macht einerseits und dessen Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit andererseits geprägt haben.

1990 wird die chilenische Diktatur beendet. In diesem Jahr beginnt für Vásquez de la Horra ein neuer Lebensabschnitt. Sie nimmt das Studium der Kommunikation und des Grafikdesigns an der Universität für Design in Viña Del Mar auf und konzentriert sich dabei auf den Schwerpunkt Typografie. 1995 folgt ein einjähriger Besuch der Klasse von Jannis Kounellis (1936–2017), einem der prägendsten Vertreter der Arte Povera, an der Kunstakademie Düsseldorf, dem sich, nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Chile, 1999 ein zweiter, einjähriger Studienaufenthalt an der Düsseldorfer Kunstakademie, diesmal in der Klasse von Rosemarie Trockel (*1952), anschließt. Von 2001 bis 2003 absolviert sie zudem ein postgraduales Studium an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sie bleibt fortan in Deutschland und bleibt auch ihrer Heimat eng verbunden. Seither hat ihr transkultureller Blick ein einzigartiges Werk hervorgebracht, in dem sich die Bild- und Sprachformeln Südamerikas mit christlicher Ikonografie und europäischen Bildtraditionen vereinen.

 

Migration der Kulturen

Einem Traum entstiegen scheinen ihre zu Beginn der 2000er-Jahre gezeichneten Mischwesen aus Mensch und Tier zu sein. Sie wecken Assoziationen an die hybriden Geschöpfe des niederländischen Künstlers Hieronymus Bosch (um 1450–1516) und an die fantastischen Szenerien des Surrealismus. Dabei gibt sich das Werk Sandra Vásquez de la Horras heiter wie düster zugleich. Wiederholt greift sie ikonografische Varianten der Vanitas-Motivik auf, etwa in Form von Totenschädeln, Knochenmännern oder Skeletten, in denen sich spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Bildtraditionen der europäischen Kunstgeschichte mit südamerikanischen Ritualen und Bildtopoi verbinden. Darstellungen des Todes als Symbole allgegenwärtiger Sterblichkeit von allem irdischen Leben bilden also ein wiederkehrendes Motiv im Werk der Künstlerin. Doch speisen sich diese Bilder nicht allein aus der Kunstgeschichte, sondern auch aus unmittelbarer Erfahrung, denn Vásquez de la Horra erlebte die Allgegenwart von Gewalt und Tod in einer zutiefst patriarchal geprägten Gesellschaft. Über ihre in Chile während der Diktatur Pinochets verbrachte Jugend erzählt sie: „Ich bin an einem Ort groß geworden, an dem ich entführt, gefoltert und vergewaltigt werden konnte. Viele Freunde und Bekannte erlitten dieses Schicksal.4 “Mit derartig grausamen Realitäten resonieren die feinfühligen und zugleich visuell aufgeladenen Worte Paul Éluards. In „Die Gleichheit der Geschlechter“ schreibt er: „Deine Augen kehrten aus einem Land der Willkür zurück, / Wo niemand noch wußte, was ein Blick ist, / Noch die Schönheit der Augen kannte, Schönheit der Steine, / Jene der Wassertropfen, der gefaßten Perlen […]“.5

 

Eine Frau aus feinem Gewebe

Dominant vertreten im zeichnerischen Werk Sandra Vásquez de la Horras – und dies teilt sie überdies mit Käthe Kollwitz – ist der menschliche Körper, insbesondere der Weibliche. Kollwitz konfrontiert uns mit der erschöpften Arbeiterin, mit der Vergewaltigten, mit der Verzweifelten, mit der Mutter. Letzterer widmet sich auch Sandra Vásquez de la Horra immer wieder, zudem mit der Schwangeren, der Heranwachsenden, aber auch der vom Tod umarmten Frau. Meist stellt sie sie unbekleidet dar, die weiblichen Geschlechtsmerkmale entblößt, doch sind diese Frauen niemals Opfer, immer aufrichtig, immer energetisch, mitunter provozierend herausfordernd.

Häufig zeigt sie Vásquez de la Horra in enger Verbindung mit der Natur wie in der vierteiligen Zeichnung America sin Fronteras (2017). Hier schwebt ein aus feinen, parallel angeordneten und sanft geschwungenen Grafitlinien modellierter Frauenkörper im undefinierten Raum und wird vom Weiß des Papiers umschlossen. Die Wölbungen von Stirn, Nase, Mund und Kinn sowie die Brustwarzen sind mit weißer Gouache gehöht, ebenso sind es die Spitzen eines Gebirgszuges, der dem weiblichen Körper zu entwachsen scheint. So spielen die von Schnee bedeckten Gipfel auf Vásquez de la Horras Heimat Chile an. Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass der etymologische Ursprung des Wortes „Chile“ auf zwei Begriffe zurückgeht, auf „chilli“, was als „das Land, wo die Welt zu Ende ist“6 übersetzt wird, und auf „tchili“, „verschneit“.7

Immer wieder zitiert die Künstlerin ihre Heimat, deren geografische Eigenheiten und deren Kultur, die sich aus rituellen und visuellen Einflüssen der Inka und Spanier, aber auch des indigenen südamerikanischen Volkes der Mapuche speist. Sie gelten als die „Menschen der Erde“8 und als diese werden sie auch von Vásquez de la Horra in der Zeichnung America sin Fronteras ins Bild gesetzt: Zwei Figuren schreiten über einen Gebirgszug. Ihre Füße stecken in den Bergspitzen, als seien sie darin verwurzelt oder den Bergen entwachsen. Ihre Körper sind mit Grafit gezeichnet, wobei die dicht schraffierten Flächen vom Weiß ausradierter Linien gebrochen sind, sodass der Eindruck entsteht, als würden sich diese Körper wie ein Lufthauch verflüchtigen. Die Wirkung ephemer angelegter, in Auflösung begriffener Körperlichkeit wird nochmals unterstrichen, indem das Grafit über die Köpfe hinaus gewischt ist und sich dort flammenförmig verjüngt. Assoziationen an Heilig-Geist-Darstellungen werden wachgerufen.

Doch zurück zum Titel der Zeichnung, America sin Fronteras (Amerika ohne Grenzen). Vásquez de la Horras Auseinandersetzung mit ihrer südamerikanischen Heimat Chile, dem Ringen zwischen Süd- und Nordamerika und den dort aufeinandertreffenden Kulturen und Nationen verhandelt sie, indem sie das verbindende Element betont, ihren gemeinsamen Ursprung: Mutter Erde. Die Einheit der Völker und die enge Verbundenheit des Menschen mit der Natur durchziehen das gesamte Werk der Künstlerin. In ihren Zeichnungen gehen Menschen aus dem Erdreich oder aus Gesteinsschichten hervor, werden von den Wellen des Meeres oder von Blütenblättern umschlossen, geradezu umarmt.

Auch ihre Zeichnungen bettet die Künstlerin in ein der Natur entnommenes Material ein. 1997 beginnt Vásquez de la Horra ihre Zeichnungen mit Bienenwachs zu überziehen.9 Sie taucht die bereits bearbeiteten Blätter in ein Bad aus flüssigem Wachs, das die Papiere beidseitig vollständig ummantelt. Das elastische Material legt sich um das Papier wie ein Schleier, durch den die Grafitlinien zart hindurchschimmern. Sie scheinen zu vibrieren, wirken verlebendigt. Die Wachsschicht verleiht den Zeichnungen eine plastische Qualität und eine organische Anmutung, sie wird zur Haut, die Zeichnung zum greifbaren Körper, die auch uns, die Betrachter*innen, physisch angeht.10

 

Dreidimensionale Zeichnungen: Das Haus als Bühne

Der Schritt in den dreidimensionalen Raum ist getan und Vásquez de la Horra geht ihn 2014 noch weiter, als sie beginnt, Häuser aus Papier zu bauen. Die Fassaden sind natürlich mit Zeichnungen versehen bezeichnet. Zu den Häusern inspiriert wurde die Künstlerin durch die Gemälde, Wanddekorationen und Bühnenbilder des italienischen Malers, Bildhauers und Architekten Mario Sironi (1885–1961), der sich der Pittura metafisica widmete, darin das Transzendente mit dem Gegenständlichen vereinte, und damit Welten, die Vásquez de la Horras Werk nahestehen.11 Sie konzipiert einige Häuser als freistehende Objekte, andere präsentiert sie hängend, sodass die Wand des Ausstellungsraums zur Wand des Papierhauses wird und die Ausstellungsbesucher*innen damit in diese Welt der Häuser eintreten. Wir werden Teil von Sandra Vásquez de la Horras Kosmos.

Den Häusern folgen Leporellos. Die Leporellos sind vertikal mehrfach gefaltet, gewinnen damit an Standfestigkeit und werden freistehend im Raum platziert. Beide Seiten des Papiers sind bearbeitet, eine Seite ist mit Grafit bezeichnet, die andere mit Wasserfarben bemalt.  Aus dem ringförmigen Lineament der Zeichnungen modelliert die Künstlerin liegende, ins Profil gedrehte weibliche Akte, die gen Himmel schauen oder den Betrachter*innen frontal entgegenblicken. Mit sanft geschwungenen Grafitlinien umschließt die Künstlerin einzelne Körperpartien und -flächen, die sie mit parallel gesetzten, an die Maserung von Gehölz erinnernde Lineaturen verdichtet. Die für Vásquez de la Horra charakteristische Linienführung lässt erneut an die poetischen Worte Paul Éluards denken, der den Körper der Frau als „feines Gewebe“12 beschrieb.

In den jüngsten Arbeiten Vásquez de la Horras schleichen sich in dieses feine Gewebe kleine Wesen. In Ohren, Stirnhöhlen und Torsi nisten Vögel, wohnen miniaturhafte Figuren oder klemmen scharfzahnige Muscheln. Das Transzendente, Surreale hält erneut Einzug in die komplexe Bildwelt Vásquez de la Horras. Diese Welt ist immerfort in Transformation begriffen und die Migration der Bilder wird stetig vorangetrieben. Den transformativen Charakter von materieller und geistiger Kultur fasste der erste Theoretiker der Migrationsforschung, Ernst Georg Ravenstein (1834–1913), bereits 1885 mit der Formel „Wanderung ist Leben“13 zusammen, und Vásquez de la Horra wandert weiter und weiter über Ländergrenzen, über Kontinente und Jahrhunderte hinweg. Berlin kann sich glücklich schätzen, dass sie immer wieder in die Stadt der friedlichen Revolution zurückkehrt, in die Stadt, in der sie heute – absolut verdient – mit dem Käthe-Kollwitz-Preis geehrt wird.

 

Liebe Sandra, herzlichen Glückwunsch zum Käthe-Kollwitz-Preis 2023!

 

 

1 Vgl. Regina Freyberger, „In mir war Zielrichtung". Kollwitz als Frau und Künstlerin in ihrer Zeit, in: Kollwitz, Ausst. Kat. Städel Museum, Frankfurt am Main 2024, hrsg. von Regina Freyberger, Berlin 2024, S. 28–34, hier S. 29.

2 Eine sehr ausführliche Biographie über die Künstlerin findet sich in: Jonas Storvse: „Das menschliche Dasein nach Sandra Vásquez de la Horra", in: Sandra Vásquez de la Horra, Ausst. Kat. Bonnefantenmuseum Maastricht, 2010, hrsg. von Juerg Judin, Ostfildern 2010, S. 89–96.

3 Paul Éluard, Hauptstadt der Schmerzen, 1983.

4 Dialog zwischen Sandra Vásquez de la Horra und Tereza de Arruda anlässlich der Ausstellung Aguas Profundas, in: Sandra Vásquez de la Horra. Aguas Profundas, Ausst. Kat. Museo Novecento, Florenz 2019, hrsg. von Sergio Risaliti, Pontedera 2020, S. 38–45, hier S. 45.

5 Paul Éluard, Die Gleichheit der Geschlechter, in: Hauptstadt der Schmerzen, Berlin 1983, S. 49.

6 Michael Huhn, Von Inkas, Spaniern und Chilenen, in: Chile. Gelobtes Land der Gegensätze, Hamburg 2011, S. 15–34, hier S. 16.

7 Ebd.

8 Ebd.

9 Vgl. Mailena Mallach, Schichtungen in Wachs. Sandra Vásquez de la Horrasʼ Zeichnungen, in: Dresdner Kunstblätter, 4/2021, hrsg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Dresden 2021, S. 60–61.

10 Jean-Christoph Amman spricht in diesem Zusammenhang von Vásquez de la Horras Zeichnungen als „Resonanzkörper", siehe: Jean-Christoph Amman, Sandra Vásquez de la Horra, in: Impossible Mind, Ausst. Kat. Kewenig Galerie, Köln u. a., Nürnberg 2007, S. 7–9, hier S. 8.

11 Rubina Romanelli: Sandra Vásquez de la Horra. Von der Zeichnung zur Skulptur, in: Sandra Vásquez de la Horra. Aguas Profundas, Ausst. Kat. Museo Novecento, Florenz 2019, hrsg. von Sergio Risaliti, Pontedera 2020, S. 22–28, hier S. 27.

12 Paul Éluard, Bänder, in: Hauptstadt der Schmerzen, Berlin 1983, S. 38.

13 Siehe Claudia Tittel, Migration der Dinge oder wie Wissen, Ideen und Kulturtechniken zirkulieren, in: Migration der Dinge. Kulturtransfer und Wissenszirkulation in Zeitaltern der Globalisierung. Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, Band 31, hrsg. von Claudia Tittel, S. 6–31.

Eindrücke von der Preisverleihung und Ausstellungsansichten

Preisverleihung und Ausstellungseröffnung, Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Akademie der Künste, Berlin, 18. Juni 2024, Foto: Moritz Haase

Preisverleihung und Ausstellungseröffnung, Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Akademie der Künste, Berlin, 18. Juni 2024, Foto: Moritz Haase

Preisverleihung und Ausstellungseröffnung, Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Akademie der Künste, Berlin, 18. Juni 2024, Foto: Moritz Haase

Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Ausstellungsansicht, Akademie der Künste, Berlin, Foto: Moritz Haase © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Ausstellungsansicht, Akademie der Künste, Berlin, Foto: Moritz Haase © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Ausstellungsansicht, Akademie der Künste, Berlin, Foto: Moritz Haase © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Das Rauschen des Kosmos. Sandra Vásquez de la Horra. Käthe-Kollwitz-Preis 2023, Ausstellungsansicht, Akademie der Künste, Berlin, Foto: Moritz Haase © VG Bild-Kunst, Bonn 2024