13.3.2018, 12 Uhr

Hört nicht so romantisch! Kerstin Hensel über Friedrich Christian Delius' Roman Die Zukunft der Schönheit

Am 28. Feburar 2018 fand die Buchpremiere von Friedrich Christian Delius' Die Zukunft der Schönheit statt. Kerstin Hensel berichtet in ihrer Begrüßung von Parallelen zu ihrer Biografie und der Kraft des Freejazz:

 

Guten Abend, meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie zur Vorstellung des neuen, bei Rowohlt Berlin erschienenen Buches von Friedrich Christian Delius. Es trägt den deutungsoffenen Titel Die Zukunft der Schönheit – und ich warne Sie gleich: Es geht darin nicht um etwas Ansehnliches oder um eine nette Befindlichkeit, die man in allgemein ästhetisch gefälligen Kategorien beschreiben kann. Der Begriff der Schönheit in Delius' Erzählung liegt eher, so verstehe ich es nach der Lektüre, im Geist des Widerstandes, des Aufbruchs aus den verhärmten und verhärteten Zeiten der 1960er, der zwei mörderische Weltkriege vorangegangen waren.

Rilke, dem „ein jeder Engel" als „schrecklich" erschienen ist, setzte mit seinem Vers aus der ersten Duineser Elegie die treffende Absurdität der Auflösung unhaltbarer Harmonie: „Denn das Schöne ist nichts als den Schrecklichen Anfang...". Für Delius gilt die Umkehr: „Denn das Schreckliche ist nichts als des Schönen Anfang." Die Zerstörung, das Zersetzen und Auflösen alter, bequemer Strukturen, Bilder oder Töne als Beginn des Schönen. Ein revolutionärer Input, bei dem damals biedere Pantoffeldeutsche in West wie Ost panisch ihre Häkeldeckchen festgehalten haben, damit sie – von der pubertierenden Blage zum Beispiel – nicht vom Tisch gezogen werden und das Goldrandgeschirr zu Bruch geht.

Ich will sie mit solchen Ausschweifungen auf die Lektüre einstimmen, weil ich, als faszinierte Leserin, mich selbst in Delius' Geschichte wiederfinde. Wir lesen ja nicht, um den Autor zu bedienen, sondern um unserer Selbst Willen. Lesen ist, ob man will oder nicht, Abgleich mit eigenem Leben, um dann natürlich in ein anderes, das man nicht so genau kennt, zu geraten.

Delius' Erzählung beginnt am 1. Mai 1966, in New York, in Slug's Saloon, einem legendären Jazzclub, der 1972 seine Pforten wieder geschlossen hat. Eröffnet wird mit einer Salve verdächtiger Töne: „Getröte, Gezirpe, Gehämmer, Gejaule...". Die Salve trifft einen jungen Deutschen, angehender Schriftsteller, unschwer als das autobiografisches Erzähl-Ich des Autors zu erkennen. Der Mittzwanziger, mit zwei bereits dissonanzgestählten Kollegenfreunden unterwegs, gerät in eine aufregende Tonhölle, die, neben vier anderen Musikern, der schwarze Jazzer Albert Ayler mit seinem Saxophon schrillscharf durchschneidet. Und zwar in einer Art, die dem aus hessischer Provinz herausgenommenem Pastorensohn sämtliche Hör- d.h. Denkgewohnheiten aus der Ordnung reißt.

„Es war kein Ausmalen, es war ein Programm: Jede Erwartung unterlaufen, möglichst viele musikalische Gesetze angreifen, jeden musikalischen Ernst unterwandern, hinter jeder Melodie die Fratzen zeigen..." So das Zitat.

Aylers Jazzband war für den jungen Mann Erweckung in mehrerlei Hinsicht: im wahrsten Sinne des Wortes un-erhört, angreifend, destruktiv, brutal und einnehmend, so dass sie im Erzähler einen Erinnerungsflash auslöste: die Gewalt der Musik brachte alles an Licht, was die Brutalität der Zeit bestimmte: den Mord an Kennedy, Vietnamkrieg, Börse, amerikanische Freiheitskämpfe, Studentenproteste und natürlich – die Grundbedingung aller Zweifel und Verzweiflungen: das verdrängte Problem mit dem Vater. Dieser Vater, der den Junge, als er als Jugendlicher das erste Mal abends zu spät nach Hause kam, von seinem aufgebrachten Vater mit einem Kopfkissen beworfen wurde – eine hilflose, gleichsam brutale Geste, die in der Privatheit den Zustand einer bestimmten Gesellschaft zeigte.

An diesem Punkt komme ich nochmal zur anfangs erwähnten Wiedererkennung eigenen Lebens: Ich war 17, im Alter des Erzählers, wo ich das erste Mal – zufällig – ein Freejazz-Konzert hörte. Es spielten, u.a. Petrowsky, Gumpert, Bauer, Sommer – die DDR-Größen des Freejazz. Ich war durch deren Klänge völlig aufgelöst und gewandelt, vergaß meine gute Erziehung und vor allem: die letzte Straßenbahn. Weit nach Mitternacht traf ich zu Hause ein: Mutter stand im Nachthemd und mit verheulten Augen in der Tür und presste die Frage hervor: „Kerstin, bist du's?" Ich wollte sagen: „Nein, ich bin es nicht. Ich bin seit heute nicht mehr die, die ihr kennt, oder zu kennen glaubt, denn ich war eben in einer Welt, in der nichts mehr stimmte, und in der ALLES stimmt." So habe ich es natürlich nicht gesagt, aber gefühlt, und ab diesem Tag war tatsächlich alles anders für mich. Der Brechtspruch „Glotzt nicht so romantisch", der als Fanal meiner Pubertät über'm Mädchenbett hing, bekam den Zusatz: Hört nicht so romantisch! – Die elterliche Schlager-, Operetten- und Blasmusikära war mit einem Schlag aus meinem Dasein verbannt.

Das war 1979, etwa zwanzig Jahre nach Delius' erstem Ausflug in den Ungehorsam. Und es fand im ostdeutschen Chemnitz statt, das man weiß Gott nicht mit New York vergleichen konnte, doch der studentische Jazzkeller „Fuchsbau" war für mich mindestens so wichtig wie Slug's Saloon für Delius. Diese Musik, in der man die Welt und sich selbst auf neue Weise erkannte, die ihre Widersprüche aus schrägen Tönen herausschälte, richtete sich gegen konfliktdeckelnde Harmonie und gegen den Marschrhythmus, den die Generationen unserer Väter und Großväter in dumpfer Gewohnheit weitergetragen haben. Im Westen wie im Osten. Freejazz (Jazz überhaupt) war begleitende Musik der Studentenbewegung und genauso subversive Tonsetzung für denk- und freiheitswillige Bürger der DDR und ganz Osteuropas.

Ich habe Friedrich Christian Delius' Buch in einem Stück gelesen. Ich konnte es gar nicht weglegen, genauso wenig wie ich ein gutes Jazzkonzert unbeeindruckt verlassen kann. Und wenn vielleicht meine kurzen Lektüreeindrücke den Verdacht einer rundum ernst- oder nostalgiedurchwirkten Erzählung erwecken, so kann ich Sie beruhigen. Delius erzählt wunderbar selbstironisch, selbstkritisch, dicht und pointiert.

Kerstin Hensel