1.6.2022, 11 Uhr

Stimmen von Mitgliedern des Senats der Akademie der Künste zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine

Jeanine Meerapfel, Thomas Heise, Kathrin Röggla, Cécile Wajsbrot, Iris ter Schiphorst, Kerstin Hensel und Carola Bauckholt äußern sich zum Ukraine-Krieg.

 

Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste

„Es ist gerade eine Zeit, in der es keine Worte gibt, oder zu viele Worte, die alle nicht passen. Das eine Wort, das uns alle beschäftigt ist: Krieg.

Wir dachten, wir leben in einer begnadeten Zeit, ohne Krieg. Wir haben nicht nach Syrien geschaut, nicht nach Afghanistan, nicht nach Somalia... Wir lebten in einer Zeit, in der wir die Kriege weit weg von uns wähnten.

Und nun finden wir keine Worte, oder zu viele Worte, um das zu beschreiben, was in der Ukraine geschieht. Und wir winden uns in Widersprüchen: keine Waffen, mehr Waffen, schwerere Waffen.

Abwarten, Handeln, Gesicht zeigen, vorsichtig sein.

Es gibt offene Briefe dagegen, und offene Briefe dafür. Das intellektuelle Deutschland kämpft auf diese Weise. Mit Worten; gegeneinander.

Geht es darum, diesen Wahnsinn aufzuhalten, oder geht es darum, wer Recht hat?

Unsere Medien breiten mit Wonne die gegenseitigen Positionen aus... Wer hat die besseren Argumente? Wer ist im Irrtum? In diesem Wettbewerb der Meinungen geht es darum, wer brillanter formuliert, wer besser informiert ist, wer lauter das Recht auf der eigenen Seite sieht.

Kann es wirklich darum gehen?“

 

Thomas Heise, Direktor der Sektion Film- und Medienkunst, zitiert Heiner Müllers Diskussionsbeitrag anläslich der „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“ am 13./14. Dezember 1981 in der Akademie der Künste der DDR

„Auf Einladung des Schriftstellers Stephan Hermlin trafen sich am 13. Und 14. Dezember fast hundert Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aus beiden deutschen Staaten und aus europäischen Nachbarländern in Ost-Berlin, um über die Bedrohung des Friedens in Ost und West zu sprechen. ‚Wir bilden uns nicht ein‘, sagte Stephan Hermlin zu Beginn, ‚die Welt aus den Angeln heben zu können. Aber manche Leute hören auf uns, und wir wollen im Rahmen einer großen Bewegung einen Beitrag leisten.‘

Die Zusammensetzung der Runde war erstaunlich genug: die Präsidenten der Schriftstellerverbände der Bundrepublik wie der DDR, Wissenschaftler wie Klaus Fuchs und Robert Jungk, Autoren wie Ernst Jandl, Adolf Muschg, Franz Fühmann, Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Herburger, Günter Grass oder Thomas Brasch (und Alexander Abusch, d.R.).

Das Treffen fiel mit der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen zusammen. Auch diese akute Krise spiegelt sich in der Diskussion wider. Sie wurde oft kontrovers geführt. Leidenschaften brachen auf. Staatsinteressen meldeten sich hörbar. Und trotzdem gelang etwas Seltenes, nämlich ‚Herstellung von Vertrauen‘.

Die Begegnungen zur Friedensförderung sollen weitergeführt werden. Die Friedensbewegung ist offenbar durch Grenzen nicht aufzuhalten. ‚Es ist irgendwann in diesem Jahr etwas geschehen, ich weiß nur nicht genau was, aber irgendetwas hat sich verändert, jedenfalls bei uns in Europa.‘“ (Stephan Hermlin)

 

Heiner Müller:

„Ich möchte ein Unbehagen aussprechen und eine Frage stellen, auf die ich keine Antwort weiß.

Wenn wir vom Frieden in Europa reden, reden wir von einem Frieden im Krieg.

Krieg auf mindestens drei Kontinenten. Der Frieden in Europa ist nie etwas anderes gewesen, so wie der Faschismus eine weißglühende Episode in dem vielhundertjährigen kapitalistischen Weltkrieg war, ein geografischer Lapsus, Genozid in Europa statt, was die Norm war und ist, in Südamerika, Afrika, Asien.

Wir reden aneinander vorbei, wenn wir auf der Ebene der Macht miteinander reden. Wir reden aneinander vorbei, wenn wir unsere Differenzen zudecken, statt sie zu formulieren. Wenn wir über die gleichen Waffen reden, reden wir über die gleichen und über verschiedene Dinge. Rüstung in der kapitalistischen Welt erhält und schafft Arbeitsplätze. Das Gegenteil muss noch bewiesen werden. Rüstung in unserer Welt senkt nicht nur das materielle Lebensniveau. Das beweist sich in unserem Alltag. Auch die Friedensbewegung, wenn sie sich als blauäugige Einheit versteht, wiederholt das Trauerspiel der Kinderkreuzzüge.

Hinter der Frage Krieg oder Frieden steht mit der nuklearen Drohung die schrecklichere Frage, ob noch ein anderer Frieden denkbar ist als der Frieden der Ausbeutung und Korruption. Der Alptraum, dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei abgelöst wird durch die Alternative Untergang oder Barbarei. Das Ende der Menschheit als Preis für das Überleben des Planeten. Eine negative Friedensutopie. Ich hätte gern, dass auch davon gesprochen wird. Ich möchte noch nicht glauben, dass in dieser Lage Subversion mehr kann als Diskussion. Ich rede nicht von der Subversion der Kunst, die notwendig ist, um die Wirklichkeit unmöglich zu machen.“

Textauszug aus: Heiner Müller, Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk, Band 8: Schriften © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin.

 

Kathrin Röggla, Vizepräsidentin der Akademie der Künste

In Zeiten, in denen man Blindheit beinahe versteht, weil Blindwütiges herrscht, wird die demokratische Verständigung über alle Maßnahmen überaus wichtig. Der Kompass, auf dem man dabei vertrauen kann, ist die Solidarität mit den Überlebenden.



Cécile Wajsbrot, Stellvertretende Direktorin der Sektion Literatur

Lesen
Hören
Sehen

Kyiv
Odessa
Lviv

Sitzen
Denken
Fühlen

Angriff
Krieg
Bomben

Wörter
Bilder
Klänge

Evakuieren
Fliehen
Tränen

Gas
Oil
Börse

Schlangen
Apotheke
Brot

Verstehen
Schreiben
Helfen


Iris ter Schiphorst, Stellvertretende Direktorin der Sektion Musik

Wir stehen in Europa vor einer ganz neuen politischen Realität, die wir anzuerkennen gezwungen sind und in der sich nichts weniger zeigt, als das Gesicht einer grausamen Ordnungsmacht, verkörpert in der Person Putins, eines brutalen Imperialisten, der offenbar von langer Hand seine Großmachtpläne vorbereitet hat und jetzt den historischen Moment gekommen sieht, sie umzusetzen – und dabei vor nichts zurückschreckt. Dabei ist sein Angriffsziel, das wird immer deutlicher, nicht nur die Ukraine, sondern ein Weltbild, das er offenbar zutiefst verachtet: eines, das für Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie steht. Wir, die wir in dieser von ihm verachteten Demokratie leben, müssen hilflos zur Kenntnis nehmen, wie dieser besessene Ideologe für seinen Krieg Menschen in der Ukraine, in Belarus und sogar in Russland ermordet, wegsperrt und zum Verstummen bringt. Wir müssen aushalten, dass dieser Machthaber sich an keine Regeln hält, selbst an die des Krieges nicht. Wir erleben fassungslos, dass dieser Imperialismus von niemandem gestoppt, dass er von niemanden, von keiner (Groß-)Macht aufgehalten werden kann. Und gleichzeitig nehmen wir mit tiefer Bewunderung wahr, wie sich die Menschen in der Ukraine, aber auch zum Teil in Russland selbst oder in Belarus dieser Grausamkeit entgegenstemmen, wie sie ihre – und damit letztlich auch unsere! – Freiheit, dieses von Putin so verhasste Weltbild! – versuchen zu verteidigen. Aber in unsere Bewunderung mischt sich entsetzliche Verzweiflung, das Gefühl der absoluten Ohnmacht und Hilflosigkeit, nichts tun (außer Geld zu spenden), nur ‚Zuschauer’ dieser willkürlichen Zerstörung eines Landes und seiner Menschen sein zu können. Und erleben zu müssen, dass es auch der Institution NATO so ergeht.
In meiner Naivität träume ich von einem globalen Streik, ausgehend von allen Müttern dieser Erde (wie plump, ich weiß!), einem weltweiten Streik, dem sich letztlich alle anschließen! Um gegen diesen Irrsinn, der ja kein Irrsinn ist, sondern eiskaltes Kalkül! – ein Zeichen zu setzen. Ja, ja – ich weiß, in jeder Hinsicht naiv, und alle politischen Kräfteverhältnisse komplett ignorierend (Stichwort: China).
Was meiner Meinung nach in der Berichterstattung der letzten Tage etwas untergegangen ist: Quasi zeitgleich mit der überraschenden Ankündigung von Bundeskanzler Scholz, als Folge des Angriffskrieges auf die Ukraine 100 Milliarden Euro als Sondervermögen für Investitionen und Rüstungsvorhaben bereitzustellen, mit anderen Worten: Deutschland aufzurüsten, wurde ein Teilbericht des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates IPCC veröffentlicht, in dem, wie üblich (wie man inzwischen leider versucht ist, zu sagen) vor gefährlichen und weitreichenden Zerstörungen der Natur und deren Folgen gewarnt wird, Folgen, die –, und hier unterscheidet sich dieser Bericht von allen früheren, in der nahen Zukunft vor allem Europa überdurchschnittlich hart treffen werden.
Es ist müßig, über diese zeitliche Koinzidenz zu spekulieren – und auch müßig, dem Gedanken Raum zu geben, ob die gigantische Summe von 100 Milliarden Euro je in den Klimaschutz gesteckt worden ist oder wäre..., feststeht, dass Europa ab jetzt in jeder Hinsicht vor extremen Herausforderungen steht, die alle seine Bürger betreffen werden. Ich kann nur hoffen, dass wir diesen Herausforderungen Stand halten und so unverbrüchlich am¬ Wert der Demokratie festhalten, wie es uns zurzeit die Ukrainer und Ukrainerinnen vorleben.



Kerstin Hensel, Direktorin der Sektion Literatur

METAMORPH

Die zerflehteste aller Hoffnungen
Durch die Augen in den Sinn
Was kann man sein? Mensch oder
Marschnatur Die Völker
Allgeweltig
Edukte
Unterm Druck des Daseins
Anverwandt der Verwandlung
Ins (Ge)wissenlose Es beginnt die
Aufschmelzung der Ängste: Fremd-Körper
Sakrale Krusten aus ewiger
Verhärtung Jedem das Seine – Jedem
Was er verdient! Steinreich oder
Steinigung: moderner Völkerball
Aus der Steinzeit
Chreg (Krieg) Kaltes Material
Das die Kehlen beheizt Zehntausend
Wetter sind ein Schlag

Ich kann nicht mehr
Werden
Was ich bin

 

Carola Bauckholt, Direktorin der Sektion Musik

Unvorstellbarer Rückschritt. Das brennende globale Problem, die menschengemachte Veränderung der Erde, die das Überleben bedroht, kann nur gemeinsam bearbeitet werden. Mit allen Energien und Finanzen. Davon wird jetzt wieder abgelenkt durch die zerstörerische wahnsinnige Machtgier eines Mannes.