21.1.2022, 13 Uhr

„Claudia, vergiss bitte den 100. Geburtstag von Franz Fühmann nicht!“

Grußwort der Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Veranstaltung zu Ehren des Schriftstellers Franz Fühmann

Anlässlich des 100. Geburtstags Franz Fühmanns sowie der Erstveröffentlichung einiger seiner noch unbekannten Gedichte im aktuellen Heft von SINN UND FORM fand in der Akademie der Künste eine Veranstaltung zu Ehren des Schriftstellers statt. In ihrem Grußwort sprach Claudia Roth über Lücken im Bücherregal und erklärte, warum sie ein Erinnern in die Zukunft möchte:

 

– Es gilt das gesprochene Wort –

„Claudia, vergiss bitte den 100. Geburtstag von Franz Fühmann nicht!“

Diesen Auftrag gab mir kurz vor Weihnachten ein guter Freund aus Pankow mit auf den Weg in mein neues Amt. Und ich muss zugeben, im ersten Moment wusste ich diesen Auftrag nicht einzuordnen. Ja, ich wusste nicht, wer Franz Fühmann ist. Ich kannte seine Bücher nicht und es war wirklich so: nicht nur in meinem Bücherregal klaffte bei „F“ eine Lücke. Sondern auch in meiner Kultur. In meinem Selbstbewusstsein als Deutsche und als Kulturstaatsministerin.

Warum sage ich das? Nun natürlich in allererster Linie, weil ich Sie brauche, die Literaten und Künstler, die Frauen und Männer, die unser Land und mehr als unser Land spüren, schreiben, in Musik, in Bilder und Worte fassen. Ich brauche Ihren Rat und wie Sie daran sehen, dass ich heute hier bin: Ihr Rat wird nicht folgenlos sein. Aber es gibt noch einen zweiten Grund: Die Lücke im Bücherregal ist eine Metapher für die Lücke nicht nur in unseren Erinnerungen. Sondern in unserer Phantasie, in unserer Imagination, in unserem Verständnis von uns selbst als Deutsche.

Das betrifft Ost und West. Wie heute, wie mit Franz Fühmann. Das betrifft aber auch Nord und Süd. Die globalen Erinnerungen und Geschichten, die Teil unserer Erinnerung und Gegenwart werden sollen.
Genau das meine ich, wenn ich sage, dass ich ein Erinnern in die Zukunft möchte. Ein lebendiges Erinnern und ein gemeinsames Erinnern in der schönen Verschiedenheit unseres Landes – und seiner wunderbaren Literatur. Wir brauchen mehr literarische Neugier, mehr Wissen um die Autoren und Autorinnen, ja, gerade auch um die, die in der ehemaligen DDR gelesen wurden. Wir wissen es doch auch aus anderen Kontexten und wir sollten es uns auch für die Kultur unseres Landes zugeben: viel zu oft wurden Erinnerungen, Erzählungen, Hoffnungen und Gedichte, wurde auch die Kultur und wurden ihre Träger, die Künstlerinnen und Künstler der damals neuen Länder zur Seite geräumt, nicht beachtet. War es einfacher nach der Maueröffnung, Schriftstellerinnen und Schriftsteller weg zu sortieren, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen? Woran liegt es, dass uns Namen wie Viktor Klemperer, Stefan Heym, Jürgen Fuchs, oder Anna Seghers kaum noch präsent sind, wo sie doch wichtiger Teil deutscher Literatur sind?

In den vergangenen Wochen ist mir ein Gedanke dabei nahe gerückt, den ich Ihnen heute gerne zur Diskussion stellen möchte: Wollen wir nicht gemeinsam dafür sorgen, daran arbeiten, dass Fühmann nicht als einer der bedeutendsten Schriftsteller der DDR, nicht als ostdeutscher Autor, sondern als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts wahrgenommen wird? Für mich ist sein Schreiben und nicht zuletzt sein aufwühlender Briefwechsel mit Christa Wolf zu einem Weg in unsere viel zu verschüttete, viel zu verborgene, viel zu verdrängte Geschichte geworden. Es gibt sie, diese Momente in denen Du begreifst, was Anerkennung und Wahrnehmung bedeuten und was es heißen muss, wenn sie fehlen. Bewusst verweigert, überheblich ignoriert, uninteressiert liegengelassen. Darf eine Kulturstaatsministerin über solche Defizite sprechen? Auch über eigene Defizite? Über Wege, über Brüche und Fehlstellen?
Sie darf nicht, sie muss.

Liebe Anwesende, wer war Franz Fühmann, der Hundertjährige. 
Der Respekt vor Franz Fühmann muss zu seinen Lebzeiten riesengroß gewesen sein. So groß, dass selbst sein Lektor, Kurt Batt, der auch für SINN UND FORM arbeitete, die von der Akademie der Künste herausgegebene Zeitschrift für Literatur und Kultur, sich kaum traute, ihm zu seinem damaligen 45. Geburtstag zu gratulieren. Er schrieb an Fühmann, ich zitiere: „(…) Denn ich wüsste keinen anderen Autor, in dessen Gegenwart mein Redefluss so schnell ins Stocken gerät. Weil ich nämlich fürchte, dass Sie die Worte und Sätze anderer so streng prüfen wie die eigenen.“ Zu seinem 100. Geburtstag, über ihn, über Franz Fühmann zu sprechen, ist nicht weniger schwer als damals.  Zwar kann er nicht mehr direkt antworten und seine Strenge walten lassen, aber sein Werk und Leben wirken im Rückblick noch mächtiger. Sein außerordentliches schriftstellerisches Können bewies er in unzähligen Schriften verschiedener Genres.

Ganze Generationen, wie eben mein guter Freund, sind mit seinen Kinderbüchern, seinen Essays und seinen Erzählungen aufgewachsen, die ich eben erst für mich entdecke und die ich allen nur ans Herz legen kann, für die der Name Fühmann noch unbekannt ist – aber auch denen, die ihn kennen, empfehle ich, ihn erneut und neu zu lesen.  Sie bieten Einblicke in den östlichen Teil unseres Landes und sind aber doch Teil unserer gemeinsamen Literaturgeschichte. In einem seiner wichtigsten Werke, dem Ungarn-Tagebuch Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens hält er seine Eindrücke einer Ungarnreise fest und zieht ideologiekritische Bilanz seines bisherigen Lebens und Schreibens. 
Heute noch besonders bekannt und besonders beliebt sind seine wunderbaren Kinderbücher; wie das Sprachspielbuch Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel,  in das ich mich am Wochenende vertieft habe und nun weiß, es gibt sie sehr wohl, Worte mit 16 „e“, nämlich den SCHNEE-SEE-KLEE-REH-FEE-DREH-ZEH-WEH-TEE-KESSEL. Seine Nacherzählungen von Mythen und Sagen, wie Prometheus – die Titanenschlacht, die im Gegensatz zu anderen Werken auch weiterhin neu und prächtig aufgelegt werden, sind große Literatur und wahre Buchkunst.

Eng mit seinem Schaffen verknüpft ist Fühmanns Biographie, die geprägt ist von Brüchen und Widersprüchen. – sein Wandel vom gläubigen Christen zum SA-Mann, vom stalintreuen Kommunisten zum Kritiker des realen Sozialismus. Auch Fühmann verband mit der DDR zunächst die Hoffnung, den Nationalsozialismus und sein Erbe zu überwinden und eine neue, eine „antifaschistische“ Gesellschaft mitzugestalten. Wie letztlich viele wurde er enttäuscht. Eine entscheidende Zäsur war auch für ihn das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, das wegen seiner einschneidenden Folgen für die Kulturlandschaft der DDR auch als „Kahlschlag-Plenum“ bezeichnet wurde. In der Konsequenz wurden zahlreiche Filme, Theaterstücke, Bücher, aber auch Ensembles, Musikgruppen, systematisch überprüft, zensiert und auch verboten – landeten Schriftstellerinnen und Schriftsteller (wieder) auf dem Index oder gerieten ins Visier der Staatssicherheit.

Fühmann setzte sich für Schriftstellerkolleginnen und Schriftstellerkollegen ein, die unter Repressionen der DDR-Führung litten, insbesondere für die Lyriker Uwe Kolbe und Wolfgang Hilbig, denen er zur Veröffentlichung erster Texte und später zur Ausreise verhalf. Aber nicht nur Fühmann selbst wandelte sich, auch die Rezeption seiner Werke. Bezeichnete beispielsweise Marcel Reich-Ranicki – übrigens praktisch der Einzige im Westen, der sich der DDR-Literatur annahm – Fühmanns frühe Gedichte noch als „HJ-Gedichte mit FDJ-Vorzeichen", so schrieb er später über die Erzählung Judenauto, sie sei „eine in ihrer Art vollkommene Kurzgeschichte, die keinerlei Vergleiche in der deutschen Gegenwartsliteratur zu scheuen braucht.“ Fühmann hat – im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen – sein Häuten nicht erst am Lebensabend begonnen.

Das Häuten, der Wandel, waren sein tägliches Werk. Analytisch und selbstkritisch setzte er sich mit seiner Vergangenheit und seiner Rolle in der Gegenwart auseinander – immer auf der Suche nach Wahrhaftigkeit. Er übernahm Verantwortung für sein Leben – ernsthaft, aber oft auch mit einem Augenzwinkern und großer Herzenswärme, wie nicht zuletzt die Erzählungen des Bandes Judenauto und seine Kinderbücher zeigen. Es gibt also vieles, was es von Fühmanns Erbe zu bewahren und vor allem wiederzuentdecken gilt.

Ich danke der Akademie der Künste Berlin von ganzem Herzen für ihr Engagement zu Ehren ihres früheren Mitglieds Franz Fühmann und wünsche mir aufrichtig, dass er Teil unserer gemeinsamen Erinnerung wird, dass er so selbstverständlich zu den wichtigen Autoren und Autorinnen nach 1945 gezählt wird, wie Brecht, Lenz, Wolf oder Böll. Seine literarischen Reflexionen sind Beispiel für die Kraft, die Kunst und Kultur zu entwickeln vermögen. Und die so wichtig sind für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Diskussion mit vielen neuen Erkenntnissen zu diesem herausragenden Schriftsteller unseres Landes, dessen Werk nun endlich auch in meinem Bücherregal steht und nicht nur dort steht, sondern auch gelesen wird.

Aber mit dem Blick auf das Heute sage ich auch: es ist auch ein guter Weg, einen großen verstorbenen Schriftsteller zu ehren, wenn man den heutigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern hilft. Hier bei uns im Land, damit sie ihre Kräfte auch weiter entfalten können, durch die Arbeit der AdK – und ich sage vielen Dank, liebe Frau Meerapfel, für das viele, was sie tun und freue mich, dass wir mit Initial oder AI Anarchies Programme haben, die sicher ganz im Sinne Fühmanns sind, im Sinne dessen, der selbst ein „unermüdlicher Förderer junger Talente“ – war, wie Uwe Kolbe den Autor in seiner Gedenkrede zu Fühmanns Tod 1984 in Ostberlin gepriesen hat.

Aber auch durch unsere Arbeit gemeinsam mit Hubertus Heil an einer Verbesserung der sozialen Lage, an Hilfe in Corona-Zeiten und darüber hinaus. Und durch unsere gemeinsame Arbeit für die Vielfalt der Kultur in unserem Land, für ein lebendiges und weltoffenes Deutschland. Und ganz speziell: durch unsere Arbeit daran, dass es verfolgte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufnimmt. Auch daran wollen wir arbeiten, gemeinsam mit Ihnen!

Vielen Dank!