1988

Christa Sammler

Das Werk der aus Breslau stammenden Berliner Bildhauerin Christa Sammler spiegelt ihr ausgeprägtes Verständnis historischer Zusammenhänge, das steten Einfluss auf ihre künstlerischen Aktivitäten nimmt. Die griechische Antike war für sie Maß und Ausgangspunkt der Entwicklung europäischer Kultur und Kunst. Die klassische Harmonie von maßvoller Bewegung, Körper und Gewand, Sinnlichkeit und Bewusstheit erlebt der Betrachtende bei Werken wie dem Mädchen mit Apfel (1964), dem Reliefzyklus Erlebnis der Musik (Stadthalle Chemnitz, 1974) oder ihren Stillleben, bei denen es um Formen der geschichtlichen Erinnerung geht.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Die geistige Verwandtschaft der Formensprache mit ihren Lehrern [...] bestimmen bis heute das plastische und zeichnerische Schaffen von Christa Sammler, das sich durch Ursprünglichkeit und klare selbstverständliche harmonische Formen auszeichnet.“ (Auszug Begündung)

Die Bildhauerin Christa Sammler prägt seit drei Jahrzehnten das bildhauerische Schaffen in der DDR entscheidend mit. Seit ihrer Meisterschülerzeit an der Deutschen Akademie der Künste (1958) bei Gustav Seitz schuf sie kontinuierlich und mit unermüdlichem Engagement ein eigenständiges bildhauerisches Werk von hoher künstlerischer Qualität.

Die geistige Verwandtschaft der Formensprache mit ihren Lehrern Walter Arnold, Gustav Seitz und indirekt mit Auguste Rodin und Aristide Maillol bestimmen bis heute das plastische und zeichnerische Schaffen von Christa Sammler, das sich durch Ursprünglichkeit und klare selbstverständliche harmonische Formen auszeichnet. Die Spanne der inhaltlichen Vorgaben reicht von der charakteristisch und psychologisch erfassten Einzelfigur wie Stehender Akt (1967), Hemdausziehende (1966) bis zu mehrschichtig und differenziert behandelten gegenwärtigen oder historischen Themen, die den Bezug zu Zeitproblemen stets in sich tragen.

Zahlreiche Arbeiten, für die Christa Sammler die Form des Reliefs vom kleinsten bis zum größten Format wählte, lassen Experimentierfreudigkeit und einen immer stärker werdenden Bezug zum Berliner Klassizismus und zur griechischen Antike erkennen (z. B. Reliefs zum Thema Musik für die Stadthalle in Karl-Marx-Stadt (1974/75), das Schliemann-Denkmal in Berlin (1980) oder die Gedächtnissäule für Max Reinhardt mit dem Relief Der Frieden nach Aristophanes (1982/83). Durch diese Art der künstlerischen Aussage, die sie seit über einem Jahrzehnt bevorzugt anwendet, gelingt es ihr, Empfindungen zu veranschaulichen und – durch harmonische Zuordnung sehr bewusst ausgewählter Bruchstücke aus der Gegenwart und der griechischen Antike – gegenwärtige Lebenssituation, z. B. die Bedrohung des Friedens, erkennbar werden zu lassen und damit den Betrachter vielfältig zu aktivieren.

Diese „Rückbesinnung als Engagement für das Heute“ (Chr. Sammler), die immer maß- und qualitätsvolle sowie für neue künstlerische Wege offene Gestaltungsweise von Christa Sammler, ihr bisher geschaffenes umfangreiches und anspruchsvolles Werk, das im Sinne und im geistigen Vermächtnis von Käthe Kollwitz steht, veranlasst uns, die Künstlerin für den Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste der DDR vorzuschlagen.

Laudatio, vorgetragen von Joachim Jastram anlässlich der Preisverleihung am 8. Juli 1988, veröffentlicht in „Mitteilungen“ Nr. 6, November/Dezember 1988

Liebe Christa Sammler, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bei Umberto Eco kann man lesen: „Eine Deutung zu finden ist nicht dasselbe wie eine Meinung zu vermitteln.“ Hier geht es um beides. Es soll eine Meinung vermittelt werden über die Persönlichkeit der Bildhauerin — Christa Sammler — und auch Deutungen versucht werden für ihr Werk. Frau Sammler hat sich die Rede knapp und sachlich gewünscht, wollen wir auch so verfahren — wenngleich wenigstens freundliche Zuwendung nicht ausgeschlossen werden kann, da es sich ja um eine Laudatio handelt.

Die junge Breslauerin kam über Bautzen nach Dresden an die Kunsthochschule und brachte eigentlich schon alles mit, was sie heute auszeichnet. Sie brachte die Begabung mit, den Gegenstand über die Anschauung ganz selbstverständlich als Gestalt von der Mitte her zu erfassen — als Teil eines Ganzen — und brachte die Talente mit, solches Erfassen auf die natürlichste Weise zu bilden — und die Gründlichkeit auch, Entstehendes immer wieder neu auf seinen Wert zu prüfen. Für sie, die Christa Sammler, ging so — in der Tat — das Geistige in der Kunst über die Hand. Opportunismus war ihr suspekt, Heuchelei unerträglich und früh bildete sich die Neigung — die zunehmend zu ihrer Grundhaltung wurde —, sich selbst sehr genau zu befragen, um begründet sich tätig einzubringen in den widersprüchlichen Gang der Dinge. 

Ihre Diplomarbeit — die theoretische — schrieb Christa Sammler über Käthe Kollwitz! Darin schreibt sie: „Sie (K. Kollwitz) stellt das Leid der Menschen in den verschiedensten Formen dar und sieht in ihrer künstlerischen Aussage eine Möglichkeit, sich einen Teil von dem von der Seele zu schaffen, was sie an Erlebnissen peinigt oder beglückt.“ Sehr schlicht bezeichnet sie so nicht nur Leben und Haltung der verehrten Frau und Künstlerin, sondern Christa Sammler schrieb schon in relativ frühen Jahren auf, was sie eigentlich bis heute an der Arbeit hält. 

Eigenes Erleben als Folge gesellschaftlichen Geschehens zu begreifen wird heißen, sich aktiv in die Prozesse zu stellen, mitverantwortlich zu sein. Käthe Kollwitz tat das, Christa Sammler tut das nach Kräften heute. Ihr künstlerisches Werk ist nach eigenem Verständnis wesentlich von dem Willen bestimmt, Einfluss zu nehmen, der Menschen Glück zu befördern, Fehlentwicklungen aufzudecken, das Böse zu verhindern! Hier wird Anknüpfendes an das Denken und Handeln der Käthe Kollwitz ausgewiesen und das gab der Akademie der Künste der DDR den guten Grund, Frau Christa Sammler mit dem Käthe-Kollwitz-Preis auszuzeichnen. 

Als diese Christa Sammler erst vor wenigen Jahren endlich die Reise zu sich — nach Hause also — nach Griechenland machen konnte, suchte sie wohl eher Bestätigung und Vertiefung ihres plastisch längst vorgeführten Bekenntnisses zum Hellenentum. „Ich liebe“, schrieb sie, „das Verallgemeinernde und die Schönheit der Mittelmeerkunst, weil Schönheit tröstet und beruhigt. Ruhe, Trost und Freude brauchen wir.“ Ihr mediterranes Wesen, ein eher mittelmeerisches als nordisches Weltempfinden, hat sie ganz logisch auf den Weg zu den Griechen geführt. Ihr Akademiemeister Gustav Seitz, selbst von der statuarischen Sinnlichkeit der großen Ägypter beeinflusst und geprägt, wird ihre besondere Weise, die Dinge unserer Erde zu erfassen und zu begreifen, gefördert und gebildet haben. Auf ihre Reise nimmt sie mit ihr eigenes Verständnis von nachgelesenem oder nachempfundenem Bericht über Geist und Liebe und Gewalt in griechischer Mythologie und Geschichte, ihre Kenntnis von dem ihr erreichbar Gesammelten, ihre Vorstellungen von Leuten und Landschaft Griechenlands. In vielem findet sie sich glücklich bestätigt. 

Ihre Gestalten und Gegenstände bleiben —, ihre Bildordnungen bleiben Reime, Adaptionen oder Wiederholungen von nicht Wiederholbarem; sie werden aus ihren mythologischen und geschichtlichen oder in Geschichten festgeschriebenen Bedingungen herausgelöst und in neue Zusammenhänge gesetzt und treten so, als Mitteilungen unserer Tage, in das Heute. „Aber“, schreibt der Kunstwissenschaftler und Griechenkunst liebende Heiner Protzmann über die Arbeit von Frau Sammler, „es ist keine gelehrte Kunst, sondern frisches Schalten mit dem Traditionsgut, frei assoziativ die Ideen ordnend nach Maßgabe des Themas.“ So mag ihr Heinrich-Schliemann-Denkmal stehen für den Hass der Sammler und ihren Zorn auf das tötend Militante, das Menschen zur Nahrung für die Geier werden lässt — und in ihrem Relief Totenkopf mit Helm mit seinem im Erdreich aufgehobenen Kriegszeug —setzt sie dem Tötungswidersinn eine archaische Schöne als Zeichen der Hoffnung zurückhaltend entgegen: Sie erfindet ein dialektisches Paar, das uns zwischen Gut und Böse in die Verantwortung nimmt. 

Claude Keisch spricht in einer Wertung des Werkes von Frau Sammler von einer „beunruhigenden Stille“. Er meint sicher nicht allein die archaische Ruhe —beherrschte Freundlichkeit — oder in bildnerischer Disziplin aufgehobene Sinnlichkeit in den Figurationen Christa Sammlers, sondern vielleicht auch die Stille der Gegenstände, in der die Biografie ihrer Erzeuger, vergegenständlichtes Leben aufgehoben und weitergereicht ist, die Welt, das Denken, Fühlen und Tun der Helmschmiede und Amphorentöpfer. Das zu spüren und für uns ins Bild zu setzen, gibt auch den Gegenständen etwas beunruhigend Bedeutsames. Christa Sammler kann das. Ihr Helmbild ist so Sinnbild geworden für der Menschen Kriegslust und Gewalt und Tod. 

„Ungeheuer ist viel und nichts ist ungeheurer als der Mensch“, lässt Sophokles die Antigone sagen. Unsere Künstlerin weiß das und ist erfüllt und auch in Not vor der Einsicht, das Ungeheuerliches, in der Vergangenheit noch zu beheben war, in unserer Gegenwart, die die Zukunft macht, zerstörerisch ist — und dass die Bedrohung für die Fülle unserer Lebenswelt ein erschreckendes Maß erreichen kann, wenn wir nicht achtsam Handelnde, verantwortlich Tätige werden. Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, was auf dem Spiele steht. Frau Sammler will uns sagen, was auf dem Spiele steht, und sucht im Prozess ihrer Arbeit, wie sie selber sagt, solange, bis sie die nach ihrer Meinung geeignete Form für das Thema gefunden hat. 

Und weiter sagt sie: Anregungen kommen aus vielen Quellen! Das Außergewöhnliche nennt sie. Das Persönliche, Sehnsucht und Geschichte, die Natur bewegen sie — und das Foto. Von Bobrowski lernte sie das und bei einem meiner Besuche bereitete sie vor mir aus, was sie fotografiert hatte. Helme waren da, griechische und mittelalterliche Gesichtspanzer — selber Physiognomien von schöner Grausamkeit —, Modelle für Helmsinnbilder — also Arbeitsmaterial —, der Soldatenstiefel und der Kriegsinvalide, die Friseurpuppe oder Schaufensterfigur verkleidet auf einem Hinterhofbauplatz — fast surrealer Spuk — und Architekturbilder, Denkmale, Wunderparks des Klassizismus mit Teichen und Mäuerchen und viel weißem Marmor — die blanke Romantik — alles Splitter eines ganzen Künstlermenschen. Die Architekturfotos verweisen nicht nur auf Christa Sammlers leidenschaftliche Schinkeltreue, sie sind von ihr auch vorzuweisen und vorgewiesen — als belegender Vorwurf gegen die Nachlässigkeit, mit der vielerorts mit dem umgegangen wird, was die Geschichte uns zu bewahren aufgetragen hat. Architekten und Denkmalpfleger können ein Lied davon singen, Domherren und Schlossverwalter werden wohl mit einstimmen.

Als Stadtmensch versteht sie sich, die Christa Sammler: „Ohne Berlin kann ich nicht leben“, bekennt sie. Sie liebt diese Stadt als Lebenshülle einer spezifischen Beweglichkeit, als geschichtlich gewachsenes Gebilde, dessen Genese in Kunst und Architektur aufgehoben ist, eine Sammlung von Zeugnissen also auch, die erhalten werden müssen und an die sich neue, würdige anschließen sollen. So ist sie überall dort zu finden, wo Zerstörung Einhalt zu bieten ist, aber sie ist auch da, wenn es Menschliches und Schönes durchzusetzen gilt. 

Vieles, meine Damen und Herren, wäre noch zu sagen nötig, zu wenig ist gesprochen über die fast spröde Schönheit ihrer Arbeiten, ihre Freude an bacchantisch Sinnlichem, auch ihre Kraft und ihre Sorgfalt und Selbstkritik im Prozess der Arbeit. Das mit den Augen zu sehen und zu empfinden, wird dem Sensiblen ohne verbale Begleitung gelingen. Ihr — der Frau Sammler — und uns, kam es hier mehr darauf an, was sie in die Worte fasst: 

„Vielleicht gelingt es ja durch die Fülle der Leistungen der Literatur und der bildenden Kunst ein Fünkchen mehr Licht in die Seele der Menschen zu bringen, damit sie dann eher bereit sind, das Gute und Richtige zu tun und das Schreckliche zu verhindern.“