1998

Miriam Cahn

Miriam Cahn hat sich spätestens seit ihrer Teilnahme an der Biennale di Venezia 1984 international künstlerisch durchgesetzt. Heute lebt sie zurückgezogen im Schweizer Bergell. Ihre Bildwelten evozieren eine diffuse Atmosphäre, in der sich ihre Figuren vor abstrakt-farbigen Bildhintergründen bewegen. Seit einigen Jahren (vgl. documenta 14, 2017) widmet sich die feministische Künstlerin thematisch fliehenden Frauen und Kindern. Ihre Werke oszillieren zwischen Abstraktion und Figuration. Cahns aktuelle Bilder stellen nackte, schemenhaft konturierte Figuren in der Landschaft dar, deren Verletzbarkeit durch die rote Farbgebung sensibler Körperstellen betont wird.

„ich wäre nicht wenn meine grossmutter mutter
meines vaters nicht 1933 gesagt hätte:
– entweder Hitler oder ich! –“

Miriam Cahn, Palü, 2015 (aus dem Gedicht: ZUFALL)

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Sie arbeitet am Boden, zeichnet blind, schöpft aus ihrem eigenen Rhythmus, ihren weiblichen Energien.“ (Auszug Jurybegründung)

Als Miriam Cahn Mitte der siebziger Jahre mit ihrer künstlerischen Arbeit beginnt, entscheidet sie sich bewusst für eine weibliche Kunst – „Mein Frausein ist mein öffentlicher Teil“ – für eine weiblich-aggressive Haltung. Sie verwirft die damals wie heute noch üblichen männlichen Leitbilder, das Machowunschdenken, den Geniekult, liberale Geschlechtsneutralität. Sie schmeißt sich hinein in ihr Frausein, engagiert sich in der Frauenbewegung, lehnt Distanz und Überblick für ihre radikal selbstbezogene Kunst ab. Sie arbeitet am Boden, zeichnet blind, schöpft aus ihrem eigenen Rhythmus, ihren weiblichen Energien. Ihre Hervorbringungen sind Eisprungarbeiten, Blutungsarbeiten, wie sie selbst sagt. Ein solches Arbeiten eliminiert sukzessive ein anfängliches Prototypdenken, das Setzen von männlich aggressiven Zeichen wie drohende Rohre, Raketenabschussrampen, Kriegsschiffe, todbringende Maschinen und weibliche Motive wie Schaukel, Meer und Bett. Es sind großformatige, großartige Bilder, die Anfang der achtziger Jahre entstehen, obsessiv gezeichnete, mit Kohle dem Papier eingeriebene Schreie; und im Gegenrhythmus dazu Reihen verinnerlichter, medial fast erahnter und gefasster Gesichte. Anklage und Trauerarbeit, simultan und immens, Schmerz und Lust, Aggression und Verletzlichkeit – „Ich mache pornografische Zeichnungen, wie ein Mann sich Hefte kauft und sich darüber einen abwichst. Ich zeichne und wichse. Die Menge der Zeichnungen ist die Dauer bis zum Orgasmus.“ – werden zu eruptiven und verinnerlichten Grafen. „Ich knie am Boden und reibe und reibe, bis alles schwarz ist und meine Knie wund sind. Das Haus, ich mache es kurz vor meiner Menstruation. Gut ist, wenn ich während des Zeichnens anfange zu bluten.“ Dieses derart engagierte, existenzielle Spurenzeichen, immer nahe an der Grenze des Ausbrennens, hat sie mit der Zeit thematisch erweitert: Männer und Frauen wachsen in Frauen und Männer, in Lieben, in Träume/Träumen/Erträumt, in Landschaften, in Pflanzen, in Tiere, bis diese Wanderung vom Körperlichen ins Seelische erneut gestört wird durch den Ausbruch des Golfkrieges, durch die Sorgen um Ihre Verwandten in Israel, durch die Giftgaskatastrophe und Bhopal, durch die bosnisch/kroatisch/serbischen Gräuel von Menschen an Menschen. Ihr Hass und ihre mitleidende Solidarität, ihr steter Krieg mit der Kunst als arbeiten gegen den Krieg, den sie trotzig führt, lassen sie ihr überpersönliches, nicht auf ein Image fixiertes Guernica schaffen, ihre Kriegsräume, die aus einer Vielzahl von Arbeiten bestehen, die in der Technik und der Hervorbringungsstrategie variieren und über temporäre Hängungen jeder stilistischen Fixierung enthoben sind.

Der Jury gehörten an: Christina Kubisch, Hanns Schimansky und Harald Szeemann

Laudatio, vorgetragen von Matthias Flügge anlässlich der Preisverleihung und Eröffnung der zugehörigen Ausstellung am 27. September 1998:

Miriam Cahn erhält heute den Kollwitz-Preis der Akademie der Künste. Das ehrt unser Haus. Und es ist zugleich geehrt durch diese Ausstellung, in der die Künstlerin Arbeiten der vergangenen Jahre vor uns ausbreitet – in klarer und schöner Rhythmisierung, aber ohne dramatisierende Zuspitzungen, Bilder in einem Raum, die der Inszenierung nicht bedürfen, weil sie zwar in sich abgeschlossene Organismen sind, aber doch in einer offenen Reihung miteinander kommunizieren. Es ist schwer über diese Bilder zu sprechen, ohne sie gleichsam zu beschädigen. Sie tragen ihre Geschichte und ihre Vor-Geschichte in sich und verweigern durch ihre Intensität, dass man sie ihnen entreißt. Schauen Sie bitte an die Wände, sie werden es verstehen.

Die Einsicht in diese Sprechschwierigkeit, die Miriam Cahns Bilder dem bereiten, dessen Beruf es ist, über Bilder zu sprechen, treibt einen Stachel ins professionelle Fleisch – und erzeugt zugleich eine eigentümliche Berührungsqualität.

Seit den frühen 90er Jahren bin ich in verschiedenen Ausstellungen und Museen immer wieder Arbeiten dieser Künstlerin begegnet. Anfangs waren es großformatige, raumbestimmende und raumschaffende vegetabilische Zeichnungen mit schwarzer, stumpfer Kreide auf Papier, die nicht etwa im romantischen Sinne Natur verinnerlichten, sondern ganz im Gegenteil, natürliche Energien zu direkter Anschauung brachten. Später waren es farbige Kreide- und Pastellarbeiten, in denen die Künstlerin unter dem Eindruck der Mordtaten in Sarajevo/Bosnien zu einer ausdruckssteigernden Sublimierung des Schreckens gefunden hatte, und fern allem veristischen Aplomb, fern aller Mediensentimentalität über Körper und Körperlichkeit, über Geste und Gestalt, Liegen, Stehen, Fallen, elementares Tun und Geschehenlassen eindrang in die von tausenden Kriegsbildern eher verklebte denn aufgehellte Phantasie des Mitleidens.

Dann, im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, das die größte öffentliche Sammlung von Miriam Cahn außerhalb der Schweiz besitzt, sah ich etliche jener zyklisch-selbständigen Arbeiten, die die Künstlerin auch für diese Ausstellung ausgewählt hat. Immer waren diese Begegnungen rätselhaft. Die Eindringlichkeit der Bilder hatte etwas Bannendes, etwas, dem man sich auf keinen Fall entziehen konnte. Zugleich hatten sie etwas eminent Persönliches, waren und sind getragen von einer kaum ins Ästhetische sublimierten Direktheit im Intimsten, Obsessiven, Erotischen und Sexuellen, zu dem man Distanz gewinnen mußte, weil es die antrainierten Muster der Betrachtung schlicht in Partikel sprengte. Wie kann, in einem Kunstfeld, das längst keine Tabus mehr hat, das bis zur Unkenntlichkeit ins Kulturelle aufgelöst ist, ein solcher Impuls aus Kraft und Zartheit zugleich entstehen?

Wir haben es mit Malerei zu tun. Aber mit einer Malerei, die im Unterschied zur gegenwärtig bevorzugten Praxis, nicht den Zweifel am Bild kultiviert und auch nicht im konzeptuellen Sinne das Medium nach seinen zeitgenössischen Möglichkeiten befragt, sondern mit einer Malerei, die ganz selbstverständlich dem Gegenüber, der Figur, der Landschaft oder der Natur oder der vagabundierenden Assoziation von allem sich zuwendet und dabei gewissermaßen auratisch bleibt, ohne uns in eine stilistisch festgeschriebene Sicherheit einzulullen. Denn es gibt einen wichtigen Unterschied: Die Ausdrucksqualität dieser Bilder – obwohl sie auf den ersten Blick „lesbar“ zu sein scheinen, resultiert nicht aus einem Erfahrungskonsens mit dem Betrachter – sei dieser nun motivisch oder kunstgeschichtlich oder farbsymbolisch hergestellt – sondern aus einer psychisch durchdrungenen Materialität. Es ist die Farbe selbst, die die Figuren bildet, die gleichsam durch koronahaftes Leuchten bildet, ohne dass zeichnender oder plastisch formender Eingriff mehr als akzentuierend nötig wäre.

Oft ist in Texten über Miriam Cahns Bilder darauf hingewiesen worden, dass sie aus und mit einer dezidiert weiblichen Energie arbeitet und dass biologische Rhythmen – solche der Physis und der Psyche – auf das innere Maß der Arbeit bekenntnishaften Einfluss haben. Dies wäre, rein äußerlich betrachtet, eine Referenz an Verfahren der Körperkunst. Im Bild scheint es als Schwingung der energetischen Verhältnisse auf, als Maß der Introspektion gegenüber den formalen Gegebenheiten, die Miriam Cahn der beobachteten Welt entnimmt. Sie hat – darin durchaus einem feministischen Kanon folgend – ihre Motive in solche der weiblichen und solche der männlichen Bestimmung unterteilt, politische, soziale und historische Vorgänge bildeten zugleich Korrelat und Korrektiv der Selbstbeschreibung. „Was mich anschaut“ hieß eine ihrer Ausstellungen, wie es sie anschaut – wie sie es anschaut, diese beiden grundsätzlichen Begegnungsformen mit der Wirklichkeit in Balance zu bringen ist das tiefere Ziel der Arbeit am Bild. Und es geht dabei um die Totalität der Wirklichkeit, um die inneren Entsprechungen äußerer Zustände, es geht um Krieg und Terror, um Tod und Aggression, um Schmerz, Lust, Ektase, Erwartung und Verlöschen. Es geht nicht um Symbole, wie gesagt, sondern um die Spuren, die die Wahrnehmung bedrückender Zustände in uns zu hinterlassen vermag, darum, – im Wortsinn – etwas festzustellen und aus dem trägen Fluß der Medienbilder in eine Begegnung des Berührens, der Berührbarkeit zurückzuholen. Das mit Malerei heute noch Mitteilbare mitzuteilen, das Werk dabei von Erzählstrukturen freizustellen und seine Autonomie in einer ambivalenten Schwebe zu halten – das ist das immanente Problem dieser Arbeit. Es ist nur in einer prozessualen Form lösbar, in der das einzelne Bild einen zeitlich begrenzten Zustand repräsentiert, eine höchst konkrete Lotung in einer höchst allgemeinen Form. Wenn ich vorhin sagte, dass das interpretierende Sprechen über die Bilder diese zu verletzen droht, so hat das damit zu tun. Denn das Beeindruckende und zugleich tief Verunsichernde an der Arbeit von Miriam Cahn liegt in ihrer Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in eine authentische und doch in sich vollkommen geschlossene Bildgestalt zu transformieren. Fast sind es säkulare Ikonen, die sie malt, in der immer wieder aufscheinenden Mandorla-Form, in der Konzentration auf entindividualisierte Physiognomien, der klaren Betonung einer Körperhaltung, der undefinierten Hintergründe und der die Figuren umgebenden Aureolen. Wenn das so ist, dann transzendieren diese Bilder durch die prototypische Erfahrung ihrer Autorin das Leben ins Überpersönliche – und hier liegt die Wurzel der Sprachschwierigkeit. Jedes Sprechen über die Exegese der Bilder wäre unzulässige Vermutung über die Künstlerin, die uns gerade in der nachdrücklichen Distanz ihrer Bilder ganzheitliche Mitteilungen über sich macht, vor denen Interpretation notwendig versagen muss. Und so sind auch wir vor diesen Bildern auf uns allein gestellt. Harald Szeemann, der neben Christina Kubisch und Hanns Schimanski der Jury für den diesjährigen Käthe-Kollwitz-Preis angehörte, hat in seiner Begründung für die Verleihung an Miriam Cahn von den „geheimen Orten des Wucherns und Wachsens, der Zerstörung und des Todes“ gesprochen, die die Künstlerin uns enthüllt. Und wir stehen, nicht sprechend – aber keineswegs sprachlos – vor diesen Bildern und bemerken berührt: Sie sind in uns selbst. Was ließe sich – im Sinne einer Laudatio auf eine Preisträgerin – Rühmenderes sagen?