28.1.2010, 16 Uhr

Trauerrede von Matthias Flügge für Klaus Werner

gehalten am 27. Januar 2010

Der Galerist und Kunsthistoriker Klaus Werner starb am 8. Januar 2010 in Leipzig. Sein Nachlass wurde bereits zu Lebzeiten dem Archiv der Akademie der Künste übergeben. Matthias Flügge hielt am 27. Januar auf dem Leipziger Südfriedhof die Trauerrede, die im Folgenden nachzulesen ist.


Liebe Jutta Werner, verehrte Angehörige, Frau Brückner, Frau Scholz, liebe Freunde und Kollegen von Klaus Werner,

Klaus ist tot. Es war ein langes Sterben, und wir wissen nicht, wie er es empfunden hat. Die ihn in der letzten Zeit besucht haben, sahen ein verlöschendes Leben und zugleich sahen sie seine Augen, immer noch wach und gut, und sie sahen die leichte Schrägstellung der Mundwinkel, die seinem Gesicht etwas Ironisches, Überlegenes, in allem Vergessen Wissendes gab.
Schon als ich ihn das erste Mal traf, am Anfang seiner Zeit in der Galerie Arkade, war ich davon verunsichert. Diese ganz eigene Ambivalenz von Bescheidenheit und Selbstbewusstsein, von Understatement und schon in jungen Jahren durch Erfahrung beglaubigtem Wissen, von freundschaftlicher Verbundenheit zu den Künstlern und einer notwendigen, die eigene Freiheit sichernden Distanz bezeugte einen Habitus, wie er mir so noch nie begegnet war. Und auch später nie wieder begegnet ist. Er prägt die Erinnerung an diesen ungewöhnlichen Menschen.
Geboren wurde Klaus Werner im erzgebirgischen Holzhau, jenem Ort, an dem er fünfzig Jahre später, nach verschiedenen Lebensstationen ein Haus zu bauen begann, in dem er schreiben wollte, dann, wenn die äußeren Verpflichtungen von ihm abgefallen sein würden. Er selbst beschrieb die ersten Jahre 1987 in einem „anderen Lebenslauf“ so:

Geboren am 22.9.40. Urlaubskind im Unfrieden. Erste Geräuscherinnerungen: Wasserrad und Pochwerk einer Ölmühle, Flugmotoren. Trümmer in Chemnitz, Trümmer in Hamburg. Spielparadiese. Retour nach Sachsen. Mit Strumpfhalter, Militärmantel, Schiefertafel zur Schule getrottet. Mittlerer Schüler mit schlechtem Betragen. Berufsplanung großmütterlicherseits: Förster oder Landvermesser, stiefväterlicherseits: Eisenbahnschaffner, meinerseits: transkontinentaler Arbeitsbummler. Abitur an einer Musterschule, die den Namen meines bärtigen Compilators der Dialektik trug. Liebe zu Landkanten, Büchern und zur Universalgeschichte. Hass auf Mathematik, Russisch und Frau Emmrich. Studium der Pädagogik sechs Wochen. Studium der Kunstgeschichte zweihundertvierundfünfzig Wochen. Wechsel geglückt, da den Herrn Assistent F. mit Herrn Oberassistent angesprochen und dem Herrn Professor S. die zwei denkwürdigsten Dinge meines Lebens offenbart: die Farbe des Marmors und den Text der 5. Feuerbach-These vom kurz zuvor durchschrittenen Vestibül der alma mater berolinensis.
Erste Künstler, erste Bilder, erste Ausstellungen. Die Nachwirkungen des Thesengedächtnisses reichten für Job in der Staatskunstverwaltung. Dort juvenile Ethosrevolte und individuelle Neubestimmung des Kunstbegriffes.
Besinnung angeraten. Armee. Grenze West: Innendienst. Armee. Grenze Ost: Mondnächte an eiskalter Oder. Kosmonaut Beljajew die Wange geküsst.
Das war es: vorwärts und rückwärts, die „biografische Essenz“! Der Abstieg war eingeleitet.

Worin dieser „Abstieg“ bestand, wissen Sie. „Juvenile Ethosrevolte und individuelle Neubestimmung des Kunstbegriffs“ währten fort, waren irgendwann nicht mehr voneinander zu trennen. Das Jugendliche, neugierig Gebliebene hat immer erstaunt. Auch, dass er unvermittelt ausbrechen konnte aus dem Vorschein der Bürgerlichkeit, der ihn schützte.
Aber Klaus war auch das, was ich einen politischen Menschen nennen möchte, kein Politiker der Kompromisse, keiner, der das Machbare zum Maßstab nimmt, und es sind auch nicht seine Ausflüge in die Realpolitik, die das Adjektiv rechtfertigen. Nein, Klaus hatte einen Wirklichkeitssinn, der zugleich ein Musilscher Möglichkeitssinn war. „Der Mann mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn“, schreibt Musil im Mann ohne Eigenschaften, „gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt.“ Und weiter: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Das ist ein poetischer Zugriff auf die Welt, in vielen seiner Texte können wir ihn finden. Nur, dass er alles gleich wichtig nahm, das, was ist, und das, was (– vielleicht – noch) nicht ist.
Der Abstieg war ein Anstieg, war ein Absturz, war ein Aufstieg. Ein Leben in der Amplitude der Dialektik. Politisch war Klaus, weil er Bewegung, Veränderung als Form und Kern und Ziel der Kunst wie des Lebens erkannt hatte. In dieser Anschauung der Welt und der Dinge gründeten seine Offenheit wie seine leise Beharrlichkeit, die ihn Überwachungen, Rauswürfe, perfide Disziplinierungsversuche und manch anderen DDR-Tort ertragen ließen. Er hatte das Glück und vor allem die Gabe, es einzurichten, dass an seiner Schnur, die er durchs Wasser zog, fast immer ein Köder saß. Und ich glaube, er hat das gewusst.

Das kam auch daher, dass die Instanz seiner Profession immer die Künstler waren und nicht die Theorie, schon gar nicht ein Geltungsdrang. Und das war damals so ungewöhnlich wie heute. Die Perspektiven mochten wechseln, die Loyalitäten nicht. Manche haben das missverstanden. Worum es ging, war so etwas wie Authentizität, ein Begriff, den er wie alle anderen Worte, die er benutzte auch, nicht ideologisch verstand. Selbst die Verweigerung des Authentischen kann in diesem Blickwinkel authentisch sein. Vielleicht kann man es einfach so sagen: Die Freiheit der Kunst bestand für ihn in der Notwendigkeit, dass es sie gibt. Das war ein strenger und zugleich ein pluraler Kunstbegriff, der sich nicht um Generationen, Mittel, Stile oder Gruppenzugehörigkeiten schert: Alles ist möglich, es muss nur notwendig sein. Unnötig zu sagen, dass diese Notwendigkeit nicht festzuschreiben ist. Jeder Text, jede Ausstellung war und ist eine Annäherung, später erkannte Irrtümer inbegriffen.

Was man damals von seiner Arbeit vor allem wahrnahm, waren die Ausstellungen und die kleinen, genauen Kataloge der Arkade-Galerie. Aber es war mehr. Gleichsam aus dem Hintergrund und dabei vollkommen unverzichtbar hat er ein Klima der Ermutigung erzeugt, in dem die Künstler sich ungehindert bewegten, und er hat das Mögliche mit List und Standhaftigkeit über die verinnerlichten Grenzen hinaus erweitert.
Als Vermittler hatte er Vorbilder, aber er vollbrachte am Ende etwas Eignes. Vergleichbares gab es nicht. Wir Jüngeren haben ihn damals bewundert und wir waren ihm schlicht dankbar, dass er uns Dinge zeigte, von denen wir keine Ahnung hatten, und uns auf Künstler, die er nicht ausstellen durfte, zumindest hinwies.
Das Problem der Generation, von dem Pinder spricht, stand damals ungleich schärfer als heute. Ein paar Jahre machten große Unterschiede. Klaus hatte das aus der eigenen Biografie gelernt und er hat es mit leichter Hand überspielt, ein Blick auf die Künstlerliste und die der Textautoren in den Katalogen lässt das verstehen. Und liest man seine eigenen Redetexte, die in dem jüngst erschienenen Buch abgedruckt sind, wird deutlich, wie er den Mehltau wegzublasen bestrebt war, der sich über die Sprache der Kunst wie die Sprache über Kunst gelegt hatte.

Als die DDR Anfang der 1980er Jahre – der Exodus der bildenden Künstler war längst im Gange – ihre Taktik änderte und den Vermittlern die Arbeitsgrundlage entzog, war er einer der ersten, die das traf.
Im Herbst 1981 stellte Klaus Staeck in der Galerie Unter den Linden aus. Alle gingen hin. Man sah Klaus Werner draußen vor der Tür in erregtem Gespräch mit dem Generaldirektor des Staatlichen Kunsthandels. Schnell sprach sich herum, Klaus war beurlaubt, hatte Hausverbot in seiner Galerie und war von Entlassung bedroht. Es wäre die Gelegenheit zum öffentlichen Protest gewesen. Doch er hat dringend gebeten, alles, was seinen Fall beträfe, aus dem Spiel zu lassen, er wolle die Ausstellung seines Freundes Staeck nicht stören, die sei das Wichtigere.

So war 1981, nach acht Jahren, die Arkade-Zeit vorbei. Heute wissen wir, wie Klaus in diesen Jahren beobachtet und auch bespitzelt wurde. Er selbst mag es geahnt haben, und er hat auch hin und wieder einen Haken geschlagen, um der Aufsicht zu entkommen, wissend, dass das nichts nützen würde. Versteckt hat er sich nicht. Im aufrechten Gang bleibt man weithin sichtbar.

Klaus hatte andere Mittel als die des lauten Protestes. Er war ein Ermöglicher, ein Mann des Trotzdem – wie Robert Rehfeld schrieb: Kunst ist, wenn sie trotzdem entsteht. Klaus war kein Kämpfer, aber er konnte sehr bestimmt sein. Der Noblesse seines Wesens entsprach die Subtilität, mit der er vorging, wenn er etwas erreichen wollte. Weichheit war das nicht, vielmehr hatte er etwas nachdrücklich Zivilistisches. Autoritäten waren ihm zeitlich eingeschränkte Phänomene, nur wenn man sie durchschaute, konnte man sie umgehen. So waren ihm die Institutionen nur Mittel zum Zweck, entscheidend blieben die Personen. Er hatte keine Berührungsängste, suchte Kontakte in jede Richtung und wahrte zugleich Abstand.
Als er noch in Berlin lebte, fanden vor seinem Fenster am oberen Ende der Karl-Marx-Allee regelmäßig die Aufmärsche und Paraden statt, Abschreckung sur le motif sozusagen, die den Sinn der eigenen Arbeit in Frage stellen konnte. Die Setzungen, die er entgegenhielt, waren überraschend: Ausstellungen, Editionen, Grafikmappen, Texte, Vorträge, nicht im Mainstream und gar nicht elitär. Die Organisation der legendären Pleinairs.
Als er entlassen war, sagte er, er wolle erstmal ein Buch schreiben. Das tat er dann auch und schrieb die Edmund-Kesting-Monografie, seine einzige größere kunsthistorische Arbeit, die nicht nur im Osten Maßstäbe setzte. Die wissenschaftliche und publizistische Arbeit zum Werk von Carlfriedrich Claus muss erwähnt sein. Es war Klaus Werner, der das Werk des Annaberger Philosophen durchschaubarer machte und seine europäische Geltung nachwies. Daneben bereitete er Grundlegendes zum Dadaismus vor, die Studien blieben Rudiment.

A propos Dada: 1982 am 10. November standen wir in einer Moskauer Straßenbahn. Es war kühl, die Sonne schien und soeben war die Nachricht von Breshnjews Tod herausgekommen. Wie in einem zur Unzeit angehaltenen Film ruhte der Verkehr für etliche Minuten, starr auch die Mitfahrenden, keiner redete im Wagon, kaum einer wagte, auch nur die Füße zu bewegen. Als die Bahn weiterfuhr, zog Klaus mich an der nächsten Haltestelle heraus und sprach Menschen auf der Straße an: Nun, wo der Generalsekretär tot sei, fragte er sie, was würde sich ändern im Land, was in der Welt? Wir sahen nur in verständnislose Gesichter, was sollte sich schon ändern … Indes liefen ausdruckslose Frauen, Fahnenbündel in den Armen, durch die Straßen und beflaggten die Laternenmasten mit Hammer und Sichel.

Es war diese Hoffnung, die ihn trieb, es sollte sich etwas ändern, danach befragte er auch die Kunst. Und das mit einem universalen und europäischen Horizont. Beuys war ihm ein Fixstern und zugleich eine Metapher, der Wandelbare, Wandlungsfähige, in der Essenz aber Konsequente, der ein Gesellschaftsmodell der Teilhabe vertrat, dem Klaus weit mehr zutraute als nur das sogenannte Künstlerische.
Die Ausstellungen, die er später – bis zu seinem Abschied von unserer Wirklichkeit – gemacht hat, hatten alle mit dem Offenhalten der Bennschen Frage zu tun: Kann die Kunst das Leben ändern? Ein paar Beispiele nur: 1991 Zone D in Leipzig, wo Beuys’ Wirtschaftswerte erstmals im Osten gezeigt, etwas merkwürdig Prophetisches annahmen, 1996 Jenny Holzers Licht-Text am Völkerschlachtdenkmal zur Zeit des Jugoslawienkrieges, ein Jahr zuvor der „Kopfbahnhof“ in Leipzig. Und daneben Personalausstellungen von Künstlern, die er schätzte: darunter Blinky Palermo, Ilya Kabakow, Marcel Odenbach, Neo Rauch, Horst Bartnig, Michael Morgner.

Doch zuvor kam 1989. Da hatte sich etwas geändert. Und Klaus Werners Traum von einem lebendigen Haus für die Kunst, das sich der Gegenwart verschreiben sollte, schien in greifbare Nähe zu rücken. Zuvor schon hatte er Unterstützer beiderseits der Mauer gefunden. Als Herbert Schirmer ihn ins Kulturministerium der Maizière-Regierung berief, folgte er – nicht ohne einen Zweifel. Es schien wie ein Satyrspiel auf die Tragödien seines vormaligen ministeriellen Scheiterns. Klaus nahm auch diese Aufgabe ernst. Es ging um die geordnete Auflösung des bankrotten geistigen Haushalts der DDR und darum, zu retten, was das Retten wert war. Damit waren wir irgendwie alle beschäftigt, doch er wusste genau, wann es genug war. Nach der Vereinigung trat er in die Reihen der Freiberufler zurück und widmete sich seinem Projekt, den Künstlern und der nun offenen Kunstwelt. Es sollte noch sieben Jahre dauern bis zur Eröffnung der Galerie für zeitgenössische Kunst. Dort hielt es ihn so lange, bis er wusste, das Haus war begründet, die ihm wichtigen Ausstellungen gemacht. Er übergab es in jüngere Hände, wollte wieder schreiben.
So war der Plan, dann kam der Ruf an die Hochschule. Dass Klaus ihm folgte, lag wohl vor allem in der Logik seines Berufsverständnisses. Die Fragen nach den individuellen Dispositionen des Künstlerischen und ihren Orten im Sozialen haben ihn immer umgetrieben, wo hätte er ihnen besser nachgehen können als dort, wo sie entstehen, sich entfalten oder frühzeitig scheitern? Und es sollten ja nur fünf Jahre sein, eine letzte Runde durch die Institutionen sozusagen, zum Schreiben, so meinte er, wäre dann immer noch Zeit.

Das Foto, das Ludwig Rauch 1991 für die zweite Nummer der neuen bildenden kunst am Eingang von Zone D machte, zeigt Klaus Werner am Beginn dieser neuen Lebensphase. Wir sehen einen geistigen Menschen, der der Kamera keine Attitüde des Kurators, Kunstmanagers, Museumsgründers, Visionärs vorzeigen muss. Auch freundlich muss er nicht sein. Nur klug, ja, auch weise auf eine gar nicht abgeklärte und zudem ein wenig fremdelnde Art.

Das Charisma, das von ihm ausging und jede Selbstinszenierung überflüssig machte, manche nennen es „jugendlichen Charme“ und übersehen die archetypische Melancholie der sinnlichen Intellektualität darin: in diesem Bild ist all das ebenso lebendig wie die Rätsel, die er einem bisweilen aufgab.

„Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden“, heißt es bei Matthäus (21,42). Klaus, der auch ein leidenschaftlich anpackender Bauherr war, wird davon gewusst haben. Genugtuung hat es ihm sicher nicht bereitet, dazu war er zu stolz.

Wohl jeder von uns hat ihm irgendwie zu danken, und sei es dafür, dass wir ihm begegnen durften. Und wir alle haben Jutta Werner zu danken, dafür, dass sie bis zuletzt zu ihm gestanden hat in den Jahren, in denen er selbst zum Rätsel geworden war, als Bewohner einer anderen Welt, zu der die Kapillaren des Verstehens mehr und mehr zerrissen.
Liebe Jutta, wir trauern mit Dir, wir danken für Deine Kraft der Menschlichkeit und Liebe.

Im Buch der Unruhe schreibt Fernando Pessoa: „Unsere größte Angst als einen Zwischenfall ohne Bedeutung ansehen, nicht nur im Leben des Weltalls, sondern in dem unserer eigenen Seele, das ist der Anfang der Weisheit. Sie mitten in der Angst so ansehen ist die vollkommene Weisheit. In dem Augenblick, in dem wir leiden, scheint der menschliche Schmerz unendlich zu sein. Doch weder ist der menschliche Schmerz unendlich, noch ist unser Schmerz mehr wert als eben ein Schmerz, den wir ertragen müssen."

Ich denke, das hätte Klaus gefallen.
Nach dem Schmerz bleibt die Erinnerung.

Von Matthias Flügge, Mitglied der Akademie der Künste